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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 6. Berlin-Charlottenburg, 23. Februar 1905.

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Dr. A. Kalthoff: Religionswissenschaft.

Wie die Evolutionstheorie ihren festesten Halt an der Wissenschaft der
Engländer gefunden hat, so verdankt auch diese Religionswissenschaft ihre
bedeutsamsten Anregungen, um nicht zu sagen ihren Ursprung englischen For-
schern. Das ungeheuere Material, das den Gelehrten aus den über-
seeischen Verbindungen und den weiten Gebieten der englischen Kokonien zu-
strömte, mußte diese neue Art, das religiöse Problem zu behandeln, geradezu
herausfordern. Jn England hat sich deshalb die Religionswissenschaft schnell
zu einer Höhe entwickelt, von der wir in Deutschland noch weit entfernt sind,
und von der eine völlige Umgestaltung der tradionellen religiösen Wert-
schätzungen zu erwarten steht. Für die Religionswissenschaft hat der alte
Unterschied zwischen wahrer und falscher Religion seine Bedeutung verloren.
Jede Religion muß in den großen Entwickelungsprozeß des religiösen Lebens
eingefügt, dem Lebensgesetz des Wachstums und des Verfalles unterstellt wer-
den. Auch der Anspruch einer konfessionellen Religionsform auf die Allein-
gültigkeit ihrer kirchlichen Bildungen wird hinfällig. Und die alte grammati-
kalische Methode, mit der die Schultheologie sich und andere so lange gequält
hat, kann nicht mehr der Weisheit letzter Schluß sein, wenn es sich darum han-
delt, das richtige Verständnis der religiösen Quellenliteratur zu erschließen.
Der Sinn und die Bedeutung religiöser Urkunden und Jnstitutionen muß aus
dem Geiste ihrer Zeit, ihren kulturellen, anthropologischen und sozialen Le-
bensverhältnissen heraus begriffen werden.

Mit der Kraft, aber auch der Einseitigkeit einer starken Persönlichkeit
hat Max Müller in Oxford auf diesem Gebiete bahnbrechend gewirkt. Er hat
auch für diese Disziplin die Bezeichnung der "vergleichenden" Religionswissen-
schaft ausgeprägt und ihr damit für ihre Arbeiten den Weg und die Richtung
gewiesen. Vermittels des Sanskrits versucht Max Müller zu den Urlauten
der Religion vorzudringen, und er meint, diese in den ältesten Stücken der
Veden gefunden zu haben. Seine "natürliche" Religion will den Ursprung
der Religion aus der Berührung der Sinne mit der Natur erklären. Jm ent-
wickeltsten Glauben ist nichts, was nicht zuvor in den Sinnen gewesen ist und
durch diese in den Menschen hineingekommen ist. Jn der sinnlichen Empfin-
dung der Welt wird dem Menschen von vornherein die Unendlichkeit der Natur,
die in jedem ihrer Punkte gegenwärtig ist, vermittelt; das Persönlichkeits-
bewußtsein des Menschen, das ebenso in allen einzelnen Regungen der Sinne
gegenwärtig ist, das in seiner Sprache alle Lebensvorgänge versinnlicht und
dadurch personifiziert, drückt auch den elementarsten sinnlichen Empfindungen
der Religion den persönlichen Stempel auf. Es wird damit die Geburtsstätte
der Götter. Der theogonische Prozeß resultiert aus der sinnlichen Empfindung
des Menschen und hat deshalb in der natürlichen Einrichtung der Sinne seinen
Ursprung. Dieselben Sinne aber, die die Götter geboren, lassen sie auch
wieder sterben. Sie schaffen die Nichtgötter, eine Verneinung der Götter, den
Atheismus und damit die Kraft des religiösen Fortschritts. Atheismus ist
jedesmal die Überwindung eines an seiner Naturschranke gestorbenen Gottes,
in ihm beginnen die Geburtswehen einer neuen Theogonie.

Es geschieht allen Kolumbusnaturen, daß sie ihr neuentdecktes Land
falsch einschätzen und dabei ein Ziel nennen, was doch nur eine Etappe auf
dem großen Wege ist. Auch Max Müllers Ursprünge der Religion sind keine
solche. Sie sind schon Spätlinge im Entwickelungsprozeß religiösen Lebens.

