Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mährisches Tagblatt. Nr. 118, Olmütz, 22.05.1896.

Bild:
erste Seite
[Spaltenumbruch]

Das
"Mährische Tagblatt"
erscheint mit Ausnahme der
Sonn- und Feiertage täglich.
Ausgabe 2 Uhr Nachmittag
im Administrationslocale.
Niederring Nr. 41 neu.
Abonnement für Olmütz:

Ganzjährig fl. 10.--
Halbjährig " 5.--
Vierteljährig " 2.50
Monatlich " --·90
Zustellung ins Haus monat-
lich 10 kr,
Auswärts durch die Post:
Ganzjährig fl. 14.--
Halbjährig " 7.--
Vierteljährig " 3.50
Einzelne Nummern 5 kr.



Celephon Nr. 9.


[Spaltenumbruch]
Mährisches
Tagblatt.

[Spaltenumbruch]

Insertionsgebühren
nach aufliegendem Tarif.



Außerhalb Olmütz überneh-
men Insertions-Aufträge.
He[in]rich Schalek, Annon-
cen-Exped. in Wien, I. Woll-
zeile Nr. 11, Haasenstein
& Vogler,
in Wien, Buda-
pest, Berlin, Frankfurt a. M.
Hamburg, Basel und Leipzig.
Alois Opellik, in Wien, Rud.
Mosse,
in Wien, München u.
Berlin. M. Dukes, Wien 1.
Schulerstraße 8. G. L. Daube
und Co.,
Frankfurt a. M.
Karoly u. Liebmann's Annon-
cenbureau in Hamburg, sowie
sämmtl, conc. Insertionsbu-
reaus des In- u. Auslandes
Manuscripte werden nicht
zurückgestellt.


Telephon Nr. 9.




Nr. 118. Olmütz, Freitag, den 22. Mai 1896. 17. Jahrgang.


[Spaltenumbruch]
Was will werden?
(Orig.-Corr.)

Die Unzufriedenheit unter den Deutschen
Oesterreichs greift um sich. "Die Slaven haben
an Macht und Einfluß gewonnen" -- ebenso viel
haben die Deutschen verloren. Das läßt sich nicht
anfechten und man braucht nicht auf den Aus-
gleich mit Ungarn, nicht auf die Vertreibung des
deutschen Beamtenthums aus Galizien, nicht auf
Krain und Laibach, nicht auf Prag und Pilsen
erst hinzuweisen, um Glauben zu finden. Graf
Badeni, der Ministerpräsident selbst, hat in einer
seiner ersten Reden über die nationalen Forderun-
gen und Bestrebungen zugegeben, daß der Eine
verlieren muß, was der Andere gewinnt. Dabei
sind diejenigen, welche so viel gewonnen haben,
wie etwa die Tschechen, ebenfalls unzufrieden und
täglich erneuern sie ihre alten Forderungen, er-
heben sie neue. Diejenigen dürften sich in einem
großen Irrthume befinden, die da meinen, in dem
neuen Abgeordnetenhause mit seiner fünften Curie
aus dem allgemeinen Stimmrechte werde die
nationale Frage eine geringere Rolle spielen
als in dem heutigen. Einige Socialisten, welche
sich "international" nennen, werden nicht im
Stande sein, das Gepräge des neuen Hauses
wesentlich anders zu gestalten als das gegen-
wärtige. Von diesen Socialisten werden überdies
die meisten, namentlich die Slaven, eigentlich doch
nur verkappte Nationale sein. Der größere
Theil der aus der fünften Curie hervorgehenden
Abgeordneten wird auf Grund von Candidaten-
reden und Programmen gewählt sein, in denen
[Spaltenumbruch] die nationale Frage eine ebenso große Rolle
spielt als bei den bisherigen Candidaturen in den
alten Curien. Die Deutschen werden sich also
ebenso sehr wie bisher in der Reichsvertretung
und im Reiche ihrer Haut zu wehren haben,
und sie werden neue Verluste erleiden, wenn auch
die künftigen Regierungen das alte, im Gange
von Taaffe bis heute festgehaltene System anwenden,
welches in seinem letzten Ende gerade auf eine Slavi-
sirung dieses Reiches hinauslauft, welches bisher
noch immer ein vorzugsweise deutsches Aus-
sehen hatte.

