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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 13. Berlin-Charlottenburg, 13. April 1905.

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Ernest Schur: Meunier.
dem immer wieder die Künstler verbluteten. Was sie hätten lernen müssen,
das war die Lehre: Geht von uns, seht euer Gegenwartsleben mit offenen
Augen an, seid stolz auf euer Dasein und lebt des Glaubens, in euch liege
der Mittelpunkt der Welt. Oder wenn ihr das nicht mehr könnt, so laßt
das Gefühl eures Mitleidens, das Bewußtsein eurer umfassenden Weltliebe so
stark und kräftig werden, daß diese Macht euch Mittel wird, zu schaffen und zu
glauben. Jrgendwie müßt ihr Zeugnis ablegen. Denn das ist ja das tiefste
Geheimnis unserer Kunst: daß sie Zeugnis ablegt!

Aber die Künstler waren schwach und kleingläubig und suchten nach
Schablonen, nach denen sie, Vergangenheitsgeist imitierend, arbeiteten. Das
war der Fluch. Sie lebten nicht vom lebendigen Leben, sondern sie lebten von
der Vergangenheit. Man lehrte sie nicht: sei selbst, man führte sie in Akademien
und predigte ihnen Mittel des Arbeitens, Regeln der Technik, Vorbilder und
Aesthetik vor.

Diesen tiefsten Sinn aller Kunst erfaßte Meunier. Er preßte sich mit
klammernden Organen an das intensivste, ureigenste Leben der Gegenwart,
das so noch nie war. Aus diesem brodelnden, gärenden Kessel durcheinander-
zischender Strömungen holte er die Form heraus. Er tastete nicht, er suchte
nicht, kleinliche Effekte zu bannen. Er, der sich ganz abwandte von der Antike,
er hat als einer der Wenigen wirklich von ihr gelernt. Sie, die sich den tausend
bittenden Verehrern lachend und herb versagte, schenkte sich freiwillig dem, der
von ihr ging. Die Antike schien tot. Für ihn blühte sie wieder auf zum Leben.
Denn sie spürte, daß dieser ringende Mensch und Künstler die tiefste Liebe zu
ihr im Herzen trug, die aber nie über seine Lippen kam. Ja, so heiß liebte
Meunier die Antike, daß das Bewußtsein, nie Gleiches schaffen zu können,
ihm Meißel und Stift aus den Händen nahm. Ohnmächtiger Trotz ließ ihn
verzweifeln.

Als aber die Stunde der Erkenntnis gekommen war, kam Meunier, dieser
fremde Wanderer, nach langer Abwesenheit wieder in das Land seiner Jugend
zurück. Und hier erwartete ihn die Treue.

Die Antike sank vor ihm in die Kniee. Sie hauchte ihren letzten Seufzer
in seinen Armen aus. Der Egoismus des Griechentums lernte den Altruismus
der modernen Seele lieben und diese Entwicklung als das Größere anerkennen.
Sterbend schenkte ihm die Göttin noch die Kinder dieser liebenden, sehnsüchtigen
Vereinigung. Es sind Gestalten, die als Werke Meuniers vor uns stehen. Sie
sind antik und doch modern, modern und doch antik. Von beider Geiste haben
sie Merkmale.

Sie sind unser. Und dennoch zeigen sie jene ernste Erhabenheit und edle
Größe, die bis dahin "griechisch" genannt wurde. Sie haben einen langen Weg
zurückgelegt. Vom Altertum bis zur modernen Zeit. Durch die Jahrhunderte
hindurch gingen sie gleichmütig ihren Weg unerkannt -- und warteten, bis die
Stunde schlug, wo in einem Künstlergeist diese Jdee der Wiedergeburt in einem
neuen Werden auftauchte und zur Tat drängte.

So starb die Antike in demselben Augenblick, als sie ihre schönste und echteste
Auferstehung feiern durfte. Alles ist ein Wandel und die Ueberwindung nur
ein Uebergehen zu reineren Formen, die relativ einander gleich sind.



