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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 10. Berlin-Charlottenburg, 23. März 1905.

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Prof. F. Staudinger: Zwei Weltprinzipien im Kampfe.
es erst, der auch dem Klassenkampf Richtung verleiht, oder besser, ihn über die
Enge eines bloßen Klassenkampfes zu einem Menschheitskampfe um grundsätz-
liche Befreiung erheben kann.

Dieser Menschheitskampf bedeutet aber seinem tieferen Grunde nach die
Beherrschung des Naturprinzips durch das Gemein-
schaftsprinzip.
Die immer sich erweiternden Kreise praktischer Menschen-
gemeinschaft haben auch diesem Prinzip allmählich solche Kraft verliehen, daß es
nun daran denken kann, das andere Prinzip sich unterzuordnen, wie es bisher
ihm untergeordnet war.

Das aber darf man nicht vergessen: Nicht um Beseitigung des Natur-
prinzips handelt es sich, sondern nur um Umkehrung der Herrschaftsrolle beider
Prinzipien. Beide sind unzertrennliche und notwendige Faktoren der Mensch-
heitsentwicklung, wie bisher, so auch später. Die Forderung, das Naturprinzip
solle ganz ausgeschlossen werden, ist ebenso unmöglich zu erfüllen, wie das Be-
streben, das Naturprinzip als "gottgewolltes" Herrschaftsprinzip rein durchzu-
führen.

Auch die schlimmste Tyrannis muß die Gemeinschaft der Unterworfenen
bis zu einem gewissen Grade pflegen.*) Denn ohne jede Gemeinschaft würde
die Herrschaft selbst keinen Augenblick bestehen können. Tyrannen, die das ver-
kannten, wie Philipp II., haben das auch gründlich zu spüren bekommen.

Auch die ausgebildetste Freiheit kann umgekehrt das Naturprinzip nicht
entbehren. Denke man sich auch den demokratischsten Betrieb, so muß er doch,
damit alles zu rechter Zeit und an richtiger Stelle geschehe, eine sachkundige
Leitung haben. Und deren Vorhandensein bedingt nicht nur, daß die Arbeitenden
ihren Willen dem Leiter unterordnen müssen, sondern auch vor allem, daß die
Stellung des Leiters eine begehrtere sein wird, daß sich verschiedene darum
bewerben, und daß somit der in diesem Konkurrenzkampf Obsiegende die übrigen
-- ganz dem Naturprinzip gemäß -- aus dem Felde schlägt. Man denke
nur z. B. an den Wettbewerb mehrerer Aerzte um die Leitung eines Kranken-
hauses, so hat man das auf das deutlichste vor sich.

Die anarchistische Theorie, die das ganze Zusammenleben aus dem völlig
freien Jndividualwillen entwickeln will, die also das Naturprinzip ganz aus-
scheiden zu können meint, ist also gänzlich unmöglich. Sie abstrahiert von
den wesentlichsten menschlichen Kräften, statt sie zu begreifen und zu leiten.
Vermeintlich individualistisch, zerstört sie geradezu den Boden der Jndividuali-
tät. Es kann sich in Wahrheit nur darum handeln, das gegenseitige Verhältnis
der beiden Grundfaktoren umzukehren. Während in der bisherigen Geschichte
das Naturprinzip die Herrschaft führte, das Gemeinschaftsprinzip ihm unter-
worfen war, ist nun der Anfang dazu gemacht, das Naturprinzip zu unterwerfen
und durch das Gemeinschaftsprinzip regeln zu lassen.

Damit dies geschehen könne, ist vor allem Zunahme der praktischen, der

*) Freilich verstehe ich da unter Gemeinschaft etwas mehr als es Ferd.
Tönnies tut, der in seinem geistvollen Buche über "Gemeinschaft und Gesellschaft",
das mir s. Z. Anregung zu den hier ausgesprochenen Gedanken gab, Gemeinschaft und
Gesellschaft in Gegensatz bringt, der Gemeinschaft den auf gemeinschaftlichem Besitze
und Genusse ruhenden Teil des Lebens zuweist, den Tausch dagegen ohne weiteres
dem Gesellschaftsprinzip unterordnet. Als Gesellschaft faßt man meines Erachtens
besser, wie es auch üblich ist, das Gesamtzusammenleben der Menschen und
scheidet dann nach den genannten real nachweisbaren Faktoren.