Soll dieser Wandel nach einer slavischen
Vorherrschaft hin noch so lange fortdauern, bis
er endlich an sein Ziel gelangt ist, bis es endlich
einmal den Slaven wirklich gelungen ist, den
österreichischen Parlamentarismus ganz unmöglich
zu machen, wenn sie es nicht vorziehen, etwa
auf Grund des allgemeinen Wahlrechtes und
der Mehrheit, welche sie zusammengenommen
gegenüber den Deutschen haben, auch neben der
Reichsregierung auch noch die Reichsvertretung
zu slavisiren und nach einem Uebergange mit der
"Gleichberechtigung" endlich die slavische Geschäfts-
sprache, vielleicht sogar die russische, für Regie-
rung und Parlament zu decretiren? Das sieht
auf den ersten Anblick sehr utopisch aus, man
thut jedoch nicht gut in Oesterreich irgend Etwas
für unmöglich zu erklären. Das Unglaubliche
wird man für glaublich halten, wenn man den
Verlauf der verschiedenen nationalen Fragen in
Oesterreich seit den letzten fünfzig Jahren ver-
folgt. Die Deutschen müssen also daran denken,
diesen "Wundern" die sich unausgesetzt bei uns
[Spaltenumbruch] vollziehen -- immer auf Kosten der Deutschen --
ein Ende zu machen. Das könnte nur durch ein
Sprachen- und Nationalitätengesetz geschehen,
welches Ordnung in das Chaos der nationalen
Fragen brächte und den wechselnden Regierungen
nicht weiter gestattete, ihre täglichen Sorgen aus dem
Inventar des deutschen Volkes in Oesterreich zu
bestreiten und gewissermassen von dem Verkaufe
des einen oder des anderen Stückes der alten
deutschen Einrichtung dieses Reiches ihr Dasein
zu fristen. Man kann zugeben, daß es heute in
dieser Beziehung etwas weniger schlimm steht,
als in den schönsten Tagen der Aera Taaffe, das
Schlimmste bei diesem Zustande ist die Möglich-
keit, daß einer Erneuerung der Tage der "Ver-
söhnungsära" gar nichts im Wege steht, und
daß Graf Badeni, wenn er es wollte, durch
nichts verhindert wäre, noch über Taaffe hinaus-
zugehen. Es hat sich sogar gezeigt, daß wenn
eine regelrechte Regierung nicht im Stande war,
den Slaven den Willen zu thun, sogar ein Pro-
visorium aushelfen mußte, um nicht den Zorn der
Deutschen auf sich zu nehmen, damit dann die
neue definitive Regierung zunächst unbelastet von
aller Schuld gegen die Deutschen ins Amt treten
kann, aber gar nicht gehindert ist, später den
Deutschen eine Unbill zuzufügen.

Es gab manche dringliche Arbeit, redlich hat
die deutsche Partei mitgeholfen, sie zu bewältigen.
Ja sie hat den Löwenantheil der Mühen und
Anstrengungen zu diesem Zwecke auf sich genommen.
Nun ist es aber wohl an der Zeit, die Deutschen
auch von der drückenden Sorge um die Zukunft
zu befreien. Sie können nicht immer im Saale




[Spaltenumbruch]
Feuilleton.
Die Baumkönigin.
Ein Tagebuchfragment von
E. Fahrow (Neurupin).

(Nachdruck verboten.)

Ich möchte wohl wissen, warum man Pfing-
sten heutzutage noch das Fest der Freude nennt!
-- Ist es etwa eine Freude, überall wo man
vor dem Fest hinkommt, ungemüthliche Scheuer-
überschwemmungen zu finden? Von Handwerkern
und Kaufleuten, denen man Aufträge geben will,
die achselzuckende Abweisung zu hören: "aber
bitte nach dem Fest erst". Ist es erfreulich, wenn
man eine Erholungsspritzfahrt machen will, etwa
nach Dresden oder dem Harz, überall buchstäblich
auf die Menschen zu treten?

Nein, bis jetzt habe ich von den Pfingsttagen
noch nie eine reine Freude gehabt; im Gegen-
theil, der blöde Jubel der aufgeputzten Menschen,
den ich in vollgepfropften Biergärten so oft be-
obachtet habe, pflegte mich zu ärgern.

Mein Freund Helmer, der mich im vorigen
Jahr um diese Zeit besuchte, lachte mich aus; er
findet ja überhaupt immer und überall etwas,
was seine Heiterkeit erregt, der beneidenswerthe
Mensch. Er behauptete, daß ich mit der Zeit die
richtige, typische Figur des ernst-mürrischen,
menschenscheuen Privatgelehrten werden würde,
wenn ich mich nicht mehr "herausrisse", mehr
unter Leute und besonders unter Damen
ginge. --


[Spaltenumbruch]

Gott bewahre mich! Diese koketten, berech-
nenden Berlinerinnen sind mir ein wahrer Gräuel.
Und überhaupt! Mir will scheinen, daß ein völlig
unbefangenes, natürliches Mädchen heute gar nicht
mehr zu finden ist. -- Ja, wenn ich Eine fände,
wie meine gute Mutter war! Heiter, harmlos,
klug, gut und hübsch! Aber wo findet man das
noch beisammen!

Helmer hat mich für dies Jahr nach Mar-
burg eingeladen, und ich reise morgen hin; er
hat eine Schwäbin zur Frau, eine allerliebste
blonde Dame, die es versteht, Behaglichkeit um
sich zu verbreiten und Einen nicht mit feierlichen
Festgesellschaften "erfreut". Uebrigens ist mir
Reisen eine Qual, man muß an tausend Baga-
tellen denken, die an sich ganz unwichtig sind und
sich unterwegs zu unglaublicher Wichtigkeit auf-
blähen! Das Letztemal hatte ich z. B. meinen
Gepäckschein verloren -- das war höchst unange-
nehm. Dießmal werde ich wohl irgend sonst was
verlieren.




Marburg, Pfingstsonnabend.

Dem Himmel sei Dank, daß ich glücklich
angelangt bin! -- Ich hatte diesmal meinen
Gepäckschein nicht verloren. Aber in Cassel bin
ich dafür in den falschen Zug gestiegen und fünf
Meilen zurückgefahren statt vorwärts.

Ich konnte übrigens nichts dafür, denn wenn
aus einem Coupe ein accurat so schwarzweiß ge-
würfelter Plaid heraussieht, wie meiner ist --
wenn überdies der Zugführer gerade seinen
trillernden Abfahrtspfiff ausstößt und ein aufge-
[Spaltenumbruch] regter Schaffner Einen vorwärts bugsirt, so ist
es kein Wunder, wenn man zu spät seinen Irr-
thum erkennt.

So stand ich händeringend und heimlich
fluchend an meinem Fenster und wandte mich erst um,
als ein kicherndes Lachen hinter mir ertönte. Da
saß plötzlich ein junges Mädchen und neben ihr
ein Jüngling von etwa vierzehn Jahren, der
ganz kirschbraun im Gesicht vor unterdrücktem
Lachen war.