Dr. A. Kalthoff: Religionswissenschaft.

Wie die Evolutionstheorie ihren festesten Halt an der Wissenschaft der
Engländer gefunden hat, so verdankt auch diese Religionswissenschaft ihre
bedeutsamsten Anregungen, um nicht zu sagen ihren Ursprung englischen For-
schern. Das ungeheuere Material, das den Gelehrten aus den über-
seeischen Verbindungen und den weiten Gebieten der englischen Kokonien zu-
strömte, mußte diese neue Art, das religiöse Problem zu behandeln, geradezu
herausfordern. Jn England hat sich deshalb die Religionswissenschaft schnell
zu einer Höhe entwickelt, von der wir in Deutschland noch weit entfernt sind,
und von der eine völlige Umgestaltung der tradionellen religiösen Wert-
schätzungen zu erwarten steht. Für die Religionswissenschaft hat der alte
Unterschied zwischen wahrer und falscher Religion seine Bedeutung verloren.
Jede Religion muß in den großen Entwickelungsprozeß des religiösen Lebens
eingefügt, dem Lebensgesetz des Wachstums und des Verfalles unterstellt wer-
den. Auch der Anspruch einer konfessionellen Religionsform auf die Allein-
gültigkeit ihrer kirchlichen Bildungen wird hinfällig. Und die alte grammati-
kalische Methode, mit der die Schultheologie sich und andere so lange gequält
hat, kann nicht mehr der Weisheit letzter Schluß sein, wenn es sich darum han-
delt, das richtige Verständnis der religiösen Quellenliteratur zu erschließen.
Der Sinn und die Bedeutung religiöser Urkunden und Jnstitutionen muß aus
dem Geiste ihrer Zeit, ihren kulturellen, anthropologischen und sozialen Le-
bensverhältnissen heraus begriffen werden.

Mit der Kraft, aber auch der Einseitigkeit einer starken Persönlichkeit
hat Max Müller in Oxford auf diesem Gebiete bahnbrechend gewirkt. Er hat
auch für diese Disziplin die Bezeichnung der „vergleichenden“ Religionswissen-
schaft ausgeprägt und ihr damit für ihre Arbeiten den Weg und die Richtung
gewiesen. Vermittels des Sanskrits versucht Max Müller zu den Urlauten
der Religion vorzudringen, und er meint, diese in den ältesten Stücken der
Veden gefunden zu haben. Seine „natürliche“ Religion will den Ursprung
der Religion aus der Berührung der Sinne mit der Natur erklären. Jm ent-
wickeltsten Glauben ist nichts, was nicht zuvor in den Sinnen gewesen ist und
durch diese in den Menschen hineingekommen ist. Jn der sinnlichen Empfin-
dung der Welt wird dem Menschen von vornherein die Unendlichkeit der Natur,
die in jedem ihrer Punkte gegenwärtig ist, vermittelt; das Persönlichkeits-
bewußtsein des Menschen, das ebenso in allen einzelnen Regungen der Sinne
gegenwärtig ist, das in seiner Sprache alle Lebensvorgänge versinnlicht und
dadurch personifiziert, drückt auch den elementarsten sinnlichen Empfindungen
der Religion den persönlichen Stempel auf. Es wird damit die Geburtsstätte
der Götter. Der theogonische Prozeß resultiert aus der sinnlichen Empfindung
des Menschen und hat deshalb in der natürlichen Einrichtung der Sinne seinen
Ursprung. Dieselben Sinne aber, die die Götter geboren, lassen sie auch
wieder sterben. Sie schaffen die Nichtgötter, eine Verneinung der Götter, den
Atheismus und damit die Kraft des religiösen Fortschritts. Atheismus ist
jedesmal die Überwindung eines an seiner Naturschranke gestorbenen Gottes,
in ihm beginnen die Geburtswehen einer neuen Theogonie.

Es geschieht allen Kolumbusnaturen, daß sie ihr neuentdecktes Land
falsch einschätzen und dabei ein Ziel nennen, was doch nur eine Etappe auf
dem großen Wege ist. Auch Max Müllers Ursprünge der Religion sind keine
solche. Sie sind schon Spätlinge im Entwickelungsprozeß religiösen Lebens.

