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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 10. Berlin-Charlottenburg, 23. März 1905.

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Ed. Bernstein: Russenkurs und russische Kurse.
seine Gläubiger nicht fallen lassen mögen, weil sein Sturz sie leicht mithinein-
reißen kann. Man schätzt den Gesamtbetrag der im Ausland untergebrachten
russischen Anleihen auf mindestens rund zehn Milliarden Franken. Der Löwen-
anteil davon entfällt auf Frankreich, der nächste Gläubiger ist, wie gesagt,
Deutschland. Hüben und drüben haben zahllose Jnvestierer alle Grade größere
oder kleine Teile ihres Vermögens in russischen Fonds angelegt. Eine plötz-
liche starke Entwertung dieser kann für viele davon den Ruin, den Zusammen-
bruch ihrer Geschäfte bedeuten, und so den großen Geldmarkt in empfindliche
Mitleidenschaft ziehen. So gebot die Rücksicht auf eigene heimische Jnter-
essen, den Staat, dem man so viel geliehen, auch so lange wie möglich
nicht bankrott werden zu lassen. Es ging da wieder einmal nach dem Wort
von der bösen Tat, die fortzeugend wieder Böses gebären muß. Erst half
man Rußland, indem man die eigenen Landsleute ermutigte, oder vielmehr direkt
dazu verleitete, dem so bedenklichen Kunden Geld zu leihen; und nun möchte
man Rußland halten, damit die eigenen Leute ihr Geld nicht verlieren.

Aber Rußland finanziell halten, heißt in diesem Moment, das wahn-
witzig verbrecherische Treiben seiner Regierung unterstützen, das immer neue
Legionen von Menschen in Ostasien einem grauenvollen Tode unter unsäglichen
Martern entgegentreibt -- zwecklos entgegentreibt, da an einen Sieg der russi-
schen Waffen gar nicht mehr zu denken ist -- heißt zugleich damit die unaus-
bleibliche finanzielle Deroute noch zu verschärfen. Unter gewissen Umständen
mag es eine weise Finanzpolitik sein, dafür zu sorgen, daß ein Preisfall sich
möglichst langsam vollzieht. Hier aber heißt, die Krisis aufhalten, die Krisis
verschlimmern. Je länger der Krach hinausgeschoben wird, um so verderblicher
wird er sein, um so gewaltiger der Preissturz. Denn kommen wird er, kommen
muß er, daran ist kein Zweifel möglich.

Wovon soll Rußland seine halbe Milliarde Zinsen bezahlen, wenn seine
Volkswirtschaft, der immer mehr Lebenssäfte entzogen werden, ermattet dar-
niederliegt, alle Mittel und Kräfte für den Krieg aufgewendet werden, alles
Vertrauen, alle Unternehmungslust im Lande geschwunden sind? Schon jetzt
hört man von Zwangsanleihen bei den Banken, d. h. einem großen Zwangs-
aderlaß an dem schon entkräfteten Wirtschaftskörper der Nation. Und das
in demselben Moment, wo die russische Regierung eine Schwindelnotiz in die
Welt hinaustelegraphieren läßt von den enormen Goldbeständen, die in ihren
Schatzkammern liegen und die Summe des umlaufenden Papiergeldes um
hunderte von Millionen übersteigen. Wer soll damit getäuscht werden? Als
ob die Kenner der Dinge nicht wüßten, welche viel, viel größere Zahlungs-
verpflichtungen diesen Beständen gegenüberstehen. Wenn die Staatskassenscheine
so glänzend gedeckt sind, warum steht die russische Valuta 215 für 324 Nominal-
wert, d. h. nur 60 Prozent?!

