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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 10. Berlin-Charlottenburg, 23. März 1905.

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J. Schaumberger: Die große Liebe.

Hebbel teilt mit allen echten Propheten das Geschick, daß er seinen Zeit-
genossen unverständlich geblieben ist und erst eine spätere, die heutige Gene-
ration ihn zu begreifen beginnt. Daß er altehrwürdige Erfindungen des
Urgroßvaters nicht mehr wie ein Naturgesetz respektieren wollte, daß er der
Kunst den Mut einflößte, sich auf Bedenkliches und Bedenklichstes einzulassen,
um ein Zusammenbrechen der Kirchen und Häuser, das Brechen der Weltzu-
stände zu illustrieren, das weiß erst eine Generation zu würdigen, die von aller
Dogmatik, der kirchlichen, wie der politischen, der philosophischen wie der
ästhetischen, sich abgewandt hat, um der prophetischen Ader in der eigenen Seele
nachzugehen, und statt auszulegen, was andere Propheten gesagt haben, eigene
prophetische Worte zu reden. --

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Die große Liebe.
Eine Komödie in sieben Briefen von Julius Schaumberger, Charlottenburg.

Liebste Freundin!

"... Du meinst, ich würde es doch eines Tages bereuen, wenn ich
meinem Manne die Treue brechen würde. Bereuen? Willst Du damit sagen.
daß mich früher oder später Gewissensbisse quälen würden? Nein, mein
Schatz! Da kenn ich mich doch selbst ein bißchen besser. Kannst Du mir vor-
werfen, daß ich jemals etwas getan oder unterlassen habe, ohne ganz bestimmt
zu wissen, warum ich es tat oder unterließ? Gewiß nicht! Und darum
werde ich nie etwas in Deinem Sinne zu bereuen haben. Reue, Gewissens-
bisse kann man doch nur einer Sache wegen empfinden, in die man sich ohne
Ueberlegung hineingestürzt hat. Das tue ich nun aber prinzipiell nicht, und
so kann mein Gewissen mir niemals Vorwürfe machen. Wäre es aber trotz-
dem so töricht, so würde ich ihm einfach entgegnen: Bitte, sei still, du hast
gar nichts zu sagen. Jch weiß, warum ich es getan habe, und so weiß ich
auch, daß ich nicht anders handeln konnte. Jch bin keine leichtsinnige
Frau, die sich von ihren Gefühlen beherrschen läßt. Jch pflege meine Gefühle
zu kontrollieren, und wenn ich ihnen nachgebe, wenn ich mich von ihnen zu einer
Handlung bewegen lasse, so weiß ich, wie gesagt, ganz genau, aus welchen
Gründen und mit welchem Rechte ich es tue.

Ebensowenig aber, wie ich jemals wegen eines Schrittes, zu dem ich mich
berechtigt fühlte, Reue oder Gewissensbisse empfinden kann, ebensowenig werde
ich jemals den Entschluß zu bereuen haben, den ich heute gefaßt habe. Jch habe

J. Schaumberger: Die große Liebe.

Hebbel teilt mit allen echten Propheten das Geschick, daß er seinen Zeit-
genossen unverständlich geblieben ist und erst eine spätere, die heutige Gene-
ration ihn zu begreifen beginnt. Daß er altehrwürdige Erfindungen des
Urgroßvaters nicht mehr wie ein Naturgesetz respektieren wollte, daß er der
Kunst den Mut einflößte, sich auf Bedenkliches und Bedenklichstes einzulassen,
um ein Zusammenbrechen der Kirchen und Häuser, das Brechen der Weltzu-
stände zu illustrieren, das weiß erst eine Generation zu würdigen, die von aller
Dogmatik, der kirchlichen, wie der politischen, der philosophischen wie der
ästhetischen, sich abgewandt hat, um der prophetischen Ader in der eigenen Seele
nachzugehen, und statt auszulegen, was andere Propheten gesagt haben, eigene
prophetische Worte zu reden. —

[Abbildung]
Die große Liebe.
Eine Komödie in sieben Briefen von Julius Schaumberger, Charlottenburg.

Liebste Freundin!