"Ach, erlauben Sie," sagte er jetzt, indem
er sich bückte und das Tuch unter meinen Füßen
vorzog, "dies ist unser Plaid."

Ich hob meine Füße und trat dabei dem
jungen Mädchen auf die ihrigen; sie zuckte zu-
sammen, ich war aber so erbost, daß ich alle
Höflichkeit vergaß und anstatt mich zu entschul-
digen einen vernehmlichen Fluch ausstieß.

Hatte ich es nicht gleich gesagt, daß man zu
Pfingsten geradezu auf die Menschen tritt? --
Zum Glück war Niemand da, dem ich diesen
schlechten Witz versetzen konnte, aber der Fluch
hatte doch mein Herz erleichtert, so daß ich nach
und nach meinen Pfingst-Galgenhumor wieder-
fand.

Den Hut lüftend, wandte ich mich an mein
hübsches Gegenüber -- es war wirklich sehr
niedlich -- und sagte: "Verzeihen Sie gütigst
-- dürfte ich mir vielleicht die Frage erlauben,
wo ich eigentlich hinfahre?"

Jetzt lachte sie ganz unverhohlen auf. Ein
reizendes Lachen übrigens.

"Ich glaube, Sie fahren nach Berlin, --
und wollten nach Marburg, nicht wahr?"


[Spaltenumbruch]

Das
„Mähriſche Tagblatt“
erſcheint mit Ausnahme der
Sonn- und Feiertage täglich.
Ausgabe 2 Uhr Nachmittag
im Adminiſtrationslocale.
Niederring Nr. 41 neu.
Abonnement für Olmütz:

Ganzjährig fl. 10.—
Halbjährig „ 5.—
Vierteljährig „ 2.50
Monatlich „ —·90
Zuſtellung ins Haus monat-
lich 10 kr,
Auswärts durch die Poſt:
Ganzjährig fl. 14.—
Halbjährig „ 7.—
Vierteljährig „ 3.50
Einzelne Nummern 5 kr.



Celephon Nr. 9.


[Spaltenumbruch]
Mähriſches
Tagblatt.

[Spaltenumbruch]

Inſertionsgebühren
nach aufliegendem Tarif.



Außerhalb Olmütz überneh-
men Inſertions-Aufträge.
He[in]rich Schalek, Annon-
cen-Exped. in Wien, I. Woll-
zeile Nr. 11, Haasenstein
& Vogler,
in Wien, Buda-
peſt, Berlin, Frankfurt a. M.
Hamburg, Baſel und Leipzig.
Alois Opellik, in Wien, Rud.
Mosse,
in Wien, München u.
Berlin. M. Dukes, Wien 1.
Schulerſtraße 8. G. L. Daube
und Co.,
Frankfurt a. M.
Karoly u. Liebmann’s Annon-
cenbureau in Hamburg, ſowie
ſämmtl, conc. Inſertionsbu-
reaus des In- u. Auslandes
Manuſcripte werden nicht
zurückgeſtellt.


Telephon Nr. 9.




Nr. 118. Olmütz, Freitag, den 22. Mai 1896. 17. Jahrgang.


[Spaltenumbruch]
Was will werden?
(Orig.-Corr.)

Die Unzufriedenheit unter den Deutſchen
Oeſterreichs greift um ſich. „Die Slaven haben
an Macht und Einfluß gewonnen“ — ebenſo viel
haben die Deutſchen verloren. Das läßt ſich nicht
anfechten und man braucht nicht auf den Aus-
gleich mit Ungarn, nicht auf die Vertreibung des
deutſchen Beamtenthums aus Galizien, nicht auf
Krain und Laibach, nicht auf Prag und Pilſen
erſt hinzuweiſen, um Glauben zu finden. Graf
Badeni, der Miniſterpräſident ſelbſt, hat in einer
ſeiner erſten Reden über die nationalen Forderun-
gen und Beſtrebungen zugegeben, daß der Eine
verlieren muß, was der Andere gewinnt. Dabei
ſind diejenigen, welche ſo viel gewonnen haben,
wie etwa die Tſchechen, ebenfalls unzufrieden und
täglich erneuern ſie ihre alten Forderungen, er-
heben ſie neue. Diejenigen dürften ſich in einem
großen Irrthume befinden, die da meinen, in dem
neuen Abgeordnetenhauſe mit ſeiner fünften Curie
aus dem allgemeinen Stimmrechte werde die
nationale Frage eine geringere Rolle ſpielen
als in dem heutigen. Einige Socialiſten, welche
ſich „international“ nennen, werden nicht im
Stande ſein, das Gepräge des neuen Hauſes
weſentlich anders zu geſtalten als das gegen-
wärtige. Von dieſen Socialiſten werden überdies
die meiſten, namentlich die Slaven, eigentlich doch
nur verkappte Nationale ſein. Der größere
Theil der aus der fünften Curie hervorgehenden
Abgeordneten wird auf Grund von Candidaten-
reden und Programmen gewählt ſein, in denen
[Spaltenumbruch] die nationale Frage eine ebenſo große Rolle
ſpielt als bei den bisherigen Candidaturen in den
alten Curien. Die Deutſchen werden ſich alſo
ebenſo ſehr wie bisher in der Reichsvertretung
und im Reiche ihrer Haut zu wehren haben,
und ſie werden neue Verluſte erleiden, wenn auch
die künftigen Regierungen das alte, im Gange
von Taaffe bis heute feſtgehaltene Syſtem anwenden,
welches in ſeinem letzten Ende gerade auf eine Slavi-
ſirung dieſes Reiches hinauslauft, welches bisher
noch immer ein vorzugsweiſe deutſches Aus-
ſehen hatte.

