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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 10. Berlin-Charlottenburg, 23. März 1905.

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Allostis: Die heilige Scham.
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Die heilige Scham.
Von Allostis.

Mein Lieb, Du schämst Dich Deiner Nacktheit, doch Deines Schamgefühles
schämst Du Dich nicht? Wenn Dein Leib in der Kraft der Schönheit voll Hoheit
strahlt, da Du aus stillem Waldsee dem Bade entsteigst, was errötest Du, wenn
ein Wanderer Dich erblickt, der harmlos seines Wegs schreitet? Und errötest,
als fühltest Du Dich erniedrigt? Bist Du in Deiner Nacktheit nicht edeler
als in dem Kleid, das Menschenhand gefertigt und für jeden fertigt, der
es haben mag? Eher begreife ich, daß ein König oder Hoher Priester sich der
Erniedrigung schämt, wenn eines Sterblichen Auge ihn sieht in seiner Nacktheit,
ohne das Kleid, dem er die Hoheit dankt. Und da keiner Hoheit Verlust
die Scham Dir in die Wangen treibt, so erniedrigt die Scham Dich, und Du
schämst Dich ihrer nicht? O der armen Toren, die den Makel der Niedrigkeit und
Schwachheit preisen! Und tausendmal Weh über die armen Heldenjungfrauen,
die in den Tod gegangen, weil eines Mannes Blick des keuschen Leibes Blöße
gesehen oder -- schlimmer noch -- um nicht durch einen Blick entweiht zu
werden. Denn Opfer gab es, die lieber einer Krankheit Todeskeim entstehen
ließen, als daß sie sich dem Arzt enthüllten. Sie starben für einen Gott der
Schwachheit. Ein Mittel, das unter vielen für einen Zweck bestimmt, war
ihnen heiliger als der Zweck, und da sie den nicht kannten, so wußten sie
auch nicht, ob er sprach oder schwieg. --

Verschieden sind die Menschen, so wollte es die Natur, daß des Lebens
höchste Wonne und des Lebens tiefster Jammer möglich sei. Nicht Scham
des Leibes kennt die Gleichheit, noch Ehre, -- die Scham des Geistes, --
nicht die Moral, die heute Laster nennt, was sie gestern Tugend hieß, und
als Tugend preist, was ihr gestern ein Laster war. Da der Mensch aufhörte,
unter Tieren ein Wesen gleich den anderen seiner Gattung zu sein, da fing die
Scham an und die Ehre und der Moralen wechselnde Reihe.

Denn wo Verschiedenheit war und noch nicht die Erkenntnis der Ver-
schiedenheit und ihres heiligen Zweckes, wo aus der Masse die Einzelnen sich
sonderten, daß alle vorwärts kommen sollten, und noch nicht die Erkenntnis
der Sonderung reif war und ihres heiligen Zweckes, da mußte die fehlende
Erkenntnis ersetzt werden durch den Schein der Gleichheit, damit das Wesen
der Verschiedenheit sich still entfalten konnte. Gewaltig ist die Masse in ihrer
Trägheit und um so stärker, je gleicher die einzelnen Teile sind. Wehe
denen, die da wagten, anders sein zu wollen, als der Masse gut schien! Denn
wohl fühlte sie sich in ihrer Gleichheit, und wo sie merkte, daß Verschieden-

Allostis: Die heilige Scham.
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Die heilige Scham.
Von Allostis.

Mein Lieb, Du schämst Dich Deiner Nacktheit, doch Deines Schamgefühles
schämst Du Dich nicht? Wenn Dein Leib in der Kraft der Schönheit voll Hoheit
strahlt, da Du aus stillem Waldsee dem Bade entsteigst, was errötest Du, wenn
ein Wanderer Dich erblickt, der harmlos seines Wegs schreitet? Und errötest,
als fühltest Du Dich erniedrigt? Bist Du in Deiner Nacktheit nicht edeler
als in dem Kleid, das Menschenhand gefertigt und für jeden fertigt, der
es haben mag? Eher begreife ich, daß ein König oder Hoher Priester sich der
Erniedrigung schämt, wenn eines Sterblichen Auge ihn sieht in seiner Nacktheit,
ohne das Kleid, dem er die Hoheit dankt. Und da keiner Hoheit Verlust
die Scham Dir in die Wangen treibt, so erniedrigt die Scham Dich, und Du
schämst Dich ihrer nicht? O der armen Toren, die den Makel der Niedrigkeit und
Schwachheit preisen! Und tausendmal Weh über die armen Heldenjungfrauen,
die in den Tod gegangen, weil eines Mannes Blick des keuschen Leibes Blöße
gesehen oder — schlimmer noch — um nicht durch einen Blick entweiht zu
werden. Denn Opfer gab es, die lieber einer Krankheit Todeskeim entstehen
ließen, als daß sie sich dem Arzt enthüllten. Sie starben für einen Gott der
Schwachheit. Ein Mittel, das unter vielen für einen Zweck bestimmt, war
ihnen heiliger als der Zweck, und da sie den nicht kannten, so wußten sie
auch nicht, ob er sprach oder schwieg. —