An diesem Valutapreis erkennt man die wahre Natur der russischen
Finanzlage, und dabei wird auch er noch von den interessierten Finanzhäusern
künstlich gehalten. Es ist ein offenes Geheimnis, daß in Berlin alle kleineren
Beträge von russischen Werten, die an den Markt kommen, vom Concern der
russischen Emissionsfirmen ( Mendelssohn und Genossen ) angekauft werden,
bei größeren Beträgen aber jeder mögliche Druck ausgeübt wird, die Verkaufs-
lustigen zum Abstehen von ihrem Vorhaben zu bewegen. Bei der Macht der

Ed. Bernstein: Russenkurs und russische Kurse.
seine Gläubiger nicht fallen lassen mögen, weil sein Sturz sie leicht mithinein-
reißen kann. Man schätzt den Gesamtbetrag der im Ausland untergebrachten
russischen Anleihen auf mindestens rund zehn Milliarden Franken. Der Löwen-
anteil davon entfällt auf Frankreich, der nächste Gläubiger ist, wie gesagt,
Deutschland. Hüben und drüben haben zahllose Jnvestierer alle Grade größere
oder kleine Teile ihres Vermögens in russischen Fonds angelegt. Eine plötz-
liche starke Entwertung dieser kann für viele davon den Ruin, den Zusammen-
bruch ihrer Geschäfte bedeuten, und so den großen Geldmarkt in empfindliche
Mitleidenschaft ziehen. So gebot die Rücksicht auf eigene heimische Jnter-
essen, den Staat, dem man so viel geliehen, auch so lange wie möglich
nicht bankrott werden zu lassen. Es ging da wieder einmal nach dem Wort
von der bösen Tat, die fortzeugend wieder Böses gebären muß. Erst half
man Rußland, indem man die eigenen Landsleute ermutigte, oder vielmehr direkt
dazu verleitete, dem so bedenklichen Kunden Geld zu leihen; und nun möchte
man Rußland halten, damit die eigenen Leute ihr Geld nicht verlieren.

Aber Rußland finanziell halten, heißt in diesem Moment, das wahn-
witzig verbrecherische Treiben seiner Regierung unterstützen, das immer neue
Legionen von Menschen in Ostasien einem grauenvollen Tode unter unsäglichen
Martern entgegentreibt — zwecklos entgegentreibt, da an einen Sieg der russi-
schen Waffen gar nicht mehr zu denken ist — heißt zugleich damit die unaus-
bleibliche finanzielle Deroute noch zu verschärfen. Unter gewissen Umständen
mag es eine weise Finanzpolitik sein, dafür zu sorgen, daß ein Preisfall sich
möglichst langsam vollzieht. Hier aber heißt, die Krisis aufhalten, die Krisis
verschlimmern. Je länger der Krach hinausgeschoben wird, um so verderblicher
wird er sein, um so gewaltiger der Preissturz. Denn kommen wird er, kommen
muß er, daran ist kein Zweifel möglich.

Wovon soll Rußland seine halbe Milliarde Zinsen bezahlen, wenn seine
Volkswirtschaft, der immer mehr Lebenssäfte entzogen werden, ermattet dar-
niederliegt, alle Mittel und Kräfte für den Krieg aufgewendet werden, alles
Vertrauen, alle Unternehmungslust im Lande geschwunden sind? Schon jetzt
hört man von Zwangsanleihen bei den Banken, d. h. einem großen Zwangs-
aderlaß an dem schon entkräfteten Wirtschaftskörper der Nation. Und das
in demselben Moment, wo die russische Regierung eine Schwindelnotiz in die
Welt hinaustelegraphieren läßt von den enormen Goldbeständen, die in ihren
Schatzkammern liegen und die Summe des umlaufenden Papiergeldes um
hunderte von Millionen übersteigen. Wer soll damit getäuscht werden? Als
ob die Kenner der Dinge nicht wüßten, welche viel, viel größere Zahlungs-
verpflichtungen diesen Beständen gegenüberstehen. Wenn die Staatskassenscheine
so glänzend gedeckt sind, warum steht die russische Valuta 215 für 324 Nominal-
wert, d. h. nur 60 Prozent?!

An diesem Valutapreis erkennt man die wahre Natur der russischen
Finanzlage, und dabei wird auch er noch von den interessierten Finanzhäusern
künstlich gehalten. Es ist ein offenes Geheimnis, daß in Berlin alle kleineren
Beträge von russischen Werten, die an den Markt kommen, vom Concern der
russischen Emissionsfirmen ( Mendelssohn und Genossen ) angekauft werden,
bei größeren Beträgen aber jeder mögliche Druck ausgeübt wird, die Verkaufs-
lustigen zum Abstehen von ihrem Vorhaben zu bewegen. Bei der Macht der

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 10. Berlin-Charlottenburg, 23. März 1905, S. 441. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0110_1905/9>, abgerufen am 31.10.2024.