Prof. F. Staudinger: Zwei Weltprinzipien im Kampfe.
es erst, der auch dem Klassenkampf Richtung verleiht, oder besser, ihn über die
Enge eines bloßen Klassenkampfes zu einem Menschheitskampfe um grundsätz-
liche Befreiung erheben kann.

Dieser Menschheitskampf bedeutet aber seinem tieferen Grunde nach die
Beherrschung des Naturprinzips durch das Gemein-
schaftsprinzip.
Die immer sich erweiternden Kreise praktischer Menschen-
gemeinschaft haben auch diesem Prinzip allmählich solche Kraft verliehen, daß es
nun daran denken kann, das andere Prinzip sich unterzuordnen, wie es bisher
ihm untergeordnet war.

Das aber darf man nicht vergessen: Nicht um Beseitigung des Natur-
prinzips handelt es sich, sondern nur um Umkehrung der Herrschaftsrolle beider
Prinzipien. Beide sind unzertrennliche und notwendige Faktoren der Mensch-
heitsentwicklung, wie bisher, so auch später. Die Forderung, das Naturprinzip
solle ganz ausgeschlossen werden, ist ebenso unmöglich zu erfüllen, wie das Be-
streben, das Naturprinzip als „gottgewolltes“ Herrschaftsprinzip rein durchzu-
führen.

Auch die schlimmste Tyrannis muß die Gemeinschaft der Unterworfenen
bis zu einem gewissen Grade pflegen.*) Denn ohne jede Gemeinschaft würde
die Herrschaft selbst keinen Augenblick bestehen können. Tyrannen, die das ver-
kannten, wie Philipp II., haben das auch gründlich zu spüren bekommen.

Auch die ausgebildetste Freiheit kann umgekehrt das Naturprinzip nicht
entbehren. Denke man sich auch den demokratischsten Betrieb, so muß er doch,
damit alles zu rechter Zeit und an richtiger Stelle geschehe, eine sachkundige
Leitung haben. Und deren Vorhandensein bedingt nicht nur, daß die Arbeitenden
ihren Willen dem Leiter unterordnen müssen, sondern auch vor allem, daß die
Stellung des Leiters eine begehrtere sein wird, daß sich verschiedene darum
bewerben, und daß somit der in diesem Konkurrenzkampf Obsiegende die übrigen
— ganz dem Naturprinzip gemäß — aus dem Felde schlägt. Man denke
nur z. B. an den Wettbewerb mehrerer Aerzte um die Leitung eines Kranken-
hauses, so hat man das auf das deutlichste vor sich.

Die anarchistische Theorie, die das ganze Zusammenleben aus dem völlig
freien Jndividualwillen entwickeln will, die also das Naturprinzip ganz aus-
scheiden zu können meint, ist also gänzlich unmöglich. Sie abstrahiert von
den wesentlichsten menschlichen Kräften, statt sie zu begreifen und zu leiten.
Vermeintlich individualistisch, zerstört sie geradezu den Boden der Jndividuali-
tät. Es kann sich in Wahrheit nur darum handeln, das gegenseitige Verhältnis
der beiden Grundfaktoren umzukehren. Während in der bisherigen Geschichte
das Naturprinzip die Herrschaft führte, das Gemeinschaftsprinzip ihm unter-
worfen war, ist nun der Anfang dazu gemacht, das Naturprinzip zu unterwerfen
und durch das Gemeinschaftsprinzip regeln zu lassen.

