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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 6. Berlin-Charlottenburg, 23. Februar 1905.

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Richard Calwer: Wirtschaftspolitische Rundschau.
zwei Machtfaktoren auf sozialem Gebiet mit einem Waffenstillstand geendet hat,
bei dem die Macht der Arbeiter nicht nur nichts verloren, sondern gegenüber
der Zeit vor dem Streik ganz beträchtlich gewonnen hat. Wäre weiter gestreikt
worden, so hätte der sichere Mangel an Mitteln die Einheit der Arbeiter ge-
sprengt, die Aktion hätte für die Arbeiter mit einer vollständigen Niederlage
endigen müssen. Selbst wenn die preußische Regierung ihr Versprechen nicht
halten würde oder nicht ausführen könnte, so ist für die Bergleute, die in ge-
schlossener Haltung vom Kampfplatz abgetreten sind, nichts verloren. Ganz
im Gegenteil: das Beispiel des unter voller Wahrung der Disziplin und Ruhe
geführten Generalausstandes verleiht ihnen die Möglichkeit und den Mut,
von ihrer Macht Gebrauch zu machen, ohne selbst dabei den Kürzeren zu ziehen.
Dieser Erfolg ist aber weit größer, als ihn ein bis zum äußersten getriebener
Verzweiflungsstreik je hätte bringen können.

*
Die Meistbegünstigung der Vereinigten Staaten.

Jn der Handelsvertrags=Kommission des Reichstages wurde während
der letzten Woche auch unser Meistbegünstigungsverhältnis zu den Vereinigten
Staaten erörtert. Wieder waren es die handelsvertragsfreundlichen Par-
teien, die für das Fortbestehen der Meistbegünstigungsverträge eintraten. Nun
läßt sich freilich diese Haltung augenblicklich mit viel mehr Recht vertreten,
als zu jener Zeit, da die neuen Handelsverträge noch nicht vereinbart waren.
Vielleicht wäre jetzt sogar eine andere Stellungnahme falsch. Denn da wir
unseren Absatz den Tarifvertragsstaaten gegenüber erschweren lassen, so ist
das Risiko, durch Kündigung der Meistbegünstigungsverträge womöglich wei-
tere und stärkere Schädigungen unseres Exports herbeizuführen, gegenwärtig
zu groß. Aber prinzipiell ist die Stellungnahme der handelsvertragsfreund-
lichen Parteien nicht richtig. Meistbegünstigungsverträge mit Staaten, die
nicht Freihandel treiben, verhindern den Abschluß günstiger Tarifverträge.
Daher spielt auch das Meistbegünstigungsprinzip im Hinblick auf die han-
delspolitische Konstellation Mitteleuropas die Rolle eines Hemmschuhs. Man
vergegenwärtige sich nur einmal das Verhalten zweier Staaten zu einander,
die im Verhältnis der Meistbegünstigung stehen, von denen aber der eine
Partner Tarifverträge abschließt, der andere nicht.

Der erste Partner ist für die Dauer seiner Tarifverträge verpflichtet,
auf seine Zollautonomie zunächst den Tarifsvertragsstaaten gegenüber zu ver-
zichten. Dieser Verzicht fällt dem zweiten Partner auf Grund der Meistbegün-
stigung eo ipso zu. Letzterer erhält dadurch feste Absatzbeziehungen im Han-
del mit dem ersten Partner, er ist vor Verkehrserschwerungen sichergestellt.
Dagegen bleibt er selbst im vollen Besitz seiner Zollautonomie; er kann, so
oft es ihm gefällt, seine Zölle heraufsetzen, er kann den Handel des anderen
Landes dadurch in ständiger Aufregung und Beunruhigung halten. Der Tarif-
vertragsstaat, der sich zu erheblichen Zugeständnissen herbeigelassen hat, ist dem
Tarifvereinbarungen abholden Staate gegenüber auf Grund des Meistbegünsti-
gungsrechtes der handelspolitisch leidende Teil, der sich alles bieten lassen muß.
Setzt der erste handelspolitisch fortschrittliche Partner seine Zölle herab, so
genießt der zweite Partner ohne Gegenleistung die daraus resultierenden Ver-
kehrserleichterungen für seinen Absatz mit; dagegen ist er aber imstande, seine