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[271/0031] Dr. A. Kalthoff: Religionswissenschaft. Wie die Evolutionstheorie ihren festesten Halt an der Wissenschaft der Engländer gefunden hat, so verdankt auch diese Religionswissenschaft ihre bedeutsamsten Anregungen, um nicht zu sagen ihren Ursprung englischen For- schern. Das ungeheuere Material, das den Gelehrten aus den über- seeischen Verbindungen und den weiten Gebieten der englischen Kokonien zu- strömte, mußte diese neue Art, das religiöse Problem zu behandeln, geradezu herausfordern. Jn England hat sich deshalb die Religionswissenschaft schnell zu einer Höhe entwickelt, von der wir in Deutschland noch weit entfernt sind, und von der eine völlige Umgestaltung der tradionellen religiösen Wert- schätzungen zu erwarten steht. Für die Religionswissenschaft hat der alte Unterschied zwischen wahrer und falscher Religion seine Bedeutung verloren. Jede Religion muß in den großen Entwickelungsprozeß des religiösen Lebens eingefügt, dem Lebensgesetz des Wachstums und des Verfalles unterstellt wer- den. Auch der Anspruch einer konfessionellen Religionsform auf die Allein- gültigkeit ihrer kirchlichen Bildungen wird hinfällig. Und die alte grammati- kalische Methode, mit der die Schultheologie sich und andere so lange gequält hat, kann nicht mehr der Weisheit letzter Schluß sein, wenn es sich darum han- delt, das richtige Verständnis der religiösen Quellenliteratur zu erschließen. Der Sinn und die Bedeutung religiöser Urkunden und Jnstitutionen muß aus dem Geiste ihrer Zeit, ihren kulturellen, anthropologischen und sozialen Le- bensverhältnissen heraus begriffen werden. Mit der Kraft, aber auch der Einseitigkeit einer starken Persönlichkeit hat Max Müller in Oxford auf diesem Gebiete bahnbrechend gewirkt. Er hat auch für diese Disziplin die Bezeichnung der „vergleichenden“ Religionswissen- schaft ausgeprägt und ihr damit für ihre Arbeiten den Weg und die Richtung gewiesen. Vermittels des Sanskrits versucht Max Müller zu den Urlauten der Religion vorzudringen, und er meint, diese in den ältesten Stücken der Veden gefunden zu haben. Seine „natürliche“ Religion will den Ursprung der Religion aus der Berührung der Sinne mit der Natur erklären. Jm ent- wickeltsten Glauben ist nichts, was nicht zuvor in den Sinnen gewesen ist und durch diese in den Menschen hineingekommen ist. Jn der sinnlichen Empfin- dung der Welt wird dem Menschen von vornherein die Unendlichkeit der Natur, die in jedem ihrer Punkte gegenwärtig ist, vermittelt; das Persönlichkeits- bewußtsein des Menschen, das ebenso in allen einzelnen Regungen der Sinne gegenwärtig ist, das in seiner Sprache alle Lebensvorgänge versinnlicht und dadurch personifiziert, drückt auch den elementarsten sinnlichen Empfindungen der Religion den persönlichen Stempel auf. Es wird damit die Geburtsstätte der Götter. Der theogonische Prozeß resultiert aus der sinnlichen Empfindung des Menschen und hat deshalb in der natürlichen Einrichtung der Sinne seinen Ursprung. Dieselben Sinne aber, die die Götter geboren, lassen sie auch wieder sterben. Sie schaffen die Nichtgötter, eine Verneinung der Götter, den Atheismus und damit die Kraft des religiösen Fortschritts. Atheismus ist jedesmal die Überwindung eines an seiner Naturschranke gestorbenen Gottes, in ihm beginnen die Geburtswehen einer neuen Theogonie. Es geschieht allen Kolumbusnaturen, daß sie ihr neuentdecktes Land falsch einschätzen und dabei ein Ziel nennen, was doch nur eine Etappe auf dem großen Wege ist. Auch Max Müllers Ursprünge der Religion sind keine solche. Sie sind schon Spätlinge im Entwickelungsprozeß religiösen Lebens.

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 6. Berlin-Charlottenburg, 23. Februar 1905, S. 271. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0106_1905/31>, abgerufen am 21.11.2024.