Damit dies geschehen könne, ist vor allem Zunahme der praktischen, der

*) Freilich verstehe ich da unter Gemeinschaft etwas mehr als es Ferd.
Tönnies tut, der in seinem geistvollen Buche über „Gemeinschaft und Gesellschaft“,
das mir s. Z. Anregung zu den hier ausgesprochenen Gedanken gab, Gemeinschaft und
Gesellschaft in Gegensatz bringt, der Gemeinschaft den auf gemeinschaftlichem Besitze
und Genusse ruhenden Teil des Lebens zuweist, den Tausch dagegen ohne weiteres
dem Gesellschaftsprinzip unterordnet. Als Gesellschaft faßt man meines Erachtens
besser, wie es auch üblich ist, das Gesamtzusammenleben der Menschen und
scheidet dann nach den genannten real nachweisbaren Faktoren.
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[449/0017] Prof. F. Staudinger: Zwei Weltprinzipien im Kampfe. es erst, der auch dem Klassenkampf Richtung verleiht, oder besser, ihn über die Enge eines bloßen Klassenkampfes zu einem Menschheitskampfe um grundsätz- liche Befreiung erheben kann. Dieser Menschheitskampf bedeutet aber seinem tieferen Grunde nach die Beherrschung des Naturprinzips durch das Gemein- schaftsprinzip. Die immer sich erweiternden Kreise praktischer Menschen- gemeinschaft haben auch diesem Prinzip allmählich solche Kraft verliehen, daß es nun daran denken kann, das andere Prinzip sich unterzuordnen, wie es bisher ihm untergeordnet war. Das aber darf man nicht vergessen: Nicht um Beseitigung des Natur- prinzips handelt es sich, sondern nur um Umkehrung der Herrschaftsrolle beider Prinzipien. Beide sind unzertrennliche und notwendige Faktoren der Mensch- heitsentwicklung, wie bisher, so auch später. Die Forderung, das Naturprinzip solle ganz ausgeschlossen werden, ist ebenso unmöglich zu erfüllen, wie das Be- streben, das Naturprinzip als „gottgewolltes“ Herrschaftsprinzip rein durchzu- führen. Auch die schlimmste Tyrannis muß die Gemeinschaft der Unterworfenen bis zu einem gewissen Grade pflegen. *) Denn ohne jede Gemeinschaft würde die Herrschaft selbst keinen Augenblick bestehen können. Tyrannen, die das ver- kannten, wie Philipp II., haben das auch gründlich zu spüren bekommen. Auch die ausgebildetste Freiheit kann umgekehrt das Naturprinzip nicht entbehren. Denke man sich auch den demokratischsten Betrieb, so muß er doch, damit alles zu rechter Zeit und an richtiger Stelle geschehe, eine sachkundige Leitung haben. Und deren Vorhandensein bedingt nicht nur, daß die Arbeitenden ihren Willen dem Leiter unterordnen müssen, sondern auch vor allem, daß die Stellung des Leiters eine begehrtere sein wird, daß sich verschiedene darum bewerben, und daß somit der in diesem Konkurrenzkampf Obsiegende die übrigen — ganz dem Naturprinzip gemäß — aus dem Felde schlägt. Man denke nur z. B. an den Wettbewerb mehrerer Aerzte um die Leitung eines Kranken- hauses, so hat man das auf das deutlichste vor sich. Die anarchistische Theorie, die das ganze Zusammenleben aus dem völlig freien Jndividualwillen entwickeln will, die also das Naturprinzip ganz aus- scheiden zu können meint, ist also gänzlich unmöglich. Sie abstrahiert von den wesentlichsten menschlichen Kräften, statt sie zu begreifen und zu leiten. Vermeintlich individualistisch, zerstört sie geradezu den Boden der Jndividuali- tät. Es kann sich in Wahrheit nur darum handeln, das gegenseitige Verhältnis der beiden Grundfaktoren umzukehren. Während in der bisherigen Geschichte das Naturprinzip die Herrschaft führte, das Gemeinschaftsprinzip ihm unter- worfen war, ist nun der Anfang dazu gemacht, das Naturprinzip zu unterwerfen und durch das Gemeinschaftsprinzip regeln zu lassen. Damit dies geschehen könne, ist vor allem Zunahme der praktischen, der *) Freilich verstehe ich da unter Gemeinschaft etwas mehr als es Ferd. Tönnies tut, der in seinem geistvollen Buche über „Gemeinschaft und Gesellschaft“, das mir s. Z. Anregung zu den hier ausgesprochenen Gedanken gab, Gemeinschaft und Gesellschaft in Gegensatz bringt, der Gemeinschaft den auf gemeinschaftlichem Besitze und Genusse ruhenden Teil des Lebens zuweist, den Tausch dagegen ohne weiteres dem Gesellschaftsprinzip unterordnet. Als Gesellschaft faßt man meines Erachtens besser, wie es auch üblich ist, das Gesamtzusammenleben der Menschen und scheidet dann nach den genannten real nachweisbaren Faktoren.

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 10. Berlin-Charlottenburg, 23. März 1905, S. 449. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0110_1905/17>, abgerufen am 23.11.2024.