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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 13. Berlin-Charlottenburg, 13. April 1905.

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W. Holzamer: Joachim in Paris.
ein Starker, der seine Schwächen und ihre Wirklichkeiten zertritt, und dem sie
mit Hydraköpfen wieder unter den Füßen wachsen. Ein Faust des Strebens
und Selbsterkennens, dem der Mephisto der Verbitterung nicht selten zur Seite
schreitet, und ein Zeus des Schaffens. Ein Zeus in Zürnen und Leiden der
Schöpferischkeit, ein Zeus in der Urgewalt seiner Schöpfung.

Von Jrdischkeiten her singt er in der lydischen Tonart den Dankgesang
eines Genesenden zu der Gottheit, die er über sich fühlt. Wirklichkeiten unter
sich, klebend an ihnen, steigt er zu den höheren Mächten auf, in Leid und Dank
die irdischen Gebundenheiten zu überwinden und Versöhnung von ihnen zu er-
flehen.

Beethoven war unter uns, und er erlebte sich selbst. Und er erlebte seine
letzte Befreiung, um die er so bitter gerungen hatte: er fühlte, daß er nicht mehr
allein war, er fühlte, daß er verstanden war. Er hatte sich über Welt und
Menschen hinausgeschwungen, aber er hatte die Gewaltsamkeit und den
Schmerz, das Schicksalsvolle dieses Hinauf= und Aufschwingens nicht ganz
überwunden. Nun kehrte er friedlich und friedefroh zu allen wieder und zum
All zurück. Es war einer gewesen, der ihn belauscht hatte, da er mit sich allein
gewesen war, und dieser eine hatte ihn belauschend begriffen. Nun sprach er
sein Belauschen und Begreifen in den vier Stimmen, die hier zu einander
standen, aus, bald in ergänzendem Einssein, bald in erweckendem, neckendem
Geplauder, bald in heimlichem Beklagen und wehem Weinen, bald in Begüten
und Betrösten, bald in Grollen und Poltern, bald in Anlehnung zu einander,
bald in Abkehrung voneinander, jede der vier in ihrer Eigenart und je nach
ihrer Eigenart, und doch nur eine Stimme, die Stimme einer Seele.
Vier Stimmen, die aus ihr tönen und in ihrem Einklang ihren Auf= und Aus-
klang finden zur Unendlichkeit.

Joachim. -- -- Von seiner letzten Endlichkeit fühlte sich Beethoven be-
freit. Jm unendlichen Einssein mit der Welt und mit den Menschen, die ihn
verstanden in dem einen Verstehenden, fühlte er sich von seiner Einsamkeit be-
freit. Und so stieg er sinnend hinauf auf seinen Götterthron und blickte zur
Erde mit den tiefen Düsterkeiten seines Menschseins in den Blicken, und doch
auch mit den sonnigen Gütigkeiten seiner göttlichen Befreiung, die aus ihnen
strahlten.

*

Es war mit dem geregelten Respektsgefühl eines Kulturvolkes, das sich
allem Großen und Bedeutenden gegenüber zu verhalten und zu enthusiasmieren
weiß, sich in seinem sicheren Verhalten und geleiteten Jnstinkten selbst be-
schmeichelnd, daß man sich in Paris die Joachimkonzerte anhörte. Man geht
hier nicht gerne zu Altären, man zieht ihnen das joyeuse Leben vor. Die
Musik ist eine Molligkeit, in deren umplätschernde Wärmen man sich zu
illusionären Trunkenheiten auflöst. Joachim=Beethoven hat diese Leichtig-
keit nicht. Er stellt eine Aufgabe von genußreicher Schwere. Und alles, was
der Franzose sonst an der Musik liebt, dem sie eben das vornehmste "Spiel"
ist, das hat dieses Spiel nicht, das so himmelhoch über allen Spielen steht: das
Blendende, Blitzende, Blinkende, das Süße und Süßelnde, das, was er mit
Temperament und Mouvement so gern bezeichnet. Jnnerlich muß sich der
Franzose eigentlich gegen dieses Spiel wehren, das so wenig seinem Charakter

W. Holzamer: Joachim in Paris.
ein Starker, der seine Schwächen und ihre Wirklichkeiten zertritt, und dem sie
mit Hydraköpfen wieder unter den Füßen wachsen. Ein Faust des Strebens
und Selbsterkennens, dem der Mephisto der Verbitterung nicht selten zur Seite
schreitet, und ein Zeus des Schaffens. Ein Zeus in Zürnen und Leiden der
Schöpferischkeit, ein Zeus in der Urgewalt seiner Schöpfung.

