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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 13. Berlin-Charlottenburg, 13. April 1905.

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Ernest Schur: Meunier.
sich dieses schlaue Krämervolk als das Volk, das allen überlegen ist, das herrschen
und Vorteil ziehen will -- die Naivetät aller solcher jungen Völker, deren kos-
mische Anschauung noch im Werden ist. Sie sehen nur sich und sind allen
anderen gegenüber immer angriffs= und verteidigungsbereit. Wenn es ihnen
schlecht geht, schlagen sie ein Lamento, als müßte die Welt untergehen. Und
steigt das Gefühl des Wohlergehens, so triumphieren sie, als hätte die Ge-
rechtigkeit der Welt obgesiegt. Ueberall guckt noch die Ungetrübtheit einer
wildenhaften Anschauung hindurch, die sich selbst als Gotterwählten, jeden
Außenstehenden als Barbaren betrachtet. Rudimente dieser Anschauung finden
wir noch heute im Leben und Verhalten der Staaten und in den ebenso primitiv
gebliebenen Anschauungen einzelner, ungebildeter Kreise.

Man muß das Klima, die Luft dieses Landes immer in Betracht ziehen, das
umgeben von dem blauen Meere in entzückender Schönheit daliegt. Dann erst,
wenn man begreift, wie die warme Luft um die Glieder dieser Statuen spielt,
wie das strahlendste Licht diesen Stein aus seiner Starrheit auflöst und ihn
an dem allgemeinen Leben teilnehmen läßt, seine harten Konturen weich macht
und ihn so selbstverständlich einfügt in die Umgebung, dann weiß man, welches
Glück des Daseins in diesen Statuen, in diesen Schöpfungen vergangener
Geister beschlossen liegt. Jetzt stehen sie traurig in unseren öden, staubigen,
gelehrten Kammern, die wir Museen nennen, und frieren, und wir sehen nur
die Reste und Ueberbleibsel ihrer unvergänglichen Schönheit, nur das Tat-
sächliche, das Körperliche, der Stein ist uns überliefert. Es fehlt aber das Licht,
die Luft, die Sonne und jenes allseitige Strahlen, das selbst aus den das Land
umspielenden herrlichen, blauen Wogen aufstieg. Hier war ihre Stätte. Hier,
unter sonnigem Himmel, in blauer Luft, wuchs sich der tote Stein organisch aus
zu lebendigen Werken, die in der Erscheinungswelt ebenso vollendet und selbst-
verständlich dastehen, wie nur irgend eine andere Naturnotwendigkeit.

III.

Diese ganze, unwiederbringlich verlorene Welt, die in Jtalien eine
Renaissance hervorbrachte, die wir dann wie hypnotisiert immerfort anstarrten
und darüber unser eigenes Werden vergaßen und unser eigenes Leben gering
schätzten, so daß wir in Kulturdingen eigentlich immer nach rückwärts schauten
und unsere Augen auf dem Rücken trugen, einer kulturellen Torheit, der selbst
unsere freiesten Geister, Goethe und Schiller, zum Opfer fielen und damit
diesen Nonsens heiligten, der nun fortwucherte wie ein fressender Schaden --
diese ganze Welt der Antike ist nun endgültig überwunden.

Darin besteht Meuniers Tat.

Denn Meunier zeigte, daß in unserer Zeit dieselben Kräfte schlummern,
die der antiken Welt ihre Größe gaben. Was den Künstlern, die der Antike
zum Opfer fielen, trotz aller Begeisterung und Fülle das Mark ihres Schaffens
ausdörrte, das war das tiefliegende Gefühl, das unausweichbare Bewußtsein,
daß diese Welt gewesen und nie wieder sein werde. Da hätte ihr Weg beginnen
müssen. Hier hätten sie einsetzen müssen. Sie erschauten aber nur die Form
und die formale Vollendung, sie gingen nur der Technik, dem Aesthetischen
nach, sie spürten nicht klar, daß diese Schönheit gewachsen war aus einem
vollen, ganzen Leben. Nirgends sonst zeigt sich die Ohnmacht der Technik, die
Schwäche der Aesthetik so deutlich, als vor diesem Richterstuhl der Zeit, vor

