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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 6. Berlin-Charlottenburg, 23. Februar 1905.

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Eduard Bernstein: Das Moskauer Attentat.
ladine noch nichts von einer auch nur ganz bescheidenen Vertretung der Stände
wissen. Jetzt, nach kaum sechs Wochen arbeitet man unter anderem eifrig an
einem Statut für den Semski Ssobor, die Nationalversammlung der Land-
schaften, organisiert eine gewählte Vertretung der Fabrikarbeiter zur Unter-
suchung der Arbeiterverhältnisse -- ja, ist das nicht für Rußland schon ein
großer, ein Riesenumschwung? Der Stein ist im Rollen, und niemand kann
voraussagen, wann und wo er anhält. Sergius wähnte, mit den alten bru-
talen Polizeimitteln ihm Einhalt gebieten zu können, er setzte zum Äußersten
entschlossene Vertreter der Repressionspolitik ein, und -- der Stein ging über
ihn hinweg. Das Attentat, dem er erlag, erhält doppelte Bedeutung durch
den Ort, wo es vor sich ging. Jn Moskau, dem heiligen Moskau, der Haupt-
stadt des Altrussentums, dem der Petersburger Russe ein von westeuropäischem
Geist angesteckter geistiger Bastard war, und unmittelbar vorm Kreml, der
Engelsburg aller gläubigen Russen, ward der Sohn des Zar=Befreiers und
Oheim des jetzigen Zaren gewaltsam umgebracht. Das hat allein schon die
symbolische Bedeutung eines halben Bastillesturms.

Und wer weiß, wie bald ihm der erste wirkliche Bastillesturm folgen
wird! Jm Mauerwerk sind die Zentralgefängnisse und Festungswerke Ruß-
lands heute zweifelsohne noch so fest, wie vor einem oder zwei Jahren, wo
noch kein Mensch von der heutigen Gährung des russischen Volkes etwas ahnte.
Aber nicht an der Brüchigkeit ihres Gemäuers fiel die Pariser Bastille, son-
dern an der Brüchigkeit der Armee, der Widerstandslosigkeit und Ratlosigkeit
der Arsenalgardisten gegenüber der in immer größeren Massen andrängenden
Volksmenge. Es ist aber geradezu unvermeidlich, daß in dem Maße, als die
Ratlosigkeit in den oberen Kreisen zunimmt, auch die Disziplin der Truppen
und die Zuverlässigkeit ihrer Führer erschüttert wird.

Das ist eben das Kennzeichen von Revolutionsepochen im Völkerleben,
daß, wenn sie eintreten, alle Maßnahmen der Gewalthaber, seien sie, welcher
Art sie wollen, so lange gegen diese ausschlagen, bis mindestens die Forderungen
verwirklicht sind, welche von allen revolutionären Elementen verfochten wer-
den. Und weil dem so ist, ist Zerfahrenheit, Unschlüssigkeit, schneller Wechsel
der oberen Beamten, bezw. der Minister, unausbleibliche Begleiterscheinung
solcher Epochen. Wir haben in den letzten Wochen in dieser Hinsicht aus Ruß-
land nicht wenige Vorgänge vernommen, die in diese Rubrik gehören, es sollte
merkwürdig zugehen, wenn die nächsten Wochen nicht noch eine erhebliche
Steigerung bringen werden. Schon jetzt müssen große Teile des Beamten-
tums sich sehr unsicher darüber fühlen, welcher Wind von oben die längste
Dauer verspricht. Und je stärker diese Unsicherheit, je mehr suchen sie, sich mit
den Volksparteien gut zu stellen.

Daß es im russischen Heere spukt, wird beinahe offiziell zugegeben. Jn
Ostasien versteht es sich auch geradezu von selbst. Einen ruhmlosen Feldzug
unter so schweren Entbehrungen, wie in der Mandschurei, erträgt kein Soldat
über ein Jahr, ohne rebellisch zu werden. Es muß nach allem, was man
darüber hört, gewaltig unter Kuropatkins Truppen gähren.

