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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 10. Berlin-Charlottenburg, 23. März 1905.

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P. Kampffmeyer: Feile Weiberstädte.
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Feile Weiberstädte.
Von Paul Kampffmeyer, Rehfelde.

Leierkastenmusik am Mittag in einem Nachtfalterhause der Ackerstraße.
Sie, die da ausruhen von den Umarmungen der käuflichen Liebe, ruft die
gefühlvolle Weise des Orgeldrehers: "Nur einmal blüht im Jahr der Mai, nur
einmal blühet die Liebe" an die halbverschlossenen Fenster. Backfischaugen schauen
auf die verlebten, geschminkten Gesichter der Veteraninnen der Prostitution, zahl-
reiche kleine Schulmädchenhände besorgen emsig leichte und beschwerliche Hand-
reichungen für die "Fräuleins" der Liebetrutschen Zunft, und fünf= bis sechs-
jährige Knaben hängen an den Hosenbeinen des "Onkelchens" Berger.

Ackerstraßen im Süden und Norden, im Osten und Westen Berlins, Acker-
straßen in Königsberg i. Pr. und in Köln, in München und in Stettin!

Das Problem der Ackerstraße beschäftigte am 17. und
18. Märzdie Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechts-
krankheiten auf ihrem zweiten Kongreß zu München.
Er-
bitterte Kämpfe um Bordelle und Bordellstraßen, um die Kasernierung und
Nichtkasernierung der Prostitution, wurden auf diesem Kongresse durchgefochten,
und die Anhänger der Kasernierung sind unterlegen. Kampfesmüde dürfte
mancher der streitbaren Herren zum Zeus, der seine lustigen Liebesaffären so
geschickt in Wolken zu hüllen verstand, gefleht haben, er möchte doch, da alle
menschliche Kunst versagte, um das ganze feile Liebesleben Nebel ziehen, damit
keine Mädchen= und Jünglingsaugen mehr in die Geheimnisse des großstädtischen
Dirnenkaufs dringen könnten.

Die "Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten"
hat durch eine Umfrage an die Magistrate und Polizeiverwaltungen deutscher
Groß= und Mittelstädte festgestellt, welche Maßnahmen von seiten dieser Ver-
waltungen zur Steuerung der eigenartigen sozialen Mißstände der Prostituierten-
wohnungen getroffen sind. Die Umfrage der "Deutschen Gesellschaft zur Be-
kämpfung der Geschlechtskrankheiten" hat nun gezeigt, wie alle Großstädte mit
enormen hin= und herflutenden Bevölkerungsmassen an der Aufgabe scheiterten,
den Prostitutionsverkehr in einige Tempel der Liebe, in Bordelle zu weisen.

Man sollte doch meinen, daß es wenigstens der Stadt Hamburg, die
kühn schon vor Jahren den Bordellzwang proklamierte, geglückt wäre, das
schamlose Treiben der Bordelle den neugierigen Kinderaugen zu entrücken.
Keineswegs! Nach dem zweiten Jahresbericht des Hamburger Vereins zur
Hebung der öffentlichen Sittlichkeit für das Jahr 1892 wohnten in 13 unsitt-
lichen Straßen Hamburgs 459 schulpflichtige Kinder. Vielleicht äußert sich ein-
mal der Bundesratsvertreter der Stadt Hamburg, die ja bekanntlich keine Bor-

P. Kampffmeyer: Feile Weiberstädte.
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Feile Weiberstädte.
Von Paul Kampffmeyer, Rehfelde.

Leierkastenmusik am Mittag in einem Nachtfalterhause der Ackerstraße.
Sie, die da ausruhen von den Umarmungen der käuflichen Liebe, ruft die
gefühlvolle Weise des Orgeldrehers: „Nur einmal blüht im Jahr der Mai, nur
einmal blühet die Liebe“ an die halbverschlossenen Fenster. Backfischaugen schauen
auf die verlebten, geschminkten Gesichter der Veteraninnen der Prostitution, zahl-
reiche kleine Schulmädchenhände besorgen emsig leichte und beschwerliche Hand-
reichungen für die „Fräuleins“ der Liebetrutschen Zunft, und fünf= bis sechs-
jährige Knaben hängen an den Hosenbeinen des „Onkelchens“ Berger.

Ackerstraßen im Süden und Norden, im Osten und Westen Berlins, Acker-
straßen in Königsberg i. Pr. und in Köln, in München und in Stettin!

Das Problem der Ackerstraße beschäftigte am 17. und
18. Märzdie Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechts-
krankheiten auf ihrem zweiten Kongreß zu München.
Er-
bitterte Kämpfe um Bordelle und Bordellstraßen, um die Kasernierung und
Nichtkasernierung der Prostitution, wurden auf diesem Kongresse durchgefochten,
und die Anhänger der Kasernierung sind unterlegen. Kampfesmüde dürfte
mancher der streitbaren Herren zum Zeus, der seine lustigen Liebesaffären so
geschickt in Wolken zu hüllen verstand, gefleht haben, er möchte doch, da alle
menschliche Kunst versagte, um das ganze feile Liebesleben Nebel ziehen, damit
keine Mädchen= und Jünglingsaugen mehr in die Geheimnisse des großstädtischen
Dirnenkaufs dringen könnten.