„... Du meinst, ich würde es doch eines Tages bereuen, wenn ich
meinem Manne die Treue brechen würde. Bereuen? Willst Du damit sagen.
daß mich früher oder später Gewissensbisse quälen würden? Nein, mein
Schatz! Da kenn ich mich doch selbst ein bißchen besser. Kannst Du mir vor-
werfen, daß ich jemals etwas getan oder unterlassen habe, ohne ganz bestimmt
zu wissen, warum ich es tat oder unterließ? Gewiß nicht! Und darum
werde ich nie etwas in Deinem Sinne zu bereuen haben. Reue, Gewissens-
bisse kann man doch nur einer Sache wegen empfinden, in die man sich ohne
Ueberlegung hineingestürzt hat. Das tue ich nun aber prinzipiell nicht, und
so kann mein Gewissen mir niemals Vorwürfe machen. Wäre es aber trotz-
dem so töricht, so würde ich ihm einfach entgegnen: Bitte, sei still, du hast
gar nichts zu sagen. Jch weiß, warum ich es getan habe, und so weiß ich
auch, daß ich nicht anders handeln konnte. Jch bin keine leichtsinnige
Frau, die sich von ihren Gefühlen beherrschen läßt. Jch pflege meine Gefühle
zu kontrollieren, und wenn ich ihnen nachgebe, wenn ich mich von ihnen zu einer
Handlung bewegen lasse, so weiß ich, wie gesagt, ganz genau, aus welchen
Gründen und mit welchem Rechte ich es tue.

Ebensowenig aber, wie ich jemals wegen eines Schrittes, zu dem ich mich
berechtigt fühlte, Reue oder Gewissensbisse empfinden kann, ebensowenig werde
ich jemals den Entschluß zu bereuen haben, den ich heute gefaßt habe. Jch habe

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[468/0036] J. Schaumberger: Die große Liebe. Hebbel teilt mit allen echten Propheten das Geschick, daß er seinen Zeit- genossen unverständlich geblieben ist und erst eine spätere, die heutige Gene- ration ihn zu begreifen beginnt. Daß er altehrwürdige Erfindungen des Urgroßvaters nicht mehr wie ein Naturgesetz respektieren wollte, daß er der Kunst den Mut einflößte, sich auf Bedenkliches und Bedenklichstes einzulassen, um ein Zusammenbrechen der Kirchen und Häuser, das Brechen der Weltzu- stände zu illustrieren, das weiß erst eine Generation zu würdigen, die von aller Dogmatik, der kirchlichen, wie der politischen, der philosophischen wie der ästhetischen, sich abgewandt hat, um der prophetischen Ader in der eigenen Seele nachzugehen, und statt auszulegen, was andere Propheten gesagt haben, eigene prophetische Worte zu reden. — [Abbildung] Die große Liebe. Eine Komödie in sieben Briefen von Julius Schaumberger, Charlottenburg. Berlin, den 17. September 1904. Liebste Freundin! „... Du meinst, ich würde es doch eines Tages bereuen, wenn ich meinem Manne die Treue brechen würde. Bereuen? Willst Du damit sagen. daß mich früher oder später Gewissensbisse quälen würden? Nein, mein Schatz! Da kenn ich mich doch selbst ein bißchen besser. Kannst Du mir vor- werfen, daß ich jemals etwas getan oder unterlassen habe, ohne ganz bestimmt zu wissen, warum ich es tat oder unterließ? Gewiß nicht! Und darum werde ich nie etwas in Deinem Sinne zu bereuen haben. Reue, Gewissens- bisse kann man doch nur einer Sache wegen empfinden, in die man sich ohne Ueberlegung hineingestürzt hat. Das tue ich nun aber prinzipiell nicht, und so kann mein Gewissen mir niemals Vorwürfe machen. Wäre es aber trotz- dem so töricht, so würde ich ihm einfach entgegnen: Bitte, sei still, du hast gar nichts zu sagen. Jch weiß, warum ich es getan habe, und so weiß ich auch, daß ich nicht anders handeln konnte. Jch bin keine leichtsinnige Frau, die sich von ihren Gefühlen beherrschen läßt. Jch pflege meine Gefühle zu kontrollieren, und wenn ich ihnen nachgebe, wenn ich mich von ihnen zu einer Handlung bewegen lasse, so weiß ich, wie gesagt, ganz genau, aus welchen Gründen und mit welchem Rechte ich es tue. Ebensowenig aber, wie ich jemals wegen eines Schrittes, zu dem ich mich berechtigt fühlte, Reue oder Gewissensbisse empfinden kann, ebensowenig werde ich jemals den Entschluß zu bereuen haben, den ich heute gefaßt habe. Jch habe

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 10. Berlin-Charlottenburg, 23. März 1905, S. 468. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0110_1905/36>, abgerufen am 26.09.2024.