Ernest Schur: Meunier.
dem immer wieder die Künstler verbluteten. Was sie hätten lernen müssen,
das war die Lehre: Geht von uns, seht euer Gegenwartsleben mit offenen
Augen an, seid stolz auf euer Dasein und lebt des Glaubens, in euch liege
der Mittelpunkt der Welt. Oder wenn ihr das nicht mehr könnt, so laßt
das Gefühl eures Mitleidens, das Bewußtsein eurer umfassenden Weltliebe so
stark und kräftig werden, daß diese Macht euch Mittel wird, zu schaffen und zu
glauben. Jrgendwie müßt ihr Zeugnis ablegen. Denn das ist ja das tiefste
Geheimnis unserer Kunst: daß sie Zeugnis ablegt!

Aber die Künstler waren schwach und kleingläubig und suchten nach
Schablonen, nach denen sie, Vergangenheitsgeist imitierend, arbeiteten. Das
war der Fluch. Sie lebten nicht vom lebendigen Leben, sondern sie lebten von
der Vergangenheit. Man lehrte sie nicht: sei selbst, man führte sie in Akademien
und predigte ihnen Mittel des Arbeitens, Regeln der Technik, Vorbilder und
Aesthetik vor.

Diesen tiefsten Sinn aller Kunst erfaßte Meunier. Er preßte sich mit
klammernden Organen an das intensivste, ureigenste Leben der Gegenwart,
das so noch nie war. Aus diesem brodelnden, gärenden Kessel durcheinander-
zischender Strömungen holte er die Form heraus. Er tastete nicht, er suchte
nicht, kleinliche Effekte zu bannen. Er, der sich ganz abwandte von der Antike,
er hat als einer der Wenigen wirklich von ihr gelernt. Sie, die sich den tausend
bittenden Verehrern lachend und herb versagte, schenkte sich freiwillig dem, der
von ihr ging. Die Antike schien tot. Für ihn blühte sie wieder auf zum Leben.
Denn sie spürte, daß dieser ringende Mensch und Künstler die tiefste Liebe zu
ihr im Herzen trug, die aber nie über seine Lippen kam. Ja, so heiß liebte
Meunier die Antike, daß das Bewußtsein, nie Gleiches schaffen zu können,
ihm Meißel und Stift aus den Händen nahm. Ohnmächtiger Trotz ließ ihn
verzweifeln.

Als aber die Stunde der Erkenntnis gekommen war, kam Meunier, dieser
fremde Wanderer, nach langer Abwesenheit wieder in das Land seiner Jugend
zurück. Und hier erwartete ihn die Treue.

Die Antike sank vor ihm in die Kniee. Sie hauchte ihren letzten Seufzer
in seinen Armen aus. Der Egoismus des Griechentums lernte den Altruismus
der modernen Seele lieben und diese Entwicklung als das Größere anerkennen.
Sterbend schenkte ihm die Göttin noch die Kinder dieser liebenden, sehnsüchtigen
Vereinigung. Es sind Gestalten, die als Werke Meuniers vor uns stehen. Sie
sind antik und doch modern, modern und doch antik. Von beider Geiste haben
sie Merkmale.

Sie sind unser. Und dennoch zeigen sie jene ernste Erhabenheit und edle
Größe, die bis dahin „griechisch“ genannt wurde. Sie haben einen langen Weg
zurückgelegt. Vom Altertum bis zur modernen Zeit. Durch die Jahrhunderte
hindurch gingen sie gleichmütig ihren Weg unerkannt — und warteten, bis die
Stunde schlug, wo in einem Künstlergeist diese Jdee der Wiedergeburt in einem
neuen Werden auftauchte und zur Tat drängte.

So starb die Antike in demselben Augenblick, als sie ihre schönste und echteste
Auferstehung feiern durfte. Alles ist ein Wandel und die Ueberwindung nur
ein Uebergehen zu reineren Formen, die relativ einander gleich sind.