Die „Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“
hat durch eine Umfrage an die Magistrate und Polizeiverwaltungen deutscher
Groß= und Mittelstädte festgestellt, welche Maßnahmen von seiten dieser Ver-
waltungen zur Steuerung der eigenartigen sozialen Mißstände der Prostituierten-
wohnungen getroffen sind. Die Umfrage der „Deutschen Gesellschaft zur Be-
kämpfung der Geschlechtskrankheiten“ hat nun gezeigt, wie alle Großstädte mit
enormen hin= und herflutenden Bevölkerungsmassen an der Aufgabe scheiterten,
den Prostitutionsverkehr in einige Tempel der Liebe, in Bordelle zu weisen.

Man sollte doch meinen, daß es wenigstens der Stadt Hamburg, die
kühn schon vor Jahren den Bordellzwang proklamierte, geglückt wäre, das
schamlose Treiben der Bordelle den neugierigen Kinderaugen zu entrücken.
Keineswegs! Nach dem zweiten Jahresbericht des Hamburger Vereins zur
Hebung der öffentlichen Sittlichkeit für das Jahr 1892 wohnten in 13 unsitt-
lichen Straßen Hamburgs 459 schulpflichtige Kinder. Vielleicht äußert sich ein-
mal der Bundesratsvertreter der Stadt Hamburg, die ja bekanntlich keine Bor-

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[459/0027] P. Kampffmeyer: Feile Weiberstädte. [Abbildung] Feile Weiberstädte. Von Paul Kampffmeyer, Rehfelde. Leierkastenmusik am Mittag in einem Nachtfalterhause der Ackerstraße. Sie, die da ausruhen von den Umarmungen der käuflichen Liebe, ruft die gefühlvolle Weise des Orgeldrehers: „Nur einmal blüht im Jahr der Mai, nur einmal blühet die Liebe“ an die halbverschlossenen Fenster. Backfischaugen schauen auf die verlebten, geschminkten Gesichter der Veteraninnen der Prostitution, zahl- reiche kleine Schulmädchenhände besorgen emsig leichte und beschwerliche Hand- reichungen für die „Fräuleins“ der Liebetrutschen Zunft, und fünf= bis sechs- jährige Knaben hängen an den Hosenbeinen des „Onkelchens“ Berger. Ackerstraßen im Süden und Norden, im Osten und Westen Berlins, Acker- straßen in Königsberg i. Pr. und in Köln, in München und in Stettin! Das Problem der Ackerstraße beschäftigte am 17. und 18. Märzdie Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechts- krankheiten auf ihrem zweiten Kongreß zu München. Er- bitterte Kämpfe um Bordelle und Bordellstraßen, um die Kasernierung und Nichtkasernierung der Prostitution, wurden auf diesem Kongresse durchgefochten, und die Anhänger der Kasernierung sind unterlegen. Kampfesmüde dürfte mancher der streitbaren Herren zum Zeus, der seine lustigen Liebesaffären so geschickt in Wolken zu hüllen verstand, gefleht haben, er möchte doch, da alle menschliche Kunst versagte, um das ganze feile Liebesleben Nebel ziehen, damit keine Mädchen= und Jünglingsaugen mehr in die Geheimnisse des großstädtischen Dirnenkaufs dringen könnten. Die „Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“ hat durch eine Umfrage an die Magistrate und Polizeiverwaltungen deutscher Groß= und Mittelstädte festgestellt, welche Maßnahmen von seiten dieser Ver- waltungen zur Steuerung der eigenartigen sozialen Mißstände der Prostituierten- wohnungen getroffen sind. Die Umfrage der „Deutschen Gesellschaft zur Be- kämpfung der Geschlechtskrankheiten“ hat nun gezeigt, wie alle Großstädte mit enormen hin= und herflutenden Bevölkerungsmassen an der Aufgabe scheiterten, den Prostitutionsverkehr in einige Tempel der Liebe, in Bordelle zu weisen. Man sollte doch meinen, daß es wenigstens der Stadt Hamburg, die kühn schon vor Jahren den Bordellzwang proklamierte, geglückt wäre, das schamlose Treiben der Bordelle den neugierigen Kinderaugen zu entrücken. Keineswegs! Nach dem zweiten Jahresbericht des Hamburger Vereins zur Hebung der öffentlichen Sittlichkeit für das Jahr 1892 wohnten in 13 unsitt- lichen Straßen Hamburgs 459 schulpflichtige Kinder. Vielleicht äußert sich ein- mal der Bundesratsvertreter der Stadt Hamburg, die ja bekanntlich keine Bor-

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 10. Berlin-Charlottenburg, 23. März 1905, S. 459. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0110_1905/27>, abgerufen am 26.09.2024.