Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 14. Berlin-Charlottenburg, 20. April 1905.O. zur Linde: Don Quixote. 683 Wert haben. Und wie steht's mit dem angeblichen Erfolg seines Totschlags?Grillparzer sagt: "Die Ungeheuerlichkeiten, die Cervantes aus dem Ritter- roman vertrieben hatte, flüchteten sich, obgleich sehr gemildert, in die Schau- spiele." Nun aber hüte man sich vor dem Extrem Tiecks und Heines, den Helden des Romans als Märtyrer des Jdealismus aufzufassen. Grillparzer wieder gerät in das andere Extrem: "Die ganze Erfindungsgabe des Autors wird ewig nur aufgeboten, um seine Figur lächerlich zu machen und den Leser zu unterhalten, ja die lucida intervalla seiner Narrheit würden wahrschein- lich noch weniger sein, wenn Cervantes nicht seine eigenen Ansichten über Manches durch dessen Mund hätte in die Welt bringen wollen." Das geht doch nicht, den Cervantes zum Klown und rationalistischen Zeloten zu stempeln. Und gar Byron, der von diesem Werke an den Verfall des spanischen Charakters datiert, der seitdem sein Ritterliches immer mehr verloren habe. Das ist doch... und dabei waren die Schelmenromane vor Cervantes da und er- weisen sogar die literarische Unrichtigkeit von Byrons schnellfertiger Be- hauptung, während sie kulturphilosophisch eine Absurdität ist, was die Kau- salität betrifft, und eben eine ungeheuerliche Ueberschätzung der Macht der Literatur als Kulturfaktor genannt werden muß. Wollte man doch all dies Streiten lassen, und lernen, ohne jeden Ballast O. zur Linde: Don Quixote. 683 Wert haben. Und wie steht's mit dem angeblichen Erfolg seines Totschlags?Grillparzer sagt: „Die Ungeheuerlichkeiten, die Cervantes aus dem Ritter- roman vertrieben hatte, flüchteten sich, obgleich sehr gemildert, in die Schau- spiele.“ Nun aber hüte man sich vor dem Extrem Tiecks und Heines, den Helden des Romans als Märtyrer des Jdealismus aufzufassen. Grillparzer wieder gerät in das andere Extrem: „Die ganze Erfindungsgabe des Autors wird ewig nur aufgeboten, um seine Figur lächerlich zu machen und den Leser zu unterhalten, ja die lucida intervalla seiner Narrheit würden wahrschein- lich noch weniger sein, wenn Cervantes nicht seine eigenen Ansichten über Manches durch dessen Mund hätte in die Welt bringen wollen.“ Das geht doch nicht, den Cervantes zum Klown und rationalistischen Zeloten zu stempeln. Und gar Byron, der von diesem Werke an den Verfall des spanischen Charakters datiert, der seitdem sein Ritterliches immer mehr verloren habe. Das ist doch... und dabei waren die Schelmenromane vor Cervantes da und er- weisen sogar die literarische Unrichtigkeit von Byrons schnellfertiger Be- hauptung, während sie kulturphilosophisch eine Absurdität ist, was die Kau- salität betrifft, und eben eine ungeheuerliche Ueberschätzung der Macht der Literatur als Kulturfaktor genannt werden muß. 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Nur dürft ihr wirklich nicht mit<lb/> der Absicht daran gehen, Spaß zu suchen. Denn dann werdet ihr enttäuscht;<lb/> vielleicht abgestoßen werden. Jch möchte, daß endlich mal damit aufgehört<lb/> wird, den Don Quixote als humoristischen Roman zu charakterisieren. Humor<lb/> ist noch tiefer als Ernst, und ehe wir den Roman nicht ernsthaft genommen<lb/> haben, ist uns sein wahrer abgründigster Humor verschlossen, wie viel Spaß-<lb/> haftes wir trotzdem darin zu belachen finden würden. Wenn wir, Unernsthafte,<lb/> dann wenigstens ehrlich wären, müßten wir laut aussprechen, daß um des<lb/> bißchen Spaßes willen, die Lektüre so vieler schwer verständlicher Bände wirk-<lb/> lich nicht lohne, daß wir <hi rendition="#g">den</hi> weniger verstreut, weniger fremdartig, enger<lb/> und kongenialer beieinander — in der Familie Buchholzen zu finden imstande<lb/> seien. Jch schlage also im bittersten Ernste vor, den Roman Don Quixote<lb/> als Weisheitsbuch und profane Bibel, als vorerst ohne Urteil aufzunehmendes,<lb/> ohne Absichten zu lesendes, ohne Kommentar zu glaubendes, und — wo einen<lb/> das Verstehen im Stich läßt — naiv weiter und dann immer von neuem zu<lb/> lesendes Historien=, Charaktere=, Situations=, Landschaften= und Stimmungen-<lb/> Sammelbuch ernsthaft auf sich wirken zu lassen. Es wird zu so vielen Stunden<lb/> und auf so vielen Seiten <hi rendition="#g">nicht</hi> wirken. Was schadet es, seid bescheiden, ge-<lb/> steht es euch ein. Nur keine Geistreichigkeiten euch zurecht machen! Und um<lb/> eures seelischen Anstandes willen, lest das Buch nicht, um darüber sprechen zu<lb/> können. Jede etwas umfängliche Literaturgeschichte liefert euch ja übergenug<lb/> Konversations=Material. 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O. zur Linde: Don Quixote. 683
Wert haben. Und wie steht's mit dem angeblichen Erfolg seines Totschlags?