Von Jrdischkeiten her singt er in der lydischen Tonart den Dankgesang
eines Genesenden zu der Gottheit, die er über sich fühlt. Wirklichkeiten unter
sich, klebend an ihnen, steigt er zu den höheren Mächten auf, in Leid und Dank
die irdischen Gebundenheiten zu überwinden und Versöhnung von ihnen zu er-
flehen.

Beethoven war unter uns, und er erlebte sich selbst. Und er erlebte seine
letzte Befreiung, um die er so bitter gerungen hatte: er fühlte, daß er nicht mehr
allein war, er fühlte, daß er verstanden war. Er hatte sich über Welt und
Menschen hinausgeschwungen, aber er hatte die Gewaltsamkeit und den
Schmerz, das Schicksalsvolle dieses Hinauf= und Aufschwingens nicht ganz
überwunden. Nun kehrte er friedlich und friedefroh zu allen wieder und zum
All zurück. Es war einer gewesen, der ihn belauscht hatte, da er mit sich allein
gewesen war, und dieser eine hatte ihn belauschend begriffen. Nun sprach er
sein Belauschen und Begreifen in den vier Stimmen, die hier zu einander
standen, aus, bald in ergänzendem Einssein, bald in erweckendem, neckendem
Geplauder, bald in heimlichem Beklagen und wehem Weinen, bald in Begüten
und Betrösten, bald in Grollen und Poltern, bald in Anlehnung zu einander,
bald in Abkehrung voneinander, jede der vier in ihrer Eigenart und je nach
ihrer Eigenart, und doch nur eine Stimme, die Stimme einer Seele.
Vier Stimmen, die aus ihr tönen und in ihrem Einklang ihren Auf= und Aus-
klang finden zur Unendlichkeit.

Joachim. — — Von seiner letzten Endlichkeit fühlte sich Beethoven be-
freit. Jm unendlichen Einssein mit der Welt und mit den Menschen, die ihn
verstanden in dem einen Verstehenden, fühlte er sich von seiner Einsamkeit be-
freit. Und so stieg er sinnend hinauf auf seinen Götterthron und blickte zur
Erde mit den tiefen Düsterkeiten seines Menschseins in den Blicken, und doch
auch mit den sonnigen Gütigkeiten seiner göttlichen Befreiung, die aus ihnen
strahlten.

*

Es war mit dem geregelten Respektsgefühl eines Kulturvolkes, das sich
allem Großen und Bedeutenden gegenüber zu verhalten und zu enthusiasmieren
weiß, sich in seinem sicheren Verhalten und geleiteten Jnstinkten selbst be-
schmeichelnd, daß man sich in Paris die Joachimkonzerte anhörte. Man geht
hier nicht gerne zu Altären, man zieht ihnen das joyeuse Leben vor. Die
Musik ist eine Molligkeit, in deren umplätschernde Wärmen man sich zu
illusionären Trunkenheiten auflöst. Joachim=Beethoven hat diese Leichtig-
keit nicht. Er stellt eine Aufgabe von genußreicher Schwere. Und alles, was
der Franzose sonst an der Musik liebt, dem sie eben das vornehmste „Spiel“
ist, das hat dieses Spiel nicht, das so himmelhoch über allen Spielen steht: das
Blendende, Blitzende, Blinkende, das Süße und Süßelnde, das, was er mit
Tempérament und Mouvement so gern bezeichnet. Jnnerlich muß sich der
Franzose eigentlich gegen dieses Spiel wehren, das so wenig seinem Charakter

