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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 14. Berlin-Charlottenburg, 20. April 1905.

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W. Kulemann: Eine Schwenkung der deutschen Politik. 653

Diese Erwägungen machten es mir zunächst bedenklich, der Anregung zu
einer Erörterung der gegenwärtig die Welt bewegenden Marokkofrage zu
folgen. Aber so berechtigt sie sind, so hindern sie doch nur die Abgabe eines
apodiktischen, nicht die eines hypothetischen Urteils, d. h. sie gestatten immer-
hin, aus den Ereignissen, soweit sie bekannt geworden sind, auf die Ten-
denzen der auf deutscher Seite befolgten Politik gewisse Schlüsse zu ziehen,
und das bietet offenbar ein nicht geringes Jnteresse.

Die Tatsachen, um die es sich handelt, sind verhältnismäßig einfach.
Frankreich hat unter Zustimmung Spaniens mit England einen Vertrag
abgeschlossen, durch den es in Marokko dieselbe Vorherrschaft erlangt, wie
England sie in Aegypten besitzt, die also den Keim einer späteren völligen
Einverleibung als Kolonie oder Provinz in sich birgt und zunächst schon heute
jedenfalls eine wirtschaftliche Bevorzugung Frankreich vor anderen Staaten
zur Folge hat. Dieser Vertrag ist weder Deutschland, noch den übrigen
Mächten, die an der Marokkokonferenz von 1880 beteiligt waren, offiziell mit-
geteilt, vielmehr hat sich der Minister Delcass e darauf beschränkt, gelegentlich
einer Zusammenkunft dem deutschen Botschafter ganz allgemein gehaltene An-
deutungen zu geben. Andererseits ist aber auch das Abkommen nicht etwa geheim
gehalten. Nun stellt sich Deutschland auf den Standpunkt, dasselbe einfach zu
ignorieren, d. h. genau ebenso zu handeln, als wenn es nicht bestände. Das hat
nicht allein der Reichskanzler im Reichstage getan, indem er, ohne den Vertrag
ausdrücklich zu erwähnen, doch mittelbar seine Wirksamkeit in Abrede stellte,
sondern auch der Kaiser hat in Tanger in einer Ansprache, deren Wortlaut
freilich noch nicht sicher feststeht, deren Jnhalt aber in den Hauptpunkten
unbestritten ist, erklärt, daß Marokko ein unabhängiger Staat und alle Na-
tionen in ihm gleichberechtigt seien. Das hat eine große Aufregung in Frank-
reich und eine noch größere in England hervorgerufen; ja die englischen
Blätter bieten nicht allein für den Fall, daß Frankreich geneigt sein sollte, die
Waffen zu ergreifen, den Beistand Englands an, sondern empfehlen offen,
den Krieg zu erklären. Frankreich bewahrt gegenüber diesen Anreizungen eine
bemerkenswerte Ruhe, und selbst die Nationalisten lehnen den Gedanken an
kriegerische Verwicklungen ab, offenbar in dem Verständnisse dafür, daß bei
einem Kriege mit Deutschland Frankreich der schwächere Teil und England
nicht imstande sein würde, dessen Niederlage zu hindern.

So weit die Tatsachen. Bei ihrer Beurteilung ist zu unterscheiden zwischen
der rechtlichen und der politischen Seite. Wenn die große Mehrzahl der
"nationalen" Blätter nur die erstere berücksichtigen und sich in pathetischen De-
klamationen über das Recht Deutschlands und das Unrecht Frankreichs er-
gehen, so liefern sie keinen Beweis großen Verständnisses. Daß nach völker-
rechtlichen, wie nach allgemeinen moralischen Gesichtspunkten Frankreich im
Unrechte ist, wenn es nicht allein die deutschen wirtschaftlichen Jnteressen
in Marokko, sondern sogar die durch die Marokkokonferenz begründete for-
melle Rechtsstellung Deutschlands zu beeinträchtigen und uns einfach bei-
seite zu schieben versuchte, ist nicht allein in dem Maße klar, daß es keiner
besonderen Beweisführung bedarf, sondern wird von den Franzosen selbst
nicht bestritten, die vielmehr ihrem Minister schwere Vorwürfe darüber machen,
daß er glaubte, "Deutschland als Luft behandeln zu können". Ebenso
zweifellos ist, daß Deutschland sich diese Behandlung nicht gefallen lassen

W. Kulemann: Eine Schwenkung der deutschen Politik. 653

Diese Erwägungen machten es mir zunächst bedenklich, der Anregung zu
einer Erörterung der gegenwärtig die Welt bewegenden Marokkofrage zu
folgen. Aber so berechtigt sie sind, so hindern sie doch nur die Abgabe eines
apodiktischen, nicht die eines hypothetischen Urteils, d. h. sie gestatten immer-
hin, aus den Ereignissen, soweit sie bekannt geworden sind, auf die Ten-
denzen der auf deutscher Seite befolgten Politik gewisse Schlüsse zu ziehen,
und das bietet offenbar ein nicht geringes Jnteresse.

