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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 13. Berlin-Charlottenburg, 13. April 1905.

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W. Holzamer: Joachim in Paris.
dung. Er stellt das dar, was ein Momentanes ist, was Ohr und Herz als
den Gehalt der Musik aufnehmen, er gibt ihm in seiner Kunstausübung und
Persönlichkeit eine feste Begrifflichkeit gewissermaßen, er ist die Verlebendi-
gung dieses Begriffes. Er ist das Konkretium für diese Abstraktion Musik,
Beethovenmusik in einem gehaltvollen und fast dogmatischen Sinne.

Denn man sagt Joachim und meint Beethoven. Das ist das Hohe und
Höchste dieser Einswerdung, der Substantialität dieses Künstlers und der drei
anderen Künstler, die sich mit ihm vereinigt und in seine subtilsten Jnten-
sionen eingelebt haben. Die eine Geistigkeit erfüllt sie alle, in der einen
Geistigkeit werden sie eins. Jn ihr geht das Nachschaffen über Ehrfurcht und
Gewissenhaftigkeit, Hingabe und feinste Subtilität hinaus, in ihr triumphiert
die Genialität lebendigen Erlebens, erlebender Jnnerlichkeit, die Tiefe und
Fülle hat. Alles, was an das Virtuose nur erinnern könnte, selbst die Freude
des momentanen Fundes und die hingebende Lust am überraschenden Gelingen,
in der sich der Künstler so leicht hinreißen läßt, es naht sich nicht einmal.
Die Zügelung des gedanklichen Durchdringens ersetzt es. Nicht in einzelnen
Schächten wird geschürft, sondern des Reichtums volle Schätze werden gehoben.
Nicht die zu schöner Ueberraschung oft sich hingebende Ausschöpfung an das
Stärkste bestrickt, sondern Begreifen des Wesentlichen und Darstellung des
Ganzen ist das unverrückbare Ziel. Reichste Detailarbeit, aber kein sich selbst
Beleuchten im Detail, kein Verlieren darin, kein Jnteressantmachen, sondern
Ausbau zur Größe und Offenbarung der Größe, so daß man selbst einem
Genius gegenüber wie Beethoven eine Kongenialität fühlt, die in ihrer wir-
kenden Unpersönlichkeit wie Sachlichkeit erscheint und kühl von höchsten Höhen
weht. Eine unglaubliche Anstrengung an das Fassungsvermögen des Hörers
und seine Ausdauer, so daß fast immer ein Rest der Unzulänglichkeit der
Genußkraft bleibt, ein Rest, der freilich von vornherein in der überragenden
Fülle Beethovens begründet ist.

Es genügt vielleicht kein Superlativ, die Arbeit Joachims für Beethoven,
die Bedeutung seines Quartettes für die Beethovenquartette im besonderen, zu
bezeichnen. Und doch gibt es einen Positiv, der stärker als jeder Superlativ
ist: Beethoven selbst!

Beethoven war im Saale. Mit dem ersten Bogenstrich trat er in den
Saal. Er erlebte sich selbst. Jn den drei großen Epochen seines Schaffens
ward er an jedem Abend dargeboten, der ersten der Anlehnung und Fortführung
des Haydnwerkes, der zweiten seines völligen Eigen= und Reifseins, der dritten
seiner gigantesken Größe, die nach neuen Füllen und Formen und Allheiten und
Umfassungen ausschaut. So hatte der Meister das Programm für jeden Abend
gerichtet.

Und Beethoven war unter uns im Saale. Da er mit sich allein war,
lebten wir mit ihm. Seine Einsamkeiten lebten wir, da er in die Gründe
und Abgründe seiner Seele stieg, und die Schmerzen lebten wir, da er mit
dem Leben, mit dem Dasein und den Menschen und mit sich selber rang. An
uns selber fühlten wir es, wie er an den Ketten seiner Unfreiheit riß, ein
Wunder, der die Wunden des Leidens der Menschheit trägt, ein Kranker, der
die Schwächen und Unvereinbarkeiten der Jrdischkeit leidet. Einer, der zur
Einheit und Allheit strebt, und die Einsamkeit, -- nicht ohne Grollen, -- findet;

W. Holzamer: Joachim in Paris.
dung. Er stellt das dar, was ein Momentanes ist, was Ohr und Herz als
den Gehalt der Musik aufnehmen, er gibt ihm in seiner Kunstausübung und
Persönlichkeit eine feste Begrifflichkeit gewissermaßen, er ist die Verlebendi-
gung dieses Begriffes. Er ist das Konkretium für diese Abstraktion Musik,
Beethovenmusik in einem gehaltvollen und fast dogmatischen Sinne.

