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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 10. Berlin-Charlottenburg, 23. März 1905.

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Prof. F. Staudinger: Zwei Weltprinzipien im Kampfe.
ungenau ausgedrückt? Denn der Kampf dieser Prinzipien als solcher
ist noch gar nicht sonderlich alt. Sie haben nur in den früheren Kämpfen beide
stets zusammengewirkt, und die besondere Art ihres Verhältnisses hat die
menschlichen Kämpfe in ihrer Eigenart bestimmt. Aber früher dachte man gar
nicht daran, selbst nicht in den berühmtesten alten Republiken, die Herrschaft
eines dieser Prinzipien als das allein berechtigte, die des anderen als das
unberechtigte aufzufassen. Der Gedanke der Gleichberechtigung aller Menschen
ist kaum sporadisch aufgetaucht. Und auch der große Gedanke des Christen-
tums, daß alle Menschen Brüder seien, tauchte sofort wieder in dem Gedanken
der bevorrechtigten Gläubigen, und bald wieder in dem Gedanken des bloß
jenseitigen Gottesreichs unter.

Erst mit der Entwicklung unserer modernen Jndustrie, welche eine fak-
tische,
immer weiter sich ausbreitende Lebensgemeinschaft schuf, konnte der
Gedanke einer Ueberwindung des "Naturprinzips" aufkommen. So wollen wir
es nennen, obwohl das andere, das "Gemeinschaftsprinzip" doch auch natürlich
gewachsen ist. Die französische Revolution hat auf dem europäischen Kontinent
zum ersten Male das Prinzip der Freiheit der Menschen als solchen von per-
sönlicher Dienstbarkeit, der Gleichberechtigung vor dem Gesetz und des Zu-
sammenwirkens aller an der Gesetzgebung in der Verfassung festgelegt. Damit
war die Herrschaft des Gemeinschaftsprinzips über das Naturprinzip grund-
sätzlich ausgesprochen, so unvollkommen es auch im einzelnen zur Anwendung
kommen konnte.

Es war damit das Eis gebrochen. Die Bestrebungen, die Folgerungen
daraus zu ziehen, die ganze Menschengemeinschaft diesem Prinzip gemäß zu
gestalten, wären undenkbar, wenn nicht der Gedanke der Freiheit aller Men-
schen, um mit Marx zu reden, zu einem Volksvorurteil geworden wäre.
Wenn sich kürzlich ein Führer der Sozialdemokratie ein wenig darüber lustig
machte, daß ein französischer Sozialist sich anheischig gemacht hatte, die ganzen
Forderungen des Sozialismus aus den Prinzipien der großen Re-
volution abzuleiten, so spottete er seiner selbst und wußte nicht wie. Denn in
der Tat ist der Sozialismus bis zu seiner letzten Faser nichts als eine An-
wendung der genannten Rechtsprinzipien auf das Gesamtleben, insbesondere
auf das Wirtschaftsleben. Ohne das hätte der "Klassenkampf" gar nicht diese
Form annehmen können. Wenn ebenderselbe Sozialist in dem von ihm ver-
faßten "Erfurter Programm" sagt: "Die gesellschaftliche Umwandlung bedeutet
die Befreiung nicht bloß des Proletariats, sondern des gesamten Menschenge-
schlechts ", so drückt er selbst ja das Ziel auf das allerdeutlichste aus. Oder wäre
dies nicht das Ziel wenigstens der bewußteren Führer der Revolution, wäre es
nicht der grundsätzliche Jnhalt der "Menschenrechte" gewesen? Nicht den
Klassenkampf selbst also dürfen wir leugnen, sondern nur die Uebertreibung
ist zu bekämpfen, welche Folgerungen aus ihm zieht, die ihm in Wahrheit gar
nicht entspringen, oder welche ihn gar als das alleinwirkende Prinzip hin-
stellt.

