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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 13. Berlin-Charlottenburg, 13. April 1905.

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vorkommt. Warum soll sie also nur im ersten und nicht auch im zweiten
Falle strafbar, oder umgekehrt, warum nur im zweiten und nicht auch im
ersten Falle straflos sein? Medizinische Gründe können für die Unterscheidung
nicht ins Feld geführt werden, und ebenso wenig läßt sie sich mit Gründen
der Moral rechtfertigen. Es ist eine ganz willkürliche Unterscheidung, für die
sich bestenfalls nur der schlechteste aller Erklärungsgründe, das Herkommen,
geltend machen läßt. Und dabei kann man von diesem Herkommen nicht ein-
mal sagen, daß bei ihm Vernunft Unsinn geworden sei, denn der Unter-
scheidung lag gerade zu Anfang ein großes Stück Unvernunft und Ungerech-
tigkeit zu Grunde. Die Ausnahmestellung des weiblichen Geschlechts in diesem
Falle, wie beim ganzen Paragraphen, wurzelt in einer geringeren Wertung
des weiblichen Geschlechts gegenüber dem männlichen, und zwar des weiblichen
Jntellekts, wie des weiblichen Körpers. Nur wenn man von der Auffassung ausgeht,
daß der weibliche Körper weniger des Schutzes wert ist, wie der männliche, besteht
vor der Logik die Praxis, den ersteren freizugeben und den letzteren zu
schützen. Sofern hier ein Schutz der Körper erfordert wäre -- was die Me-
diziner allerdings hinsichtlich erwachsener Menschen bestreiten -- würde er doch
gerade dem Geschlecht gegenüber am ehesten am Platze sein, das sonst in
diesem Paragraphen als das minder selbständige, minder verantwortliche
behandelt wird.

Denn der Paragraph bedroht nicht bloß die vorbezeichnete Handlung mit
Strafe. Die Deutung, welche die heute geltende Rechtspraxis ihm gegeben
hat, trifft auch Handlungen, welche der sog. Tribadie entsprechen. Das heißt,
Männer werden bestraft, wenn sie im gleichgeschlechtlichen Verkehr Handlun-
gen verüben, die Frauen im gleichgeschlechtlichen Verkehr straflos begehen
dürfen. Hier tritt die Geringwertung des weiblichen Jntellekts deutlich zu
Tage. Die Frau wird kurzweg, wie das Kind, als sittlich -- es handelt
sich ja bei diesem Titel um die Sittlichkeit -- unverantwortlich oder schwach-
sinnig behandelt, was sowohl allem modernen Denken widerspricht, wie es vielen
andern Bestimmungen des Strafgesetzbuches ins Gesicht schlägt. Alle Gründe,
die dafür angeführt werden können, den homosexuell veranlagten Frauen mit
dem Strafgesetz vom Leibe zu bleiben, sprechen auch dafür, die homosexuellen
Männer mit ihm zu verschonen, und wo man beschränkende Normen ziehen
will, soll man sie für beide Geschlechter gleichmäßig ziehen -- gegebenenfalls
auch für den heterosexuellen Geschlechtsverkehr. Bis dies nicht geschieht, ist der
§ 175 ein Ausnahmeparagraph, und haben diejenigen, die auf Grund seiner
bestraft werden, ein Recht, sich als Opfer eines Ausnahmegesetzes zu be-
trachten.

Was der Paragraph sonst bedeutet, weiß jeder praktische Kriminalist. Der
Paragraph 175 ist ein Erpresserparagraph, Züchter von Erpressungen, wie kein
zweiter. Er ist es in so hohem Grade, daß diejenigen Organe der Rechts-
übung, die sein Walten unmittelbar kennen zu lernen Gelegenheit haben, daß
Polizei und vielfach auch Gerichte ihn in der Praxis am liebsten ignorieren
oder hinweginterpretieren, weil ihnen seine Ungerechtigkeit und Zweckwidrig-
keit sozusagen immer wieder handgreiflich vor Augen tritt, weil sie sehen, wie
viel mehr Unheil als möglichen Nutzen er stiftet. Sie sind möglichst streng
gegen den Erpresser und lassen dessen Opfer, auch wenn es im Sinne des
Paragraphen schuldig ist, wenn irgend möglich, laufen. Das macht ihrem