Ernest Schur: Meunier.
sich dieses schlaue Krämervolk als das Volk, das allen überlegen ist, das herrschen
und Vorteil ziehen will — die Naivetät aller solcher jungen Völker, deren kos-
mische Anschauung noch im Werden ist. Sie sehen nur sich und sind allen
anderen gegenüber immer angriffs= und verteidigungsbereit. Wenn es ihnen
schlecht geht, schlagen sie ein Lamento, als müßte die Welt untergehen. Und
steigt das Gefühl des Wohlergehens, so triumphieren sie, als hätte die Ge-
rechtigkeit der Welt obgesiegt. Ueberall guckt noch die Ungetrübtheit einer
wildenhaften Anschauung hindurch, die sich selbst als Gotterwählten, jeden
Außenstehenden als Barbaren betrachtet. Rudimente dieser Anschauung finden
wir noch heute im Leben und Verhalten der Staaten und in den ebenso primitiv
gebliebenen Anschauungen einzelner, ungebildeter Kreise.

Man muß das Klima, die Luft dieses Landes immer in Betracht ziehen, das
umgeben von dem blauen Meere in entzückender Schönheit daliegt. Dann erst,
wenn man begreift, wie die warme Luft um die Glieder dieser Statuen spielt,
wie das strahlendste Licht diesen Stein aus seiner Starrheit auflöst und ihn
an dem allgemeinen Leben teilnehmen läßt, seine harten Konturen weich macht
und ihn so selbstverständlich einfügt in die Umgebung, dann weiß man, welches
Glück des Daseins in diesen Statuen, in diesen Schöpfungen vergangener
Geister beschlossen liegt. Jetzt stehen sie traurig in unseren öden, staubigen,
gelehrten Kammern, die wir Museen nennen, und frieren, und wir sehen nur
die Reste und Ueberbleibsel ihrer unvergänglichen Schönheit, nur das Tat-
sächliche, das Körperliche, der Stein ist uns überliefert. Es fehlt aber das Licht,
die Luft, die Sonne und jenes allseitige Strahlen, das selbst aus den das Land
umspielenden herrlichen, blauen Wogen aufstieg. Hier war ihre Stätte. Hier,
unter sonnigem Himmel, in blauer Luft, wuchs sich der tote Stein organisch aus
zu lebendigen Werken, die in der Erscheinungswelt ebenso vollendet und selbst-
verständlich dastehen, wie nur irgend eine andere Naturnotwendigkeit.

III.

Diese ganze, unwiederbringlich verlorene Welt, die in Jtalien eine
Renaissance hervorbrachte, die wir dann wie hypnotisiert immerfort anstarrten
und darüber unser eigenes Werden vergaßen und unser eigenes Leben gering
schätzten, so daß wir in Kulturdingen eigentlich immer nach rückwärts schauten
und unsere Augen auf dem Rücken trugen, einer kulturellen Torheit, der selbst
unsere freiesten Geister, Goethe und Schiller, zum Opfer fielen und damit
diesen Nonsens heiligten, der nun fortwucherte wie ein fressender Schaden —
diese ganze Welt der Antike ist nun endgültig überwunden.

Darin besteht Meuniers Tat.

Denn Meunier zeigte, daß in unserer Zeit dieselben Kräfte schlummern,
die der antiken Welt ihre Größe gaben. Was den Künstlern, die der Antike
zum Opfer fielen, trotz aller Begeisterung und Fülle das Mark ihres Schaffens
ausdörrte, das war das tiefliegende Gefühl, das unausweichbare Bewußtsein,
daß diese Welt gewesen und nie wieder sein werde. Da hätte ihr Weg beginnen
müssen. Hier hätten sie einsetzen müssen. Sie erschauten aber nur die Form
und die formale Vollendung, sie gingen nur der Technik, dem Aesthetischen
nach, sie spürten nicht klar, daß diese Schönheit gewachsen war aus einem
vollen, ganzen Leben. Nirgends sonst zeigt sich die Ohnmacht der Technik, die
Schwäche der Aesthetik so deutlich, als vor diesem Richterstuhl der Zeit, vor