Soll dieſer Wandel nach einer ſlaviſchen
Vorherrſchaft hin noch ſo lange fortdauern, bis
er endlich an ſein Ziel gelangt iſt, bis es endlich
einmal den Slaven wirklich gelungen iſt, den
öſterreichiſchen Parlamentarismus ganz unmöglich
zu machen, wenn ſie es nicht vorziehen, etwa
auf Grund des allgemeinen Wahlrechtes und
der Mehrheit, welche ſie zuſammengenommen
gegenüber den Deutſchen haben, auch neben der
Reichsregierung auch noch die Reichsvertretung
zu ſlaviſiren und nach einem Uebergange mit der
„Gleichberechtigung“ endlich die ſlaviſche Geſchäfts-
ſprache, vielleicht ſogar die ruſſiſche, für Regie-
rung und Parlament zu decretiren? Das ſieht
auf den erſten Anblick ſehr utopiſch aus, man
thut jedoch nicht gut in Oeſterreich irgend Etwas
für unmöglich zu erklären. Das Unglaubliche
wird man für glaublich halten, wenn man den
Verlauf der verſchiedenen nationalen Fragen in
Oeſterreich ſeit den letzten fünfzig Jahren ver-
folgt. Die Deutſchen müſſen alſo daran denken,
dieſen „Wundern“ die ſich unausgeſetzt bei uns
[Spaltenumbruch] vollziehen — immer auf Koſten der Deutſchen —
ein Ende zu machen. Das könnte nur durch ein
Sprachen- und Nationalitätengeſetz geſchehen,
welches Ordnung in das Chaos der nationalen
Fragen brächte und den wechſelnden Regierungen
nicht weiter geſtattete, ihre täglichen Sorgen aus dem
Inventar des deutſchen Volkes in Oeſterreich zu
beſtreiten und gewiſſermaſſen von dem Verkaufe
des einen oder des anderen Stückes der alten
deutſchen Einrichtung dieſes Reiches ihr Daſein
zu friſten. Man kann zugeben, daß es heute in
dieſer Beziehung etwas weniger ſchlimm ſteht,
als in den ſchönſten Tagen der Aera Taaffe, das
Schlimmſte bei dieſem Zuſtande iſt die Möglich-
keit, daß einer Erneuerung der Tage der „Ver-
ſöhnungsära“ gar nichts im Wege ſteht, und
daß Graf Badeni, wenn er es wollte, durch
nichts verhindert wäre, noch über Taaffe hinaus-
zugehen. Es hat ſich ſogar gezeigt, daß wenn
eine regelrechte Regierung nicht im Stande war,
den Slaven den Willen zu thun, ſogar ein Pro-
viſorium aushelfen mußte, um nicht den Zorn der
Deutſchen auf ſich zu nehmen, damit dann die
neue definitive Regierung zunächſt unbelaſtet von
aller Schuld gegen die Deutſchen ins Amt treten
kann, aber gar nicht gehindert iſt, ſpäter den
Deutſchen eine Unbill zuzufügen.

Es gab manche dringliche Arbeit, redlich hat
die deutſche Partei mitgeholfen, ſie zu bewältigen.
Ja ſie hat den Löwenantheil der Mühen und
Anſtrengungen zu dieſem Zwecke auf ſich genommen.
Nun iſt es aber wohl an der Zeit, die Deutſchen
auch von der drückenden Sorge um die Zukunft
zu befreien. Sie können nicht immer im Saale




[Spaltenumbruch]
Feuilleton.
Die Baumkönigin.
Ein Tagebuchfragment von
E. Fahrow (Neurupin).

(Nachdruck verboten.)

Ich möchte wohl wiſſen, warum man Pfing-
ſten heutzutage noch das Feſt der Freude nennt!
— Iſt es etwa eine Freude, überall wo man
vor dem Feſt hinkommt, ungemüthliche Scheuer-
überſchwemmungen zu finden? Von Handwerkern
und Kaufleuten, denen man Aufträge geben will,
die achſelzuckende Abweiſung zu hören: „aber
bitte nach dem Feſt erſt“. Iſt es erfreulich, wenn
man eine Erholungsſpritzfahrt machen will, etwa
nach Dresden oder dem Harz, überall buchſtäblich
auf die Menſchen zu treten?

Nein, bis jetzt habe ich von den Pfingſttagen
noch nie eine reine Freude gehabt; im Gegen-
theil, der blöde Jubel der aufgeputzten Menſchen,
den ich in vollgepfropften Biergärten ſo oft be-
obachtet habe, pflegte mich zu ärgern.

Mein Freund Helmer, der mich im vorigen
Jahr um dieſe Zeit beſuchte, lachte mich aus; er
findet ja überhaupt immer und überall etwas,
was ſeine Heiterkeit erregt, der beneidenswerthe
Menſch. Er behauptete, daß ich mit der Zeit die
richtige, typiſche Figur des ernſt-mürriſchen,
menſchenſcheuen Privatgelehrten werden würde,
wenn ich mich nicht mehr „herausriſſe“, mehr
unter Leute und beſonders unter Damen
ginge. —


[Spaltenumbruch]

Gott bewahre mich! Dieſe koketten, berech-
nenden Berlinerinnen ſind mir ein wahrer Gräuel.
Und überhaupt! Mir will ſcheinen, daß ein völlig
unbefangenes, natürliches Mädchen heute gar nicht
mehr zu finden iſt. — Ja, wenn ich Eine fände,
wie meine gute Mutter war! Heiter, harmlos,
klug, gut und hübſch! Aber wo findet man das
noch beiſammen!