Grillparzer sagt: „Die Ungeheuerlichkeiten, die Cervantes aus dem Ritter-
roman vertrieben hatte, flüchteten sich, obgleich sehr gemildert, in die Schau-
spiele.“ Nun aber hüte man sich vor dem Extrem Tiecks und Heines, den
Helden des Romans als Märtyrer des Jdealismus aufzufassen. Grillparzer
wieder gerät in das andere Extrem: „Die ganze Erfindungsgabe des Autors
wird ewig nur aufgeboten, um seine Figur lächerlich zu machen und den Leser
zu unterhalten, ja die lucida intervalla seiner Narrheit würden wahrschein-
lich noch weniger sein, wenn Cervantes nicht seine eigenen Ansichten über
Manches durch dessen Mund hätte in die Welt bringen wollen.“ Das geht
doch nicht, den Cervantes zum Klown und rationalistischen Zeloten zu stempeln.
Und gar Byron, der von diesem Werke an den Verfall des spanischen Charakters
datiert, der seitdem sein Ritterliches immer mehr verloren habe. Das ist
doch... und dabei waren die Schelmenromane vor Cervantes da und er-
weisen sogar die literarische Unrichtigkeit von Byrons schnellfertiger Be-
hauptung, während sie kulturphilosophisch eine Absurdität ist, was die Kau-
salität betrifft, und eben eine ungeheuerliche Ueberschätzung der Macht der
Literatur als Kulturfaktor genannt werden muß.
Wollte man doch all dies Streiten lassen, und lernen, ohne jeden Ballast
von gelehrten Meinungen und Kunstprinzipien an dies köstliche Buch heran-
zugehen. Das bescheidenste Buch der Weltliteratur ist kinderleicht, aller-
dings auch professoral=schwer. Das Buch ist so schwer, glaubt es mir, daß ihr's
nie ausstudiert, und so leicht, daß ihr — sobald ihr mit Kinderherzen es ge-
lesen habt — als lächelnde Weisen aufsteht. Nur dürft ihr wirklich nicht mit
der Absicht daran gehen, Spaß zu suchen. Denn dann werdet ihr enttäuscht;
vielleicht abgestoßen werden. Jch möchte, daß endlich mal damit aufgehört
wird, den Don Quixote als humoristischen Roman zu charakterisieren. Humor
ist noch tiefer als Ernst, und ehe wir den Roman nicht ernsthaft genommen
haben, ist uns sein wahrer abgründigster Humor verschlossen, wie viel Spaß-
haftes wir trotzdem darin zu belachen finden würden. Wenn wir, Unernsthafte,
dann wenigstens ehrlich wären, müßten wir laut aussprechen, daß um des
bißchen Spaßes willen, die Lektüre so vieler schwer verständlicher Bände wirk-
lich nicht lohne, daß wir den weniger verstreut, weniger fremdartig, enger
und kongenialer beieinander — in der Familie Buchholzen zu finden imstande
seien. Jch schlage also im bittersten Ernste vor, den Roman Don Quixote
als Weisheitsbuch und profane Bibel, als vorerst ohne Urteil aufzunehmendes,
ohne Absichten zu lesendes, ohne Kommentar zu glaubendes, und — wo einen
das Verstehen im Stich läßt — naiv weiter und dann immer von neuem zu
lesendes Historien=, Charaktere=, Situations=, Landschaften= und Stimmungen-
Sammelbuch ernsthaft auf sich wirken zu lassen. Es wird zu so vielen Stunden
und auf so vielen Seiten nicht wirken. Was schadet es, seid bescheiden, ge-
steht es euch ein. Nur keine Geistreichigkeiten euch zurecht machen! Und um
eures seelischen Anstandes willen, lest das Buch nicht, um darüber sprechen zu
können. Jede etwas umfängliche Literaturgeschichte liefert euch ja übergenug
Konversations=Material. Zur Not tut's sogar das Konversations- Lexikon.
Aber den bescheidenen Leser lohnt der Don Quixote des Cervantes
tausendfältig. Für das bescheidenste Buch gehört der bescheidenste Leser, und
der Humor dieser Tatsache ist eben — der Humor davon.
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