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[633/0041] W. Holzamer: Joachim in Paris. ein Starker, der seine Schwächen und ihre Wirklichkeiten zertritt, und dem sie mit Hydraköpfen wieder unter den Füßen wachsen. Ein Faust des Strebens und Selbsterkennens, dem der Mephisto der Verbitterung nicht selten zur Seite schreitet, und ein Zeus des Schaffens. Ein Zeus in Zürnen und Leiden der Schöpferischkeit, ein Zeus in der Urgewalt seiner Schöpfung. Von Jrdischkeiten her singt er in der lydischen Tonart den Dankgesang eines Genesenden zu der Gottheit, die er über sich fühlt. Wirklichkeiten unter sich, klebend an ihnen, steigt er zu den höheren Mächten auf, in Leid und Dank die irdischen Gebundenheiten zu überwinden und Versöhnung von ihnen zu er- flehen. Beethoven war unter uns, und er erlebte sich selbst. Und er erlebte seine letzte Befreiung, um die er so bitter gerungen hatte: er fühlte, daß er nicht mehr allein war, er fühlte, daß er verstanden war. Er hatte sich über Welt und Menschen hinausgeschwungen, aber er hatte die Gewaltsamkeit und den Schmerz, das Schicksalsvolle dieses Hinauf= und Aufschwingens nicht ganz überwunden. Nun kehrte er friedlich und friedefroh zu allen wieder und zum All zurück. Es war einer gewesen, der ihn belauscht hatte, da er mit sich allein gewesen war, und dieser eine hatte ihn belauschend begriffen. Nun sprach er sein Belauschen und Begreifen in den vier Stimmen, die hier zu einander standen, aus, bald in ergänzendem Einssein, bald in erweckendem, neckendem Geplauder, bald in heimlichem Beklagen und wehem Weinen, bald in Begüten und Betrösten, bald in Grollen und Poltern, bald in Anlehnung zu einander, bald in Abkehrung voneinander, jede der vier in ihrer Eigenart und je nach ihrer Eigenart, und doch nur eine Stimme, die Stimme einer Seele. Vier Stimmen, die aus ihr tönen und in ihrem Einklang ihren Auf= und Aus- klang finden zur Unendlichkeit. Joachim. — — Von seiner letzten Endlichkeit fühlte sich Beethoven be- freit. Jm unendlichen Einssein mit der Welt und mit den Menschen, die ihn verstanden in dem einen Verstehenden, fühlte er sich von seiner Einsamkeit be- freit. Und so stieg er sinnend hinauf auf seinen Götterthron und blickte zur Erde mit den tiefen Düsterkeiten seines Menschseins in den Blicken, und doch auch mit den sonnigen Gütigkeiten seiner göttlichen Befreiung, die aus ihnen strahlten. * Es war mit dem geregelten Respektsgefühl eines Kulturvolkes, das sich allem Großen und Bedeutenden gegenüber zu verhalten und zu enthusiasmieren weiß, sich in seinem sicheren Verhalten und geleiteten Jnstinkten selbst be- schmeichelnd, daß man sich in Paris die Joachimkonzerte anhörte. Man geht hier nicht gerne zu Altären, man zieht ihnen das joyeuse Leben vor. Die Musik ist eine Molligkeit, in deren umplätschernde Wärmen man sich zu illusionären Trunkenheiten auflöst. Joachim=Beethoven hat diese Leichtig- keit nicht. Er stellt eine Aufgabe von genußreicher Schwere. Und alles, was der Franzose sonst an der Musik liebt, dem sie eben das vornehmste „Spiel“ ist, das hat dieses Spiel nicht, das so himmelhoch über allen Spielen steht: das Blendende, Blitzende, Blinkende, das Süße und Süßelnde, das, was er mit Tempérament und Mouvement so gern bezeichnet. Jnnerlich muß sich der Franzose eigentlich gegen dieses Spiel wehren, das so wenig seinem Charakter

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 13. Berlin-Charlottenburg, 13. April 1905, S. 633. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0113_1905/41>, abgerufen am 21.11.2024.