Helmer hat mich für dies Jahr nach Mar-
burg eingeladen, und ich reiſe morgen hin; er
hat eine Schwäbin zur Frau, eine allerliebſte
blonde Dame, die es verſteht, Behaglichkeit um
ſich zu verbreiten und Einen nicht mit feierlichen
Feſtgeſellſchaften „erfreut“. Uebrigens iſt mir
Reiſen eine Qual, man muß an tauſend Baga-
tellen denken, die an ſich ganz unwichtig ſind und
ſich unterwegs zu unglaublicher Wichtigkeit auf-
blähen! Das Letztemal hatte ich z. B. meinen
Gepäckſchein verloren — das war höchſt unange-
nehm. Dießmal werde ich wohl irgend ſonſt was
verlieren.




Marburg, Pfingſtſonnabend.

Dem Himmel ſei Dank, daß ich glücklich
angelangt bin! — Ich hatte diesmal meinen
Gepäckſchein nicht verloren. Aber in Caſſel bin
ich dafür in den falſchen Zug geſtiegen und fünf
Meilen zurückgefahren ſtatt vorwärts.

Ich konnte übrigens nichts dafür, denn wenn
aus einem Coupé ein accurat ſo ſchwarzweiß ge-
würfelter Plaid herausſieht, wie meiner iſt —
wenn überdies der Zugführer gerade ſeinen
trillernden Abfahrtspfiff ausſtößt und ein aufge-
[Spaltenumbruch] regter Schaffner Einen vorwärts bugſirt, ſo iſt
es kein Wunder, wenn man zu ſpät ſeinen Irr-
thum erkennt.

So ſtand ich händeringend und heimlich
fluchend an meinem Fenſter und wandte mich erſt um,
als ein kicherndes Lachen hinter mir ertönte. Da
ſaß plötzlich ein junges Mädchen und neben ihr
ein Jüngling von etwa vierzehn Jahren, der
ganz kirſchbraun im Geſicht vor unterdrücktem
Lachen war.

„Ach, erlauben Sie,“ ſagte er jetzt, indem
er ſich bückte und das Tuch unter meinen Füßen
vorzog, „dies iſt unſer Plaid.“

Ich hob meine Füße und trat dabei dem
jungen Mädchen auf die ihrigen; ſie zuckte zu-
ſammen, ich war aber ſo erboſt, daß ich alle
Höflichkeit vergaß und anſtatt mich zu entſchul-
digen einen vernehmlichen Fluch ausſtieß.

Hatte ich es nicht gleich geſagt, daß man zu
Pfingſten geradezu auf die Menſchen tritt? —
Zum Glück war Niemand da, dem ich dieſen
ſchlechten Witz verſetzen konnte, aber der Fluch
hatte doch mein Herz erleichtert, ſo daß ich nach
und nach meinen Pfingſt-Galgenhumor wieder-
fand.

Den Hut lüftend, wandte ich mich an mein
hübſches Gegenüber — es war wirklich ſehr
niedlich — und ſagte: „Verzeihen Sie gütigſt
— dürfte ich mir vielleicht die Frage erlauben,
wo ich eigentlich hinfahre?“

Jetzt lachte ſie ganz unverhohlen auf. Ein
reizendes Lachen übrigens.

