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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 6. Berlin-Charlottenburg, 23. Februar 1905.

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Max Schippel: Vereitelter Landarbeitertrutz in Preussen.
und Rechtslosigkeit noch lange keine Rechtfertigung der Dienstflucht. Das heißt,
keine Rechtfertigung im Sinne der Behörden und Richter, die an den Buchstaben
überlebter, aber noch immer nicht toter Gesetze gebunden sind. So haben
nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch Kammergericht und Oberlandesgericht in
Preußen zwar anerkannt, daß das Züchtigungsrecht der Herrschaft gegenüber
dem Gesinde aufgehört habe, aber -- ein hinreichender Grund zur Aufgabe
des Arbeitsverhältnisses seien leichte Peitschenhiebe noch lange nicht! Ein
Arbeiter im Königsbergischen erhält am Lohnzahlungstage statt der sechs Scheffel
Hafer, die er nach seinem Kontrakt zu fordern hatte, nur drei Scheffel. Er
reklamiert umsonst. Er legt schließlich, wie er im Voraus erklärt hatte, die
Arbeit nieder:

Bäumt sich nun nicht das Rechtsgefühl auf, daß nicht der Herr,
der den Kontrakt gebrochen hatte, der dem Arbeiter den Lohn vor-
enthielt, bestraft wurde, sondern daß der benachbarte Amtsvorsteher
auf Veranlassung des Dienstherrn eine Strafverfügung gegen den
Arbeiter erließ! ( Hört! hört! ) Der Arbeiter trug auf gerichtliche Ent-
scheidung an, aber das Gericht hielt den Strafbefehl aufrecht. Der
Arbeiter legte Berufung ein; die Strafkammer in Bartenstein verwarf
die Berufung, obwohl sie darauf hingewiesen wurde, daß der Herr den
Kontrakt gebrochen habe, daß der Arbeiter nach dem Bürgerlichen
Gesetzbuch berechtigt sei, so lange seine Leistung zu verweigern, bis der
Herr seine Verpflichtung erfüllt habe, daß es überdies ein genügender
Grund sein müsse, die Arbeit niederzulegen, wenn der ausbedungene
Lohn nicht gezahlt würde. Die Strafkammer begründete ihre Ent-
scheidung mit der Ausführung, es sei zwar richtig, daß der Lohn zu
Unrecht nicht gezahlt sei, aber dem Arbeiter seien dadurch -- so heißt
es wörtlich -- nicht "erhebliche Wirtschaftserschwernisse" entstanden
( hört! hört! ) infolgedessen habe er keinen berechtigten Grund gehabt,
den Dienst zu verlassen. ( Stürmische Rufe: Hört! hört! )

So der Abg. Haase nach den Akten in der Reichstagssitzung vom 16.
Juni 1904. Kreissekretäre auf Landratsämtern haben schutzsuchende Arbeiter
dahin beschieden, daß unter den vorliegenden Umständen der Dienst nicht fort-
gesetzt zu werden brauche und die Arbeiter sind später dennoch wegen Kontrakt-
bruches bestraft worden, ohne daß man ihnen auch nur den guten Glauben
zubilligte, den man bei Beamten, die ihre Dienstvorschrift verletzen, regelmäßig
zunächst voraussetzt. Die unteren rechtsprechenden Jnstanzen sind meist von
demselben Fleisch und Blut, wie die Kläger mit ihrem Herrenbewußtsein und
an die höheren Jnstanzen wendet sich der Arbeiter nicht mehr, weil es "doch
nichts hilft" und weil er die Kosten und Laufereien scheut. Er bleibt
kontraktbrüchig.

Nun denke man, diese ganze kulturunwürdige Lage noch verschärft durch
ein Gesetz, wie das geplante. Entweder nimmt in der Tat der neue Arbeit-
geber das Risiko einer Bestrafung auf sich -- wer wollte das glauben? Oder
dem gehetzten Arbeiter verschließen sich die früheren Stätten der Zuflucht mehr
noch denn je; er ist vervehmt und geächtet. Auch in Fällen, wie sie eben
gekennzeichnet wurden und wo das moralische Recht auf einer ganz anderen
Seite steht wie das gesetzlich formelle, bleibt dem Arbeiter jede Türe ver-
schlossen, an die er klopfen könnte. Wo bei normalen Rechtsverhältnissen, wo