Verschieden sind die Menschen, so wollte es die Natur, daß des Lebens
höchste Wonne und des Lebens tiefster Jammer möglich sei. Nicht Scham
des Leibes kennt die Gleichheit, noch Ehre, — die Scham des Geistes, —
nicht die Moral, die heute Laster nennt, was sie gestern Tugend hieß, und
als Tugend preist, was ihr gestern ein Laster war. Da der Mensch aufhörte,
unter Tieren ein Wesen gleich den anderen seiner Gattung zu sein, da fing die
Scham an und die Ehre und der Moralen wechselnde Reihe.

Denn wo Verschiedenheit war und noch nicht die Erkenntnis der Ver-
schiedenheit und ihres heiligen Zweckes, wo aus der Masse die Einzelnen sich
sonderten, daß alle vorwärts kommen sollten, und noch nicht die Erkenntnis
der Sonderung reif war und ihres heiligen Zweckes, da mußte die fehlende
Erkenntnis ersetzt werden durch den Schein der Gleichheit, damit das Wesen
der Verschiedenheit sich still entfalten konnte. Gewaltig ist die Masse in ihrer
Trägheit und um so stärker, je gleicher die einzelnen Teile sind. Wehe
denen, die da wagten, anders sein zu wollen, als der Masse gut schien! Denn
wohl fühlte sie sich in ihrer Gleichheit, und wo sie merkte, daß Verschieden-

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[475/0043] Allostis: Die heilige Scham. [Abbildung] Die heilige Scham. Von Allostis. Mein Lieb, Du schämst Dich Deiner Nacktheit, doch Deines Schamgefühles schämst Du Dich nicht? Wenn Dein Leib in der Kraft der Schönheit voll Hoheit strahlt, da Du aus stillem Waldsee dem Bade entsteigst, was errötest Du, wenn ein Wanderer Dich erblickt, der harmlos seines Wegs schreitet? Und errötest, als fühltest Du Dich erniedrigt? Bist Du in Deiner Nacktheit nicht edeler als in dem Kleid, das Menschenhand gefertigt und für jeden fertigt, der es haben mag? Eher begreife ich, daß ein König oder Hoher Priester sich der Erniedrigung schämt, wenn eines Sterblichen Auge ihn sieht in seiner Nacktheit, ohne das Kleid, dem er die Hoheit dankt. Und da keiner Hoheit Verlust die Scham Dir in die Wangen treibt, so erniedrigt die Scham Dich, und Du schämst Dich ihrer nicht? O der armen Toren, die den Makel der Niedrigkeit und Schwachheit preisen! Und tausendmal Weh über die armen Heldenjungfrauen, die in den Tod gegangen, weil eines Mannes Blick des keuschen Leibes Blöße gesehen oder — schlimmer noch — um nicht durch einen Blick entweiht zu werden. Denn Opfer gab es, die lieber einer Krankheit Todeskeim entstehen ließen, als daß sie sich dem Arzt enthüllten. Sie starben für einen Gott der Schwachheit. Ein Mittel, das unter vielen für einen Zweck bestimmt, war ihnen heiliger als der Zweck, und da sie den nicht kannten, so wußten sie auch nicht, ob er sprach oder schwieg. — Verschieden sind die Menschen, so wollte es die Natur, daß des Lebens höchste Wonne und des Lebens tiefster Jammer möglich sei. Nicht Scham des Leibes kennt die Gleichheit, noch Ehre, — die Scham des Geistes, — nicht die Moral, die heute Laster nennt, was sie gestern Tugend hieß, und als Tugend preist, was ihr gestern ein Laster war. Da der Mensch aufhörte, unter Tieren ein Wesen gleich den anderen seiner Gattung zu sein, da fing die Scham an und die Ehre und der Moralen wechselnde Reihe. Denn wo Verschiedenheit war und noch nicht die Erkenntnis der Ver- schiedenheit und ihres heiligen Zweckes, wo aus der Masse die Einzelnen sich sonderten, daß alle vorwärts kommen sollten, und noch nicht die Erkenntnis der Sonderung reif war und ihres heiligen Zweckes, da mußte die fehlende Erkenntnis ersetzt werden durch den Schein der Gleichheit, damit das Wesen der Verschiedenheit sich still entfalten konnte. Gewaltig ist die Masse in ihrer Trägheit und um so stärker, je gleicher die einzelnen Teile sind. Wehe denen, die da wagten, anders sein zu wollen, als der Masse gut schien! Denn wohl fühlte sie sich in ihrer Gleichheit, und wo sie merkte, daß Verschieden-

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 10. Berlin-Charlottenburg, 23. März 1905, S. 475. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0110_1905/43>, abgerufen am 27.11.2024.