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[637/0045] Ernest Schur: Meunier. dem immer wieder die Künstler verbluteten. Was sie hätten lernen müssen, das war die Lehre: Geht von uns, seht euer Gegenwartsleben mit offenen Augen an, seid stolz auf euer Dasein und lebt des Glaubens, in euch liege der Mittelpunkt der Welt. Oder wenn ihr das nicht mehr könnt, so laßt das Gefühl eures Mitleidens, das Bewußtsein eurer umfassenden Weltliebe so stark und kräftig werden, daß diese Macht euch Mittel wird, zu schaffen und zu glauben. Jrgendwie müßt ihr Zeugnis ablegen. Denn das ist ja das tiefste Geheimnis unserer Kunst: daß sie Zeugnis ablegt! Aber die Künstler waren schwach und kleingläubig und suchten nach Schablonen, nach denen sie, Vergangenheitsgeist imitierend, arbeiteten. Das war der Fluch. Sie lebten nicht vom lebendigen Leben, sondern sie lebten von der Vergangenheit. Man lehrte sie nicht: sei selbst, man führte sie in Akademien und predigte ihnen Mittel des Arbeitens, Regeln der Technik, Vorbilder und Aesthetik vor. Diesen tiefsten Sinn aller Kunst erfaßte Meunier. Er preßte sich mit klammernden Organen an das intensivste, ureigenste Leben der Gegenwart, das so noch nie war. Aus diesem brodelnden, gärenden Kessel durcheinander- zischender Strömungen holte er die Form heraus. Er tastete nicht, er suchte nicht, kleinliche Effekte zu bannen. Er, der sich ganz abwandte von der Antike, er hat als einer der Wenigen wirklich von ihr gelernt. Sie, die sich den tausend bittenden Verehrern lachend und herb versagte, schenkte sich freiwillig dem, der von ihr ging. Die Antike schien tot. Für ihn blühte sie wieder auf zum Leben. Denn sie spürte, daß dieser ringende Mensch und Künstler die tiefste Liebe zu ihr im Herzen trug, die aber nie über seine Lippen kam. Ja, so heiß liebte Meunier die Antike, daß das Bewußtsein, nie Gleiches schaffen zu können, ihm Meißel und Stift aus den Händen nahm. Ohnmächtiger Trotz ließ ihn verzweifeln. Als aber die Stunde der Erkenntnis gekommen war, kam Meunier, dieser fremde Wanderer, nach langer Abwesenheit wieder in das Land seiner Jugend zurück. Und hier erwartete ihn die Treue. Die Antike sank vor ihm in die Kniee. Sie hauchte ihren letzten Seufzer in seinen Armen aus. Der Egoismus des Griechentums lernte den Altruismus der modernen Seele lieben und diese Entwicklung als das Größere anerkennen. Sterbend schenkte ihm die Göttin noch die Kinder dieser liebenden, sehnsüchtigen Vereinigung. Es sind Gestalten, die als Werke Meuniers vor uns stehen. Sie sind antik und doch modern, modern und doch antik. Von beider Geiste haben sie Merkmale. Sie sind unser. Und dennoch zeigen sie jene ernste Erhabenheit und edle Größe, die bis dahin „griechisch“ genannt wurde. Sie haben einen langen Weg zurückgelegt. Vom Altertum bis zur modernen Zeit. Durch die Jahrhunderte hindurch gingen sie gleichmütig ihren Weg unerkannt — und warteten, bis die Stunde schlug, wo in einem Künstlergeist diese Jdee der Wiedergeburt in einem neuen Werden auftauchte und zur Tat drängte. So starb die Antike in demselben Augenblick, als sie ihre schönste und echteste Auferstehung feiern durfte. Alles ist ein Wandel und die Ueberwindung nur ein Uebergehen zu reineren Formen, die relativ einander gleich sind.

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 13. Berlin-Charlottenburg, 13. April 1905, S. 637. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0113_1905/45>, abgerufen am 21.11.2024.