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[636/0044] Ernest Schur: Meunier. sich dieses schlaue Krämervolk als das Volk, das allen überlegen ist, das herrschen und Vorteil ziehen will — die Naivetät aller solcher jungen Völker, deren kos- mische Anschauung noch im Werden ist. Sie sehen nur sich und sind allen anderen gegenüber immer angriffs= und verteidigungsbereit. Wenn es ihnen schlecht geht, schlagen sie ein Lamento, als müßte die Welt untergehen. Und steigt das Gefühl des Wohlergehens, so triumphieren sie, als hätte die Ge- rechtigkeit der Welt obgesiegt. Ueberall guckt noch die Ungetrübtheit einer wildenhaften Anschauung hindurch, die sich selbst als Gotterwählten, jeden Außenstehenden als Barbaren betrachtet. Rudimente dieser Anschauung finden wir noch heute im Leben und Verhalten der Staaten und in den ebenso primitiv gebliebenen Anschauungen einzelner, ungebildeter Kreise. Man muß das Klima, die Luft dieses Landes immer in Betracht ziehen, das umgeben von dem blauen Meere in entzückender Schönheit daliegt. Dann erst, wenn man begreift, wie die warme Luft um die Glieder dieser Statuen spielt, wie das strahlendste Licht diesen Stein aus seiner Starrheit auflöst und ihn an dem allgemeinen Leben teilnehmen läßt, seine harten Konturen weich macht und ihn so selbstverständlich einfügt in die Umgebung, dann weiß man, welches Glück des Daseins in diesen Statuen, in diesen Schöpfungen vergangener Geister beschlossen liegt. Jetzt stehen sie traurig in unseren öden, staubigen, gelehrten Kammern, die wir Museen nennen, und frieren, und wir sehen nur die Reste und Ueberbleibsel ihrer unvergänglichen Schönheit, nur das Tat- sächliche, das Körperliche, der Stein ist uns überliefert. Es fehlt aber das Licht, die Luft, die Sonne und jenes allseitige Strahlen, das selbst aus den das Land umspielenden herrlichen, blauen Wogen aufstieg. Hier war ihre Stätte. Hier, unter sonnigem Himmel, in blauer Luft, wuchs sich der tote Stein organisch aus zu lebendigen Werken, die in der Erscheinungswelt ebenso vollendet und selbst- verständlich dastehen, wie nur irgend eine andere Naturnotwendigkeit. III. Diese ganze, unwiederbringlich verlorene Welt, die in Jtalien eine Renaissance hervorbrachte, die wir dann wie hypnotisiert immerfort anstarrten und darüber unser eigenes Werden vergaßen und unser eigenes Leben gering schätzten, so daß wir in Kulturdingen eigentlich immer nach rückwärts schauten und unsere Augen auf dem Rücken trugen, einer kulturellen Torheit, der selbst unsere freiesten Geister, Goethe und Schiller, zum Opfer fielen und damit diesen Nonsens heiligten, der nun fortwucherte wie ein fressender Schaden — diese ganze Welt der Antike ist nun endgültig überwunden. Darin besteht Meuniers Tat. Denn Meunier zeigte, daß in unserer Zeit dieselben Kräfte schlummern, die der antiken Welt ihre Größe gaben. Was den Künstlern, die der Antike zum Opfer fielen, trotz aller Begeisterung und Fülle das Mark ihres Schaffens ausdörrte, das war das tiefliegende Gefühl, das unausweichbare Bewußtsein, daß diese Welt gewesen und nie wieder sein werde. Da hätte ihr Weg beginnen müssen. Hier hätten sie einsetzen müssen. Sie erschauten aber nur die Form und die formale Vollendung, sie gingen nur der Technik, dem Aesthetischen nach, sie spürten nicht klar, daß diese Schönheit gewachsen war aus einem vollen, ganzen Leben. Nirgends sonst zeigt sich die Ohnmacht der Technik, die Schwäche der Aesthetik so deutlich, als vor diesem Richterstuhl der Zeit, vor

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 13. Berlin-Charlottenburg, 13. April 1905, S. 636. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0113_1905/44>, abgerufen am 31.10.2024.