Richard Calwer: Wirtschaftspolitische Rundschau.
zwei Machtfaktoren auf sozialem Gebiet mit einem Waffenstillstand geendet hat,
bei dem die Macht der Arbeiter nicht nur nichts verloren, sondern gegenüber
der Zeit vor dem Streik ganz beträchtlich gewonnen hat. Wäre weiter gestreikt
worden, so hätte der sichere Mangel an Mitteln die Einheit der Arbeiter ge-
sprengt, die Aktion hätte für die Arbeiter mit einer vollständigen Niederlage
endigen müssen. Selbst wenn die preußische Regierung ihr Versprechen nicht
halten würde oder nicht ausführen könnte, so ist für die Bergleute, die in ge-
schlossener Haltung vom Kampfplatz abgetreten sind, nichts verloren. Ganz
im Gegenteil: das Beispiel des unter voller Wahrung der Disziplin und Ruhe
geführten Generalausstandes verleiht ihnen die Möglichkeit und den Mut,
von ihrer Macht Gebrauch zu machen, ohne selbst dabei den Kürzeren zu ziehen.
Dieser Erfolg ist aber weit größer, als ihn ein bis zum äußersten getriebener
Verzweiflungsstreik je hätte bringen können.

*
Die Meistbegünstigung der Vereinigten Staaten.

Jn der Handelsvertrags=Kommission des Reichstages wurde während
der letzten Woche auch unser Meistbegünstigungsverhältnis zu den Vereinigten
Staaten erörtert. Wieder waren es die handelsvertragsfreundlichen Par-
teien, die für das Fortbestehen der Meistbegünstigungsverträge eintraten. Nun
läßt sich freilich diese Haltung augenblicklich mit viel mehr Recht vertreten,
als zu jener Zeit, da die neuen Handelsverträge noch nicht vereinbart waren.
Vielleicht wäre jetzt sogar eine andere Stellungnahme falsch. Denn da wir
unseren Absatz den Tarifvertragsstaaten gegenüber erschweren lassen, so ist
das Risiko, durch Kündigung der Meistbegünstigungsverträge womöglich wei-
tere und stärkere Schädigungen unseres Exports herbeizuführen, gegenwärtig
zu groß. Aber prinzipiell ist die Stellungnahme der handelsvertragsfreund-
lichen Parteien nicht richtig. Meistbegünstigungsverträge mit Staaten, die
nicht Freihandel treiben, verhindern den Abschluß günstiger Tarifverträge.
Daher spielt auch das Meistbegünstigungsprinzip im Hinblick auf die han-
delspolitische Konstellation Mitteleuropas die Rolle eines Hemmschuhs. Man
vergegenwärtige sich nur einmal das Verhalten zweier Staaten zu einander,
die im Verhältnis der Meistbegünstigung stehen, von denen aber der eine
Partner Tarifverträge abschließt, der andere nicht.

Der erste Partner ist für die Dauer seiner Tarifverträge verpflichtet,
auf seine Zollautonomie zunächst den Tarifsvertragsstaaten gegenüber zu ver-
zichten. Dieser Verzicht fällt dem zweiten Partner auf Grund der Meistbegün-
stigung eo ipso zu. Letzterer erhält dadurch feste Absatzbeziehungen im Han-
del mit dem ersten Partner, er ist vor Verkehrserschwerungen sichergestellt.
Dagegen bleibt er selbst im vollen Besitz seiner Zollautonomie; er kann, so
oft es ihm gefällt, seine Zölle heraufsetzen, er kann den Handel des anderen
Landes dadurch in ständiger Aufregung und Beunruhigung halten. Der Tarif-
vertragsstaat, der sich zu erheblichen Zugeständnissen herbeigelassen hat, ist dem
Tarifvereinbarungen abholden Staate gegenüber auf Grund des Meistbegünsti-
gungsrechtes der handelspolitisch leidende Teil, der sich alles bieten lassen muß.
Setzt der erste handelspolitisch fortschrittliche Partner seine Zölle herab, so
genießt der zweite Partner ohne Gegenleistung die daraus resultierenden Ver-
kehrserleichterungen für seinen Absatz mit; dagegen ist er aber imstande, seine