Aus dem bloßen Gedanken des Klassenkampfes wäre noch nicht einmal
der Gedanke der wirtschaftlichen Befreiung, geschweige denn der Befreiung
aller hervorgegangen. Da hätte gerade so gut der bloße Gedanke des
" Ote toi, que je m'y mette ", ja ev. bloß der Gewerkschaftskampf um bessere
Lebensbedingungen hervorgehen können; und beides geht bei gar manchen
Leuten tatsächlich allein daraus hervor. Der Gedanke der "Menschenrechte" ist

Prof. F. Staudinger: Zwei Weltprinzipien im Kampfe.
ungenau ausgedrückt? Denn der Kampf dieser Prinzipien als solcher
ist noch gar nicht sonderlich alt. Sie haben nur in den früheren Kämpfen beide
stets zusammengewirkt, und die besondere Art ihres Verhältnisses hat die
menschlichen Kämpfe in ihrer Eigenart bestimmt. Aber früher dachte man gar
nicht daran, selbst nicht in den berühmtesten alten Republiken, die Herrschaft
eines dieser Prinzipien als das allein berechtigte, die des anderen als das
unberechtigte aufzufassen. Der Gedanke der Gleichberechtigung aller Menschen
ist kaum sporadisch aufgetaucht. Und auch der große Gedanke des Christen-
tums, daß alle Menschen Brüder seien, tauchte sofort wieder in dem Gedanken
der bevorrechtigten Gläubigen, und bald wieder in dem Gedanken des bloß
jenseitigen Gottesreichs unter.

Erst mit der Entwicklung unserer modernen Jndustrie, welche eine fak-
tische,
immer weiter sich ausbreitende Lebensgemeinschaft schuf, konnte der
Gedanke einer Ueberwindung des „Naturprinzips“ aufkommen. So wollen wir
es nennen, obwohl das andere, das „Gemeinschaftsprinzip“ doch auch natürlich
gewachsen ist. Die französische Revolution hat auf dem europäischen Kontinent
zum ersten Male das Prinzip der Freiheit der Menschen als solchen von per-
sönlicher Dienstbarkeit, der Gleichberechtigung vor dem Gesetz und des Zu-
sammenwirkens aller an der Gesetzgebung in der Verfassung festgelegt. Damit
war die Herrschaft des Gemeinschaftsprinzips über das Naturprinzip grund-
sätzlich ausgesprochen, so unvollkommen es auch im einzelnen zur Anwendung
kommen konnte.

Es war damit das Eis gebrochen. Die Bestrebungen, die Folgerungen
daraus zu ziehen, die ganze Menschengemeinschaft diesem Prinzip gemäß zu
gestalten, wären undenkbar, wenn nicht der Gedanke der Freiheit aller Men-
schen, um mit Marx zu reden, zu einem Volksvorurteil geworden wäre.
Wenn sich kürzlich ein Führer der Sozialdemokratie ein wenig darüber lustig
machte, daß ein französischer Sozialist sich anheischig gemacht hatte, die ganzen
Forderungen des Sozialismus aus den Prinzipien der großen Re-
volution abzuleiten, so spottete er seiner selbst und wußte nicht wie. Denn in
der Tat ist der Sozialismus bis zu seiner letzten Faser nichts als eine An-
wendung der genannten Rechtsprinzipien auf das Gesamtleben, insbesondere
auf das Wirtschaftsleben. Ohne das hätte der „Klassenkampf“ gar nicht diese
Form annehmen können. Wenn ebenderselbe Sozialist in dem von ihm ver-
faßten „Erfurter Programm“ sagt: „Die gesellschaftliche Umwandlung bedeutet
die Befreiung nicht bloß des Proletariats, sondern des gesamten Menschenge-
schlechts “, so drückt er selbst ja das Ziel auf das allerdeutlichste aus. Oder wäre
dies nicht das Ziel wenigstens der bewußteren Führer der Revolution, wäre es
nicht der grundsätzliche Jnhalt der „Menschenrechte“ gewesen? Nicht den
Klassenkampf selbst also dürfen wir leugnen, sondern nur die Uebertreibung
ist zu bekämpfen, welche Folgerungen aus ihm zieht, die ihm in Wahrheit gar
nicht entspringen, oder welche ihn gar als das alleinwirkende Prinzip hin-
stellt.