Max Schippel: Vereitelter Landarbeitertrutz in Preussen.
und Rechtslosigkeit noch lange keine Rechtfertigung der Dienstflucht. Das heißt,
keine Rechtfertigung im Sinne der Behörden und Richter, die an den Buchstaben
überlebter, aber noch immer nicht toter Gesetze gebunden sind. So haben
nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch Kammergericht und Oberlandesgericht in
Preußen zwar anerkannt, daß das Züchtigungsrecht der Herrschaft gegenüber
dem Gesinde aufgehört habe, aber — ein hinreichender Grund zur Aufgabe
des Arbeitsverhältnisses seien leichte Peitschenhiebe noch lange nicht! Ein
Arbeiter im Königsbergischen erhält am Lohnzahlungstage statt der sechs Scheffel
Hafer, die er nach seinem Kontrakt zu fordern hatte, nur drei Scheffel. Er
reklamiert umsonst. Er legt schließlich, wie er im Voraus erklärt hatte, die
Arbeit nieder:

Bäumt sich nun nicht das Rechtsgefühl auf, daß nicht der Herr,
der den Kontrakt gebrochen hatte, der dem Arbeiter den Lohn vor-
enthielt, bestraft wurde, sondern daß der benachbarte Amtsvorsteher
auf Veranlassung des Dienstherrn eine Strafverfügung gegen den
Arbeiter erließ! ( Hört! hört! ) Der Arbeiter trug auf gerichtliche Ent-
scheidung an, aber das Gericht hielt den Strafbefehl aufrecht. Der
Arbeiter legte Berufung ein; die Strafkammer in Bartenstein verwarf
die Berufung, obwohl sie darauf hingewiesen wurde, daß der Herr den
Kontrakt gebrochen habe, daß der Arbeiter nach dem Bürgerlichen
Gesetzbuch berechtigt sei, so lange seine Leistung zu verweigern, bis der
Herr seine Verpflichtung erfüllt habe, daß es überdies ein genügender
Grund sein müsse, die Arbeit niederzulegen, wenn der ausbedungene
Lohn nicht gezahlt würde. Die Strafkammer begründete ihre Ent-
scheidung mit der Ausführung, es sei zwar richtig, daß der Lohn zu
Unrecht nicht gezahlt sei, aber dem Arbeiter seien dadurch — so heißt
es wörtlich — nicht „erhebliche Wirtschaftserschwernisse“ entstanden
( hört! hört! ) infolgedessen habe er keinen berechtigten Grund gehabt,
den Dienst zu verlassen. ( Stürmische Rufe: Hört! hört! )

So der Abg. Haase nach den Akten in der Reichstagssitzung vom 16.
Juni 1904. Kreissekretäre auf Landratsämtern haben schutzsuchende Arbeiter
dahin beschieden, daß unter den vorliegenden Umständen der Dienst nicht fort-
gesetzt zu werden brauche und die Arbeiter sind später dennoch wegen Kontrakt-
bruches bestraft worden, ohne daß man ihnen auch nur den guten Glauben
zubilligte, den man bei Beamten, die ihre Dienstvorschrift verletzen, regelmäßig
zunächst voraussetzt. Die unteren rechtsprechenden Jnstanzen sind meist von
demselben Fleisch und Blut, wie die Kläger mit ihrem Herrenbewußtsein und
an die höheren Jnstanzen wendet sich der Arbeiter nicht mehr, weil es „doch
nichts hilft“ und weil er die Kosten und Laufereien scheut. Er bleibt
kontraktbrüchig.

Nun denke man, diese ganze kulturunwürdige Lage noch verschärft durch
ein Gesetz, wie das geplante. Entweder nimmt in der Tat der neue Arbeit-
geber das Risiko einer Bestrafung auf sich — wer wollte das glauben? Oder
dem gehetzten Arbeiter verschließen sich die früheren Stätten der Zuflucht mehr
noch denn je; er ist vervehmt und geächtet. Auch in Fällen, wie sie eben
gekennzeichnet wurden und wo das moralische Recht auf einer ganz anderen
Seite steht wie das gesetzlich formelle, bleibt dem Arbeiter jede Türe ver-
schlossen, an die er klopfen könnte. Wo bei normalen Rechtsverhältnissen, wo