„Ich glaube, Sie fahren nach Berlin, —
und wollten nach Marburg, nicht wahr?“


<TEI>
  <text>
    <front>
      <pb facs="#f0001" n="[1]"/>
      <cb/>
      <div type="jExpedition">
        <p> Das<lb/><hi rendition="#b">&#x201E;Mähri&#x017F;che Tagblatt&#x201C;</hi><lb/>
er&#x017F;cheint mit Ausnahme der<lb/>
Sonn- und Feiertage täglich.<lb/>
Ausgabe 2 Uhr Nachmittag<lb/>
im Admini&#x017F;trationslocale.<lb/><hi rendition="#b">Niederring Nr. 41 neu.<lb/>
Abonnement für Olmütz:</hi><lb/>
Ganzjährig fl. 10.&#x2014;<lb/>
Halbjährig &#x201E; 5.&#x2014;<lb/>
Vierteljährig &#x201E; 2.50<lb/>
Monatlich &#x201E; &#x2014;·90<lb/>
Zu&#x017F;tellung ins Haus monat-<lb/>
lich 10 kr,<lb/><hi rendition="#b">Auswärts durch die Po&#x017F;t:</hi><lb/>
Ganzjährig fl. 14.&#x2014;<lb/>
Halbjährig &#x201E; 7.&#x2014;<lb/>
Vierteljährig &#x201E; 3.50<lb/>
Einzelne Nummern 5 kr.<lb/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/><hi rendition="#b">Celephon Nr. 9.</hi> </p>
      </div><lb/>
      <cb/>
      <titlePage type="heading">
        <titlePart type="main"> <hi rendition="#b">Mähri&#x017F;ches<lb/>
Tagblatt.</hi> </titlePart>
      </titlePage><lb/>
      <cb/>
      <div type="jExpedition">
        <p><hi rendition="#b">In&#x017F;ertionsgebühren</hi><lb/>
nach aufliegendem Tarif.<lb/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
Außerhalb <hi rendition="#b">Olmütz</hi> überneh-<lb/>
men In&#x017F;ertions-Aufträge.<lb/><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">He<supplied>in</supplied>rich Schalek,</hi></hi> Annon-<lb/>
cen-Exped. in Wien, <hi rendition="#aq">I.</hi> Woll-<lb/>
zeile Nr. 11, <hi rendition="#aq"><hi rendition="#b">Haasenstein<lb/>
&amp; Vogler,</hi></hi> in Wien, Buda-<lb/>
pe&#x017F;t, Berlin, Frankfurt a. M.<lb/>
Hamburg, Ba&#x017F;el und Leipzig.<lb/><hi rendition="#aq"><hi rendition="#b">Alois Opellik,</hi></hi> in Wien, <hi rendition="#aq"><hi rendition="#b">Rud.<lb/>
Mosse,</hi></hi> in Wien, München u.<lb/>
Berlin. <hi rendition="#aq"><hi rendition="#b">M. Dukes,</hi></hi> Wien 1.<lb/>
Schuler&#x017F;traße 8. <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">G. L. Daube<lb/>
und Co.,</hi></hi> Frankfurt a. M.<lb/><hi rendition="#aq"><hi rendition="#b">Karoly u. Liebmann&#x2019;s</hi></hi> Annon-<lb/>
cenbureau in Hamburg, &#x017F;owie<lb/>
&#x017F;ämmtl, conc. In&#x017F;ertionsbu-<lb/>
reaus des In- u. Auslandes<lb/>
Manu&#x017F;cripte werden nicht<lb/>
zurückge&#x017F;tellt.<lb/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/><hi rendition="#b">Telephon Nr. 9.</hi> </p>
      </div><lb/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
      <titlePage type="heading">
        <docImprint>
          <docDate> <hi rendition="#b">Nr. 118. Olmütz, Freitag, den 22. Mai 1896. 17. Jahrgang.</hi> </docDate>
        </docImprint><lb/>
      </titlePage>
    </front>
    <body>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
      <cb/>
      <div type="jPoliticalNews" n="1">
        <div xml:id="a1a" next="#a1b" type="jArticle" n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Was will werden?</hi> </head>
          <dateline><hi rendition="#g">Wien,</hi> 21 Mai.</dateline>
        </div>
      </div><lb/>
      <div n="1">
        <head>
          <bibl> <hi rendition="#b">(Orig.-Corr.)</hi> </bibl>
        </head><lb/>
        <p>Die Unzufriedenheit unter den Deut&#x017F;chen<lb/>
Oe&#x017F;terreichs greift um &#x017F;ich. &#x201E;Die Slaven haben<lb/>
an Macht und Einfluß gewonnen&#x201C; &#x2014; eben&#x017F;o viel<lb/>
haben die Deut&#x017F;chen verloren. Das läßt &#x017F;ich nicht<lb/>
anfechten und man braucht nicht auf den Aus-<lb/>
gleich mit Ungarn, nicht auf die Vertreibung des<lb/>
deut&#x017F;chen Beamtenthums aus Galizien, nicht auf<lb/>
Krain und Laibach, nicht auf Prag und Pil&#x017F;en<lb/>
er&#x017F;t hinzuwei&#x017F;en, um Glauben zu finden. Graf<lb/>
Badeni, der Mini&#x017F;terprä&#x017F;ident &#x017F;elb&#x017F;t, hat in einer<lb/>
&#x017F;einer er&#x017F;ten Reden über die nationalen Forderun-<lb/>
gen und Be&#x017F;trebungen zugegeben, daß der Eine<lb/>
verlieren muß, was der Andere gewinnt. Dabei<lb/>
&#x017F;ind diejenigen, welche &#x017F;o viel gewonnen haben,<lb/>
wie etwa die T&#x017F;chechen, ebenfalls unzufrieden und<lb/>
täglich erneuern &#x017F;ie ihre alten Forderungen, er-<lb/>
heben &#x017F;ie neue. Diejenigen dürften &#x017F;ich in einem<lb/>
großen Irrthume befinden, die da meinen, in dem<lb/>