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[252/0012] Richard Calwer: Wirtschaftspolitische Rundschau. zwei Machtfaktoren auf sozialem Gebiet mit einem Waffenstillstand geendet hat, bei dem die Macht der Arbeiter nicht nur nichts verloren, sondern gegenüber der Zeit vor dem Streik ganz beträchtlich gewonnen hat. Wäre weiter gestreikt worden, so hätte der sichere Mangel an Mitteln die Einheit der Arbeiter ge- sprengt, die Aktion hätte für die Arbeiter mit einer vollständigen Niederlage endigen müssen. Selbst wenn die preußische Regierung ihr Versprechen nicht halten würde oder nicht ausführen könnte, so ist für die Bergleute, die in ge- schlossener Haltung vom Kampfplatz abgetreten sind, nichts verloren. Ganz im Gegenteil: das Beispiel des unter voller Wahrung der Disziplin und Ruhe geführten Generalausstandes verleiht ihnen die Möglichkeit und den Mut, von ihrer Macht Gebrauch zu machen, ohne selbst dabei den Kürzeren zu ziehen. Dieser Erfolg ist aber weit größer, als ihn ein bis zum äußersten getriebener Verzweiflungsstreik je hätte bringen können. * Die Meistbegünstigung der Vereinigten Staaten. Jn der Handelsvertrags=Kommission des Reichstages wurde während der letzten Woche auch unser Meistbegünstigungsverhältnis zu den Vereinigten Staaten erörtert. Wieder waren es die handelsvertragsfreundlichen Par- teien, die für das Fortbestehen der Meistbegünstigungsverträge eintraten. Nun läßt sich freilich diese Haltung augenblicklich mit viel mehr Recht vertreten, als zu jener Zeit, da die neuen Handelsverträge noch nicht vereinbart waren. Vielleicht wäre jetzt sogar eine andere Stellungnahme falsch. Denn da wir unseren Absatz den Tarifvertragsstaaten gegenüber erschweren lassen, so ist das Risiko, durch Kündigung der Meistbegünstigungsverträge womöglich wei- tere und stärkere Schädigungen unseres Exports herbeizuführen, gegenwärtig zu groß. Aber prinzipiell ist die Stellungnahme der handelsvertragsfreund- lichen Parteien nicht richtig. Meistbegünstigungsverträge mit Staaten, die nicht Freihandel treiben, verhindern den Abschluß günstiger Tarifverträge. Daher spielt auch das Meistbegünstigungsprinzip im Hinblick auf die han- delspolitische Konstellation Mitteleuropas die Rolle eines Hemmschuhs. Man vergegenwärtige sich nur einmal das Verhalten zweier Staaten zu einander, die im Verhältnis der Meistbegünstigung stehen, von denen aber der eine Partner Tarifverträge abschließt, der andere nicht. Der erste Partner ist für die Dauer seiner Tarifverträge verpflichtet, auf seine Zollautonomie zunächst den Tarifsvertragsstaaten gegenüber zu ver- zichten. Dieser Verzicht fällt dem zweiten Partner auf Grund der Meistbegün- stigung eo ipso zu. Letzterer erhält dadurch feste Absatzbeziehungen im Han- del mit dem ersten Partner, er ist vor Verkehrserschwerungen sichergestellt. Dagegen bleibt er selbst im vollen Besitz seiner Zollautonomie; er kann, so oft es ihm gefällt, seine Zölle heraufsetzen, er kann den Handel des anderen Landes dadurch in ständiger Aufregung und Beunruhigung halten. Der Tarif- vertragsstaat, der sich zu erheblichen Zugeständnissen herbeigelassen hat, ist dem Tarifvereinbarungen abholden Staate gegenüber auf Grund des Meistbegünsti- gungsrechtes der handelspolitisch leidende Teil, der sich alles bieten lassen muß. Setzt der erste handelspolitisch fortschrittliche Partner seine Zölle herab, so genießt der zweite Partner ohne Gegenleistung die daraus resultierenden Ver- kehrserleichterungen für seinen Absatz mit; dagegen ist er aber imstande, seine

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 6. Berlin-Charlottenburg, 23. Februar 1905, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0106_1905/12>, abgerufen am 21.11.2024.