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vorkommt. Warum soll sie also nur im ersten und nicht auch im zweiten
Falle strafbar, oder umgekehrt, warum nur im zweiten und nicht auch im
ersten Falle straflos sein? Medizinische Gründe können für die Unterscheidung
nicht ins Feld geführt werden, und ebenso wenig läßt sie sich mit Gründen
der Moral rechtfertigen. Es ist eine ganz willkürliche Unterscheidung, für die
sich bestenfalls nur der schlechteste aller Erklärungsgründe, das Herkommen,
geltend machen läßt. Und dabei kann man von diesem Herkommen nicht ein-
mal sagen, daß bei ihm Vernunft Unsinn geworden sei, denn der Unter-
scheidung lag gerade zu Anfang ein großes Stück Unvernunft und Ungerech-
tigkeit zu Grunde. Die Ausnahmestellung des weiblichen Geschlechts in diesem
Falle, wie beim ganzen Paragraphen, wurzelt in einer geringeren Wertung
des weiblichen Geschlechts gegenüber dem männlichen, und zwar des weiblichen
Jntellekts, wie des weiblichen Körpers. Nur wenn man von der Auffassung ausgeht,
daß der weibliche Körper weniger des Schutzes wert ist, wie der männliche, besteht
vor der Logik die Praxis, den ersteren freizugeben und den letzteren zu
schützen. Sofern hier ein Schutz der Körper erfordert wäre — was die Me-
diziner allerdings hinsichtlich erwachsener Menschen bestreiten — würde er doch
gerade dem Geschlecht gegenüber am ehesten am Platze sein, das sonst in
diesem Paragraphen als das minder selbständige, minder verantwortliche
behandelt wird.

Denn der Paragraph bedroht nicht bloß die vorbezeichnete Handlung mit
Strafe. Die Deutung, welche die heute geltende Rechtspraxis ihm gegeben
hat, trifft auch Handlungen, welche der sog. Tribadie entsprechen. Das heißt,
Männer werden bestraft, wenn sie im gleichgeschlechtlichen Verkehr Handlun-
gen verüben, die Frauen im gleichgeschlechtlichen Verkehr straflos begehen
dürfen. Hier tritt die Geringwertung des weiblichen Jntellekts deutlich zu
Tage. Die Frau wird kurzweg, wie das Kind, als sittlich — es handelt
sich ja bei diesem Titel um die Sittlichkeit — unverantwortlich oder schwach-
sinnig behandelt, was sowohl allem modernen Denken widerspricht, wie es vielen
andern Bestimmungen des Strafgesetzbuches ins Gesicht schlägt. Alle Gründe,
die dafür angeführt werden können, den homosexuell veranlagten Frauen mit
dem Strafgesetz vom Leibe zu bleiben, sprechen auch dafür, die homosexuellen
Männer mit ihm zu verschonen, und wo man beschränkende Normen ziehen
will, soll man sie für beide Geschlechter gleichmäßig ziehen — gegebenenfalls
auch für den heterosexuellen Geschlechtsverkehr. Bis dies nicht geschieht, ist der
§ 175 ein Ausnahmeparagraph, und haben diejenigen, die auf Grund seiner
bestraft werden, ein Recht, sich als Opfer eines Ausnahmegesetzes zu be-
trachten.

Was der Paragraph sonst bedeutet, weiß jeder praktische Kriminalist. Der
Paragraph 175 ist ein Erpresserparagraph, Züchter von Erpressungen, wie kein
zweiter. Er ist es in so hohem Grade, daß diejenigen Organe der Rechts-
übung, die sein Walten unmittelbar kennen zu lernen Gelegenheit haben, daß
Polizei und vielfach auch Gerichte ihn in der Praxis am liebsten ignorieren
oder hinweginterpretieren, weil ihnen seine Ungerechtigkeit und Zweckwidrig-
keit sozusagen immer wieder handgreiflich vor Augen tritt, weil sie sehen, wie
viel mehr Unheil als möglichen Nutzen er stiftet. Sie sind möglichst streng
gegen den Erpresser und lassen dessen Opfer, auch wenn es im Sinne des
Paragraphen schuldig ist, wenn irgend möglich, laufen. Das macht ihrem

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 13. Berlin-Charlottenburg, 13. April 1905, S. 598. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0113_1905/6>, abgerufen am 03.12.2024.