neuen Abgeordnetenhau&#x017F;e mit &#x017F;einer fünften Curie<lb/>
aus dem allgemeinen Stimmrechte werde die<lb/>
nationale Frage eine geringere Rolle &#x017F;pielen<lb/>
als in dem heutigen. Einige Sociali&#x017F;ten, welche<lb/>
&#x017F;ich &#x201E;international&#x201C; nennen, werden nicht im<lb/>
Stande &#x017F;ein, das Gepräge des neuen Hau&#x017F;es<lb/>
we&#x017F;entlich anders zu ge&#x017F;talten als das gegen-<lb/>
wärtige. Von die&#x017F;en Sociali&#x017F;ten werden überdies<lb/>
die mei&#x017F;ten, namentlich die Slaven, eigentlich doch<lb/>
nur verkappte Nationale &#x017F;ein. Der größere<lb/>
Theil der aus der fünften Curie hervorgehenden<lb/>
Abgeordneten wird auf Grund von Candidaten-<lb/>
reden und Programmen gewählt &#x017F;ein, in denen<lb/><cb/>
die nationale Frage eine eben&#x017F;o große Rolle<lb/>
&#x017F;pielt als bei den bisherigen Candidaturen in den<lb/>
alten Curien. Die Deut&#x017F;chen werden &#x017F;ich al&#x017F;o<lb/>
eben&#x017F;o &#x017F;ehr wie bisher in der Reichsvertretung<lb/>
und im Reiche ihrer Haut zu wehren haben,<lb/>
und &#x017F;ie werden neue Verlu&#x017F;te erleiden, wenn auch<lb/>
die künftigen Regierungen das alte, im Gange<lb/>
von Taaffe bis heute fe&#x017F;tgehaltene Sy&#x017F;tem anwenden,<lb/>
welches in &#x017F;einem letzten Ende gerade auf eine Slavi-<lb/>
&#x017F;irung die&#x017F;es Reiches hinauslauft, welches bisher<lb/>
noch immer ein vorzugswei&#x017F;e deut&#x017F;ches Aus-<lb/>
&#x017F;ehen hatte.</p><lb/>
        <p>Soll die&#x017F;er Wandel nach einer &#x017F;lavi&#x017F;chen<lb/>
Vorherr&#x017F;chaft hin noch &#x017F;o lange fortdauern, bis<lb/>
er endlich an &#x017F;ein Ziel gelangt i&#x017F;t, bis es endlich<lb/>
einmal den Slaven wirklich gelungen i&#x017F;t, den<lb/>
ö&#x017F;terreichi&#x017F;chen Parlamentarismus ganz unmöglich<lb/>
zu machen, wenn &#x017F;ie es nicht vorziehen, etwa<lb/>
auf Grund des allgemeinen Wahlrechtes und<lb/>
der Mehrheit, welche &#x017F;ie zu&#x017F;ammengenommen<lb/>
gegenüber den Deut&#x017F;chen haben, auch neben der<lb/>
Reichsregierung auch noch die Reichsvertretung<lb/>
zu &#x017F;lavi&#x017F;iren und nach einem Uebergange mit der<lb/>
&#x201E;Gleichberechtigung&#x201C; endlich die &#x017F;lavi&#x017F;che Ge&#x017F;chäfts-<lb/>
&#x017F;prache, vielleicht &#x017F;ogar die ru&#x017F;&#x017F;i&#x017F;che, für Regie-<lb/>
rung und Parlament zu decretiren? Das &#x017F;ieht<lb/>
auf den er&#x017F;ten Anblick &#x017F;ehr utopi&#x017F;ch aus, man<lb/>
thut jedoch nicht gut in Oe&#x017F;terreich irgend Etwas<lb/>
für unmöglich zu erklären. Das Unglaubliche<lb/>
wird man für glaublich halten, wenn man den<lb/>
Verlauf der ver&#x017F;chiedenen nationalen Fragen in<lb/>
Oe&#x017F;terreich &#x017F;eit den letzten fünfzig Jahren ver-<lb/>
folgt. Die Deut&#x017F;chen mü&#x017F;&#x017F;en al&#x017F;o daran denken,<lb/>
die&#x017F;en &#x201E;Wundern&#x201C; die &#x017F;ich unausge&#x017F;etzt bei uns<lb/><cb/>
vollziehen &#x2014; immer auf Ko&#x017F;ten der Deut&#x017F;chen &#x2014;<lb/>
ein Ende zu machen. Das könnte nur durch ein<lb/>
Sprachen- und Nationalitätenge&#x017F;etz ge&#x017F;chehen,<lb/>
welches Ordnung in das Chaos der nationalen<lb/>
Fragen brächte und den wech&#x017F;elnden Regierungen<lb/>
nicht weiter ge&#x017F;tattete, ihre täglichen Sorgen aus dem<lb/>
Inventar des deut&#x017F;chen Volkes in Oe&#x017F;terreich zu<lb/>
be&#x017F;treiten und gewi&#x017F;&#x017F;erma&#x017F;&#x017F;en von dem Verkaufe<lb/>
des einen oder des anderen Stückes der alten<lb/>
deut&#x017F;chen Einrichtung die&#x017F;es Reiches ihr Da&#x017F;ein<lb/>
zu fri&#x017F;ten. Man kann zugeben, daß es heute in<lb/>
die&#x017F;er Beziehung etwas weniger &#x017F;chlimm &#x017F;teht,<lb/>
als in den &#x017F;chön&#x017F;ten Tagen der Aera Taaffe, das<lb/>
Schlimm&#x017F;te bei die&#x017F;em Zu&#x017F;tande i&#x017F;t die Möglich-<lb/>
keit, daß einer Erneuerung der Tage der &#x201E;Ver-<lb/>
&#x017F;öhnungsära&#x201C; gar nichts im Wege &#x017F;teht, und<lb/>
daß Graf Badeni, wenn er es wollte, durch<lb/>
nichts verhindert wäre, noch über Taaffe hinaus-<lb/>
zugehen. Es hat &#x017F;ich &#x017F;ogar gezeigt, daß wenn<lb/>
eine regelrechte Regierung nicht im Stande war,<lb/>
den Slaven den Willen zu thun, &#x017F;ogar ein Pro-<lb/>
vi&#x017F;orium aushelfen mußte, um nicht den Zorn der<lb/>
Deut&#x017F;chen auf &#x017F;ich zu nehmen, damit dann die<lb/>
neue definitive Regierung zunäch&#x017F;t unbela&#x017F;tet von<lb/>
aller Schuld gegen die Deut&#x017F;chen ins Amt treten<lb/>