Denn man sagt Joachim und meint Beethoven. Das ist das Hohe und
Höchste dieser Einswerdung, der Substantialität dieses Künstlers und der drei
anderen Künstler, die sich mit ihm vereinigt und in seine subtilsten Jnten-
sionen eingelebt haben. Die eine Geistigkeit erfüllt sie alle, in der einen
Geistigkeit werden sie eins. Jn ihr geht das Nachschaffen über Ehrfurcht und
Gewissenhaftigkeit, Hingabe und feinste Subtilität hinaus, in ihr triumphiert
die Genialität lebendigen Erlebens, erlebender Jnnerlichkeit, die Tiefe und
Fülle hat. Alles, was an das Virtuose nur erinnern könnte, selbst die Freude
des momentanen Fundes und die hingebende Lust am überraschenden Gelingen,
in der sich der Künstler so leicht hinreißen läßt, es naht sich nicht einmal.
Die Zügelung des gedanklichen Durchdringens ersetzt es. Nicht in einzelnen
Schächten wird geschürft, sondern des Reichtums volle Schätze werden gehoben.
Nicht die zu schöner Ueberraschung oft sich hingebende Ausschöpfung an das
Stärkste bestrickt, sondern Begreifen des Wesentlichen und Darstellung des
Ganzen ist das unverrückbare Ziel. Reichste Detailarbeit, aber kein sich selbst
Beleuchten im Detail, kein Verlieren darin, kein Jnteressantmachen, sondern
Ausbau zur Größe und Offenbarung der Größe, so daß man selbst einem
Genius gegenüber wie Beethoven eine Kongenialität fühlt, die in ihrer wir-
kenden Unpersönlichkeit wie Sachlichkeit erscheint und kühl von höchsten Höhen
weht. Eine unglaubliche Anstrengung an das Fassungsvermögen des Hörers
und seine Ausdauer, so daß fast immer ein Rest der Unzulänglichkeit der
Genußkraft bleibt, ein Rest, der freilich von vornherein in der überragenden
Fülle Beethovens begründet ist.

Es genügt vielleicht kein Superlativ, die Arbeit Joachims für Beethoven,
die Bedeutung seines Quartettes für die Beethovenquartette im besonderen, zu
bezeichnen. Und doch gibt es einen Positiv, der stärker als jeder Superlativ
ist: Beethoven selbst!

Beethoven war im Saale. Mit dem ersten Bogenstrich trat er in den
Saal. Er erlebte sich selbst. Jn den drei großen Epochen seines Schaffens
ward er an jedem Abend dargeboten, der ersten der Anlehnung und Fortführung
des Haydnwerkes, der zweiten seines völligen Eigen= und Reifseins, der dritten
seiner gigantesken Größe, die nach neuen Füllen und Formen und Allheiten und
Umfassungen ausschaut. So hatte der Meister das Programm für jeden Abend
gerichtet.

Und Beethoven war unter uns im Saale. Da er mit sich allein war,
lebten wir mit ihm. Seine Einsamkeiten lebten wir, da er in die Gründe
und Abgründe seiner Seele stieg, und die Schmerzen lebten wir, da er mit
dem Leben, mit dem Dasein und den Menschen und mit sich selber rang. An
uns selber fühlten wir es, wie er an den Ketten seiner Unfreiheit riß, ein
Wunder, der die Wunden des Leidens der Menschheit trägt, ein Kranker, der
die Schwächen und Unvereinbarkeiten der Jrdischkeit leidet. Einer, der zur
Einheit und Allheit strebt, und die Einsamkeit, — nicht ohne Grollen, — findet;