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[260/0020] Max Schippel: Vereitelter Landarbeitertrutz in Preussen. und Rechtslosigkeit noch lange keine Rechtfertigung der Dienstflucht. Das heißt, keine Rechtfertigung im Sinne der Behörden und Richter, die an den Buchstaben überlebter, aber noch immer nicht toter Gesetze gebunden sind. So haben nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch Kammergericht und Oberlandesgericht in Preußen zwar anerkannt, daß das Züchtigungsrecht der Herrschaft gegenüber dem Gesinde aufgehört habe, aber — ein hinreichender Grund zur Aufgabe des Arbeitsverhältnisses seien leichte Peitschenhiebe noch lange nicht! Ein Arbeiter im Königsbergischen erhält am Lohnzahlungstage statt der sechs Scheffel Hafer, die er nach seinem Kontrakt zu fordern hatte, nur drei Scheffel. Er reklamiert umsonst. Er legt schließlich, wie er im Voraus erklärt hatte, die Arbeit nieder: Bäumt sich nun nicht das Rechtsgefühl auf, daß nicht der Herr, der den Kontrakt gebrochen hatte, der dem Arbeiter den Lohn vor- enthielt, bestraft wurde, sondern daß der benachbarte Amtsvorsteher auf Veranlassung des Dienstherrn eine Strafverfügung gegen den Arbeiter erließ! ( Hört! hört! ) Der Arbeiter trug auf gerichtliche Ent- scheidung an, aber das Gericht hielt den Strafbefehl aufrecht. Der Arbeiter legte Berufung ein; die Strafkammer in Bartenstein verwarf die Berufung, obwohl sie darauf hingewiesen wurde, daß der Herr den Kontrakt gebrochen habe, daß der Arbeiter nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch berechtigt sei, so lange seine Leistung zu verweigern, bis der Herr seine Verpflichtung erfüllt habe, daß es überdies ein genügender Grund sein müsse, die Arbeit niederzulegen, wenn der ausbedungene Lohn nicht gezahlt würde. Die Strafkammer begründete ihre Ent- scheidung mit der Ausführung, es sei zwar richtig, daß der Lohn zu Unrecht nicht gezahlt sei, aber dem Arbeiter seien dadurch — so heißt es wörtlich — nicht „erhebliche Wirtschaftserschwernisse“ entstanden ( hört! hört! ) infolgedessen habe er keinen berechtigten Grund gehabt, den Dienst zu verlassen. ( Stürmische Rufe: Hört! hört! ) So der Abg. Haase nach den Akten in der Reichstagssitzung vom 16. Juni 1904. Kreissekretäre auf Landratsämtern haben schutzsuchende Arbeiter dahin beschieden, daß unter den vorliegenden Umständen der Dienst nicht fort- gesetzt zu werden brauche und die Arbeiter sind später dennoch wegen Kontrakt- bruches bestraft worden, ohne daß man ihnen auch nur den guten Glauben zubilligte, den man bei Beamten, die ihre Dienstvorschrift verletzen, regelmäßig zunächst voraussetzt. Die unteren rechtsprechenden Jnstanzen sind meist von demselben Fleisch und Blut, wie die Kläger mit ihrem Herrenbewußtsein und an die höheren Jnstanzen wendet sich der Arbeiter nicht mehr, weil es „doch nichts hilft“ und weil er die Kosten und Laufereien scheut. Er bleibt kontraktbrüchig. Nun denke man, diese ganze kulturunwürdige Lage noch verschärft durch ein Gesetz, wie das geplante. Entweder nimmt in der Tat der neue Arbeit- geber das Risiko einer Bestrafung auf sich — wer wollte das glauben? Oder dem gehetzten Arbeiter verschließen sich die früheren Stätten der Zuflucht mehr noch denn je; er ist vervehmt und geächtet. Auch in Fällen, wie sie eben gekennzeichnet wurden und wo das moralische Recht auf einer ganz anderen Seite steht wie das gesetzlich formelle, bleibt dem Arbeiter jede Türe ver- schlossen, an die er klopfen könnte. Wo bei normalen Rechtsverhältnissen, wo

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 6. Berlin-Charlottenburg, 23. Februar 1905, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0106_1905/20>, abgerufen am 21.11.2024.