Aus dem bloßen Gedanken des Klassenkampfes wäre noch nicht einmal
der Gedanke der wirtschaftlichen Befreiung, geschweige denn der Befreiung
aller hervorgegangen. Da hätte gerade so gut der bloße Gedanke des
Ote toi, que je m'y mette “, ja ev. bloß der Gewerkschaftskampf um bessere
Lebensbedingungen hervorgehen können; und beides geht bei gar manchen
Leuten tatsächlich allein daraus hervor. Der Gedanke der „Menschenrechte“ ist

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[448/0016] Prof. F. Staudinger: Zwei Weltprinzipien im Kampfe. ungenau ausgedrückt? Denn der Kampf dieser Prinzipien als solcher ist noch gar nicht sonderlich alt. Sie haben nur in den früheren Kämpfen beide stets zusammengewirkt, und die besondere Art ihres Verhältnisses hat die menschlichen Kämpfe in ihrer Eigenart bestimmt. Aber früher dachte man gar nicht daran, selbst nicht in den berühmtesten alten Republiken, die Herrschaft eines dieser Prinzipien als das allein berechtigte, die des anderen als das unberechtigte aufzufassen. Der Gedanke der Gleichberechtigung aller Menschen ist kaum sporadisch aufgetaucht. Und auch der große Gedanke des Christen- tums, daß alle Menschen Brüder seien, tauchte sofort wieder in dem Gedanken der bevorrechtigten Gläubigen, und bald wieder in dem Gedanken des bloß jenseitigen Gottesreichs unter. Erst mit der Entwicklung unserer modernen Jndustrie, welche eine fak- tische, immer weiter sich ausbreitende Lebensgemeinschaft schuf, konnte der Gedanke einer Ueberwindung des „Naturprinzips“ aufkommen. So wollen wir es nennen, obwohl das andere, das „Gemeinschaftsprinzip“ doch auch natürlich gewachsen ist. Die französische Revolution hat auf dem europäischen Kontinent zum ersten Male das Prinzip der Freiheit der Menschen als solchen von per- sönlicher Dienstbarkeit, der Gleichberechtigung vor dem Gesetz und des Zu- sammenwirkens aller an der Gesetzgebung in der Verfassung festgelegt. Damit war die Herrschaft des Gemeinschaftsprinzips über das Naturprinzip grund- sätzlich ausgesprochen, so unvollkommen es auch im einzelnen zur Anwendung kommen konnte. Es war damit das Eis gebrochen. Die Bestrebungen, die Folgerungen daraus zu ziehen, die ganze Menschengemeinschaft diesem Prinzip gemäß zu gestalten, wären undenkbar, wenn nicht der Gedanke der Freiheit aller Men- schen, um mit Marx zu reden, zu einem Volksvorurteil geworden wäre. Wenn sich kürzlich ein Führer der Sozialdemokratie ein wenig darüber lustig machte, daß ein französischer Sozialist sich anheischig gemacht hatte, die ganzen Forderungen des Sozialismus aus den Prinzipien der großen Re- volution abzuleiten, so spottete er seiner selbst und wußte nicht wie. Denn in der Tat ist der Sozialismus bis zu seiner letzten Faser nichts als eine An- wendung der genannten Rechtsprinzipien auf das Gesamtleben, insbesondere auf das Wirtschaftsleben. Ohne das hätte der „Klassenkampf“ gar nicht diese Form annehmen können. Wenn ebenderselbe Sozialist in dem von ihm ver- faßten „Erfurter Programm“ sagt: „Die gesellschaftliche Umwandlung bedeutet die Befreiung nicht bloß des Proletariats, sondern des gesamten Menschenge- schlechts “, so drückt er selbst ja das Ziel auf das allerdeutlichste aus. Oder wäre dies nicht das Ziel wenigstens der bewußteren Führer der Revolution, wäre es nicht der grundsätzliche Jnhalt der „Menschenrechte“ gewesen? Nicht den Klassenkampf selbst also dürfen wir leugnen, sondern nur die Uebertreibung ist zu bekämpfen, welche Folgerungen aus ihm zieht, die ihm in Wahrheit gar nicht entspringen, oder welche ihn gar als das alleinwirkende Prinzip hin- stellt. Aus dem bloßen Gedanken des Klassenkampfes wäre noch nicht einmal der Gedanke der wirtschaftlichen Befreiung, geschweige denn der Befreiung aller hervorgegangen. Da hätte gerade so gut der bloße Gedanke des „ Ote toi, que je m'y mette “, ja ev. bloß der Gewerkschaftskampf um bessere Lebensbedingungen hervorgehen können; und beides geht bei gar manchen Leuten tatsächlich allein daraus hervor. Der Gedanke der „Menschenrechte“ ist

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 10. Berlin-Charlottenburg, 23. März 1905, S. 448. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0110_1905/16>, abgerufen am 23.11.2024.