Unter diesen Umständen ist es begreiflich genug, daß der Zar sein fried-
liebendes Herz neuerdings wiederzufinden beginnt. "Friedensschluß oder
Revolution" erdröhnt es ihm immer deutlicher in die Ohren. Je mehr sich der
Krieg mit seinen wachsenden Ansprüchen hinzieht, die tief in das Wirtschafts-

Eduard Bernstein: Das Moskauer Attentat.
ladine noch nichts von einer auch nur ganz bescheidenen Vertretung der Stände
wissen. Jetzt, nach kaum sechs Wochen arbeitet man unter anderem eifrig an
einem Statut für den Semski Ssobor, die Nationalversammlung der Land-
schaften, organisiert eine gewählte Vertretung der Fabrikarbeiter zur Unter-
suchung der Arbeiterverhältnisse — ja, ist das nicht für Rußland schon ein
großer, ein Riesenumschwung? Der Stein ist im Rollen, und niemand kann
voraussagen, wann und wo er anhält. Sergius wähnte, mit den alten bru-
talen Polizeimitteln ihm Einhalt gebieten zu können, er setzte zum Äußersten
entschlossene Vertreter der Repressionspolitik ein, und — der Stein ging über
ihn hinweg. Das Attentat, dem er erlag, erhält doppelte Bedeutung durch
den Ort, wo es vor sich ging. Jn Moskau, dem heiligen Moskau, der Haupt-
stadt des Altrussentums, dem der Petersburger Russe ein von westeuropäischem
Geist angesteckter geistiger Bastard war, und unmittelbar vorm Kreml, der
Engelsburg aller gläubigen Russen, ward der Sohn des Zar=Befreiers und
Oheim des jetzigen Zaren gewaltsam umgebracht. Das hat allein schon die
symbolische Bedeutung eines halben Bastillesturms.

Und wer weiß, wie bald ihm der erste wirkliche Bastillesturm folgen
wird! Jm Mauerwerk sind die Zentralgefängnisse und Festungswerke Ruß-
lands heute zweifelsohne noch so fest, wie vor einem oder zwei Jahren, wo
noch kein Mensch von der heutigen Gährung des russischen Volkes etwas ahnte.
Aber nicht an der Brüchigkeit ihres Gemäuers fiel die Pariser Bastille, son-
dern an der Brüchigkeit der Armee, der Widerstandslosigkeit und Ratlosigkeit
der Arsenalgardisten gegenüber der in immer größeren Massen andrängenden
Volksmenge. Es ist aber geradezu unvermeidlich, daß in dem Maße, als die
Ratlosigkeit in den oberen Kreisen zunimmt, auch die Disziplin der Truppen
und die Zuverlässigkeit ihrer Führer erschüttert wird.

Das ist eben das Kennzeichen von Revolutionsepochen im Völkerleben,
daß, wenn sie eintreten, alle Maßnahmen der Gewalthaber, seien sie, welcher
Art sie wollen, so lange gegen diese ausschlagen, bis mindestens die Forderungen
verwirklicht sind, welche von allen revolutionären Elementen verfochten wer-
den. Und weil dem so ist, ist Zerfahrenheit, Unschlüssigkeit, schneller Wechsel
der oberen Beamten, bezw. der Minister, unausbleibliche Begleiterscheinung
solcher Epochen. Wir haben in den letzten Wochen in dieser Hinsicht aus Ruß-
land nicht wenige Vorgänge vernommen, die in diese Rubrik gehören, es sollte
merkwürdig zugehen, wenn die nächsten Wochen nicht noch eine erhebliche
Steigerung bringen werden. Schon jetzt müssen große Teile des Beamten-
tums sich sehr unsicher darüber fühlen, welcher Wind von oben die längste
Dauer verspricht. Und je stärker diese Unsicherheit, je mehr suchen sie, sich mit
den Volksparteien gut zu stellen.

Daß es im russischen Heere spukt, wird beinahe offiziell zugegeben. Jn
Ostasien versteht es sich auch geradezu von selbst. Einen ruhmlosen Feldzug
unter so schweren Entbehrungen, wie in der Mandschurei, erträgt kein Soldat
über ein Jahr, ohne rebellisch zu werden. Es muß nach allem, was man
darüber hört, gewaltig unter Kuropatkins Truppen gähren.