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[632/0040] W. Holzamer: Joachim in Paris. dung. Er stellt das dar, was ein Momentanes ist, was Ohr und Herz als den Gehalt der Musik aufnehmen, er gibt ihm in seiner Kunstausübung und Persönlichkeit eine feste Begrifflichkeit gewissermaßen, er ist die Verlebendi- gung dieses Begriffes. Er ist das Konkretium für diese Abstraktion Musik, Beethovenmusik in einem gehaltvollen und fast dogmatischen Sinne. Denn man sagt Joachim und meint Beethoven. Das ist das Hohe und Höchste dieser Einswerdung, der Substantialität dieses Künstlers und der drei anderen Künstler, die sich mit ihm vereinigt und in seine subtilsten Jnten- sionen eingelebt haben. Die eine Geistigkeit erfüllt sie alle, in der einen Geistigkeit werden sie eins. Jn ihr geht das Nachschaffen über Ehrfurcht und Gewissenhaftigkeit, Hingabe und feinste Subtilität hinaus, in ihr triumphiert die Genialität lebendigen Erlebens, erlebender Jnnerlichkeit, die Tiefe und Fülle hat. Alles, was an das Virtuose nur erinnern könnte, selbst die Freude des momentanen Fundes und die hingebende Lust am überraschenden Gelingen, in der sich der Künstler so leicht hinreißen läßt, es naht sich nicht einmal. Die Zügelung des gedanklichen Durchdringens ersetzt es. Nicht in einzelnen Schächten wird geschürft, sondern des Reichtums volle Schätze werden gehoben. Nicht die zu schöner Ueberraschung oft sich hingebende Ausschöpfung an das Stärkste bestrickt, sondern Begreifen des Wesentlichen und Darstellung des Ganzen ist das unverrückbare Ziel. Reichste Detailarbeit, aber kein sich selbst Beleuchten im Detail, kein Verlieren darin, kein Jnteressantmachen, sondern Ausbau zur Größe und Offenbarung der Größe, so daß man selbst einem Genius gegenüber wie Beethoven eine Kongenialität fühlt, die in ihrer wir- kenden Unpersönlichkeit wie Sachlichkeit erscheint und kühl von höchsten Höhen weht. Eine unglaubliche Anstrengung an das Fassungsvermögen des Hörers und seine Ausdauer, so daß fast immer ein Rest der Unzulänglichkeit der Genußkraft bleibt, ein Rest, der freilich von vornherein in der überragenden Fülle Beethovens begründet ist. Es genügt vielleicht kein Superlativ, die Arbeit Joachims für Beethoven, die Bedeutung seines Quartettes für die Beethovenquartette im besonderen, zu bezeichnen. Und doch gibt es einen Positiv, der stärker als jeder Superlativ ist: Beethoven selbst! Beethoven war im Saale. Mit dem ersten Bogenstrich trat er in den Saal. Er erlebte sich selbst. Jn den drei großen Epochen seines Schaffens ward er an jedem Abend dargeboten, der ersten der Anlehnung und Fortführung des Haydnwerkes, der zweiten seines völligen Eigen= und Reifseins, der dritten seiner gigantesken Größe, die nach neuen Füllen und Formen und Allheiten und Umfassungen ausschaut. So hatte der Meister das Programm für jeden Abend gerichtet. Und Beethoven war unter uns im Saale. Da er mit sich allein war, lebten wir mit ihm. Seine Einsamkeiten lebten wir, da er in die Gründe und Abgründe seiner Seele stieg, und die Schmerzen lebten wir, da er mit dem Leben, mit dem Dasein und den Menschen und mit sich selber rang. An uns selber fühlten wir es, wie er an den Ketten seiner Unfreiheit riß, ein Wunder, der die Wunden des Leidens der Menschheit trägt, ein Kranker, der die Schwächen und Unvereinbarkeiten der Jrdischkeit leidet. Einer, der zur Einheit und Allheit strebt, und die Einsamkeit, — nicht ohne Grollen, — findet;

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 13. Berlin-Charlottenburg, 13. April 1905, S. 632. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0113_1905/40>, abgerufen am 23.11.2024.