Die Tatsachen, um die es sich handelt, sind verhältnismäßig einfach.
Frankreich hat unter Zustimmung Spaniens mit England einen Vertrag
abgeschlossen, durch den es in Marokko dieselbe Vorherrschaft erlangt, wie
England sie in Aegypten besitzt, die also den Keim einer späteren völligen
Einverleibung als Kolonie oder Provinz in sich birgt und zunächst schon heute
jedenfalls eine wirtschaftliche Bevorzugung Frankreich vor anderen Staaten
zur Folge hat. Dieser Vertrag ist weder Deutschland, noch den übrigen
Mächten, die an der Marokkokonferenz von 1880 beteiligt waren, offiziell mit-
geteilt, vielmehr hat sich der Minister Delcass é darauf beschränkt, gelegentlich
einer Zusammenkunft dem deutschen Botschafter ganz allgemein gehaltene An-
deutungen zu geben. Andererseits ist aber auch das Abkommen nicht etwa geheim
gehalten. Nun stellt sich Deutschland auf den Standpunkt, dasselbe einfach zu
ignorieren, d. h. genau ebenso zu handeln, als wenn es nicht bestände. Das hat
nicht allein der Reichskanzler im Reichstage getan, indem er, ohne den Vertrag
ausdrücklich zu erwähnen, doch mittelbar seine Wirksamkeit in Abrede stellte,
sondern auch der Kaiser hat in Tanger in einer Ansprache, deren Wortlaut
freilich noch nicht sicher feststeht, deren Jnhalt aber in den Hauptpunkten
unbestritten ist, erklärt, daß Marokko ein unabhängiger Staat und alle Na-
tionen in ihm gleichberechtigt seien. Das hat eine große Aufregung in Frank-
reich und eine noch größere in England hervorgerufen; ja die englischen
Blätter bieten nicht allein für den Fall, daß Frankreich geneigt sein sollte, die
Waffen zu ergreifen, den Beistand Englands an, sondern empfehlen offen,
den Krieg zu erklären. Frankreich bewahrt gegenüber diesen Anreizungen eine
bemerkenswerte Ruhe, und selbst die Nationalisten lehnen den Gedanken an
kriegerische Verwicklungen ab, offenbar in dem Verständnisse dafür, daß bei
einem Kriege mit Deutschland Frankreich der schwächere Teil und England
nicht imstande sein würde, dessen Niederlage zu hindern.

So weit die Tatsachen. Bei ihrer Beurteilung ist zu unterscheiden zwischen
der rechtlichen und der politischen Seite. Wenn die große Mehrzahl der
„nationalen“ Blätter nur die erstere berücksichtigen und sich in pathetischen De-
klamationen über das Recht Deutschlands und das Unrecht Frankreichs er-
gehen, so liefern sie keinen Beweis großen Verständnisses. Daß nach völker-
rechtlichen, wie nach allgemeinen moralischen Gesichtspunkten Frankreich im
Unrechte ist, wenn es nicht allein die deutschen wirtschaftlichen Jnteressen
in Marokko, sondern sogar die durch die Marokkokonferenz begründete for-
melle Rechtsstellung Deutschlands zu beeinträchtigen und uns einfach bei-
seite zu schieben versuchte, ist nicht allein in dem Maße klar, daß es keiner
besonderen Beweisführung bedarf, sondern wird von den Franzosen selbst
nicht bestritten, die vielmehr ihrem Minister schwere Vorwürfe darüber machen,
daß er glaubte, „Deutschland als Luft behandeln zu können“. Ebenso
zweifellos ist, daß Deutschland sich diese Behandlung nicht gefallen lassen

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 14. Berlin-Charlottenburg, 20. April 1905, S. 653. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0114_1905/13>, abgerufen am 21.11.2024.