Unter diesen Umständen ist es begreiflich genug, daß der Zar sein fried-
liebendes Herz neuerdings wiederzufinden beginnt. „Friedensschluß oder
Revolution“ erdröhnt es ihm immer deutlicher in die Ohren. Je mehr sich der
Krieg mit seinen wachsenden Ansprüchen hinzieht, die tief in das Wirtschafts-

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[244/0004] Eduard Bernstein: Das Moskauer Attentat. ladine noch nichts von einer auch nur ganz bescheidenen Vertretung der Stände wissen. Jetzt, nach kaum sechs Wochen arbeitet man unter anderem eifrig an einem Statut für den Semski Ssobor, die Nationalversammlung der Land- schaften, organisiert eine gewählte Vertretung der Fabrikarbeiter zur Unter- suchung der Arbeiterverhältnisse — ja, ist das nicht für Rußland schon ein großer, ein Riesenumschwung? Der Stein ist im Rollen, und niemand kann voraussagen, wann und wo er anhält. Sergius wähnte, mit den alten bru- talen Polizeimitteln ihm Einhalt gebieten zu können, er setzte zum Äußersten entschlossene Vertreter der Repressionspolitik ein, und — der Stein ging über ihn hinweg. Das Attentat, dem er erlag, erhält doppelte Bedeutung durch den Ort, wo es vor sich ging. Jn Moskau, dem heiligen Moskau, der Haupt- stadt des Altrussentums, dem der Petersburger Russe ein von westeuropäischem Geist angesteckter geistiger Bastard war, und unmittelbar vorm Kreml, der Engelsburg aller gläubigen Russen, ward der Sohn des Zar=Befreiers und Oheim des jetzigen Zaren gewaltsam umgebracht. Das hat allein schon die symbolische Bedeutung eines halben Bastillesturms. Und wer weiß, wie bald ihm der erste wirkliche Bastillesturm folgen wird! Jm Mauerwerk sind die Zentralgefängnisse und Festungswerke Ruß- lands heute zweifelsohne noch so fest, wie vor einem oder zwei Jahren, wo noch kein Mensch von der heutigen Gährung des russischen Volkes etwas ahnte. Aber nicht an der Brüchigkeit ihres Gemäuers fiel die Pariser Bastille, son- dern an der Brüchigkeit der Armee, der Widerstandslosigkeit und Ratlosigkeit der Arsenalgardisten gegenüber der in immer größeren Massen andrängenden Volksmenge. Es ist aber geradezu unvermeidlich, daß in dem Maße, als die Ratlosigkeit in den oberen Kreisen zunimmt, auch die Disziplin der Truppen und die Zuverlässigkeit ihrer Führer erschüttert wird. Das ist eben das Kennzeichen von Revolutionsepochen im Völkerleben, daß, wenn sie eintreten, alle Maßnahmen der Gewalthaber, seien sie, welcher Art sie wollen, so lange gegen diese ausschlagen, bis mindestens die Forderungen verwirklicht sind, welche von allen revolutionären Elementen verfochten wer- den. Und weil dem so ist, ist Zerfahrenheit, Unschlüssigkeit, schneller Wechsel der oberen Beamten, bezw. der Minister, unausbleibliche Begleiterscheinung solcher Epochen. Wir haben in den letzten Wochen in dieser Hinsicht aus Ruß- land nicht wenige Vorgänge vernommen, die in diese Rubrik gehören, es sollte merkwürdig zugehen, wenn die nächsten Wochen nicht noch eine erhebliche Steigerung bringen werden. Schon jetzt müssen große Teile des Beamten- tums sich sehr unsicher darüber fühlen, welcher Wind von oben die längste Dauer verspricht. Und je stärker diese Unsicherheit, je mehr suchen sie, sich mit den Volksparteien gut zu stellen. Daß es im russischen Heere spukt, wird beinahe offiziell zugegeben. Jn Ostasien versteht es sich auch geradezu von selbst. Einen ruhmlosen Feldzug unter so schweren Entbehrungen, wie in der Mandschurei, erträgt kein Soldat über ein Jahr, ohne rebellisch zu werden. Es muß nach allem, was man darüber hört, gewaltig unter Kuropatkins Truppen gähren. Unter diesen Umständen ist es begreiflich genug, daß der Zar sein fried- liebendes Herz neuerdings wiederzufinden beginnt. „Friedensschluß oder Revolution“ erdröhnt es ihm immer deutlicher in die Ohren. Je mehr sich der Krieg mit seinen wachsenden Ansprüchen hinzieht, die tief in das Wirtschafts-

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 6. Berlin-Charlottenburg, 23. Februar 1905, S. 244. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0106_1905/4>, abgerufen am 21.11.2024.