kann, aber gar nicht gehindert i&#x017F;t, &#x017F;päter den<lb/>
Deut&#x017F;chen eine Unbill zuzufügen.</p><lb/>
        <p>Es gab manche dringliche Arbeit, redlich hat<lb/>
die deut&#x017F;che Partei mitgeholfen, &#x017F;ie zu bewältigen.<lb/>
Ja &#x017F;ie hat den Löwenantheil der Mühen und<lb/>
An&#x017F;trengungen zu die&#x017F;em Zwecke auf &#x017F;ich genommen.<lb/>
Nun i&#x017F;t es aber wohl an der Zeit, die Deut&#x017F;chen<lb/>
auch von der drückenden Sorge um die Zukunft<lb/>
zu befreien. Sie können nicht immer im Saale</p><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <cb/>
      </div>
      <div type="jFeuilleton" n="1">
        <head> <hi rendition="#aq"> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#g">Feuilleton.</hi> </hi> </hi> </head><lb/>
        <div xml:id="f1a" next="#f1b" type="jArticle" n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Die Baumkönigin.</hi><lb/> <hi rendition="#g">Ein Tagebuchfragment von</hi><lb/>
            <bibl><hi rendition="#b">E. Fahrow</hi> (Neurupin).</bibl>
          </head><lb/>
          <p> <hi rendition="#et">(Nachdruck verboten.)</hi> </p><lb/>
          <p>Ich möchte wohl wi&#x017F;&#x017F;en, warum man Pfing-<lb/>
&#x017F;ten heutzutage noch das Fe&#x017F;t der Freude nennt!<lb/>
&#x2014; I&#x017F;t es etwa eine Freude, überall wo man<lb/><hi rendition="#g">vor</hi> dem Fe&#x017F;t hinkommt, ungemüthliche Scheuer-<lb/>
über&#x017F;chwemmungen zu finden? Von Handwerkern<lb/>
und Kaufleuten, denen man Aufträge geben will,<lb/>
die ach&#x017F;elzuckende Abwei&#x017F;ung zu hören: &#x201E;aber<lb/>
bitte <hi rendition="#g">nach</hi> dem Fe&#x017F;t er&#x017F;t&#x201C;. I&#x017F;t es erfreulich, wenn<lb/>
man eine Erholungs&#x017F;pritzfahrt machen will, etwa<lb/>
nach Dresden oder dem Harz, überall buch&#x017F;täblich<lb/>
auf die Men&#x017F;chen zu <hi rendition="#g">treten?</hi> </p><lb/>
          <p>Nein, bis jetzt habe ich von den Pfing&#x017F;ttagen<lb/>
noch nie eine reine Freude gehabt; im Gegen-<lb/>
theil, der blöde Jubel der aufgeputzten Men&#x017F;chen,<lb/>
den ich in vollgepfropften Biergärten &#x017F;o oft be-<lb/>
obachtet habe, pflegte mich zu ärgern.</p><lb/>
          <p>Mein Freund Helmer, der mich im vorigen<lb/>
Jahr um die&#x017F;e Zeit be&#x017F;uchte, lachte mich aus; er<lb/>
findet ja überhaupt immer und überall etwas,<lb/>
was &#x017F;eine Heiterkeit erregt, der beneidenswerthe<lb/>
Men&#x017F;ch. Er behauptete, daß ich mit der Zeit die<lb/>
richtige, typi&#x017F;che Figur des ern&#x017F;t-mürri&#x017F;chen,<lb/>
men&#x017F;chen&#x017F;cheuen Privatgelehrten werden würde,<lb/>
wenn ich mich nicht mehr &#x201E;herausri&#x017F;&#x017F;e&#x201C;, mehr<lb/>
unter Leute und be&#x017F;onders unter <hi rendition="#g">Damen</hi><lb/>
ginge. &#x2014;</p><lb/>
          <cb/>
          <p>Gott bewahre mich! Die&#x017F;e koketten, berech-<lb/>
nenden Berlinerinnen &#x017F;ind mir ein wahrer Gräuel.<lb/>
Und überhaupt! Mir will &#x017F;cheinen, daß ein völlig<lb/>
unbefangenes, natürliches Mädchen heute gar nicht<lb/>
mehr zu finden i&#x017F;t. &#x2014; Ja, wenn ich Eine fände,<lb/>
wie meine gute Mutter war! Heiter, harmlos,<lb/>
klug, gut und hüb&#x017F;ch! Aber wo findet man das<lb/>
noch bei&#x017F;ammen!</p><lb/>
          <p>Helmer hat mich für dies Jahr nach Mar-<lb/>
burg eingeladen, und ich rei&#x017F;e morgen hin; er<lb/>
hat eine Schwäbin zur Frau, eine allerlieb&#x017F;te<lb/>
blonde Dame, die es ver&#x017F;teht, Behaglichkeit um<lb/>
&#x017F;ich zu verbreiten und Einen nicht mit feierlichen<lb/>
Fe&#x017F;tge&#x017F;ell&#x017F;chaften &#x201E;erfreut&#x201C;. Uebrigens i&#x017F;t mir<lb/>
Rei&#x017F;en eine Qual, man muß an tau&#x017F;end Baga-<lb/>
tellen denken, die an &#x017F;ich ganz unwichtig &#x017F;ind und<lb/>
&#x017F;ich unterwegs zu unglaublicher Wichtigkeit auf-<lb/>
blähen! Das Letztemal hatte ich z. B. meinen<lb/>
Gepäck&#x017F;chein verloren &#x2014; das war höch&#x017F;t unange-<lb/>
nehm. Dießmal werde ich wohl irgend &#x017F;on&#x017F;t was<lb/>
verlieren.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p> <hi rendition="#et">Marburg, Pfing&#x017F;t&#x017F;onnabend.</hi> </p><lb/>
          <p>Dem Himmel &#x017F;ei Dank, daß ich glücklich<lb/>
angelangt bin! &#x2014; Ich hatte diesmal meinen<lb/>
Gepäck&#x017F;chein nicht verloren. Aber in Ca&#x017F;&#x017F;el bin<lb/>
ich dafür in den fal&#x017F;chen Zug ge&#x017F;tiegen und fünf<lb/>
Meilen zurückgefahren &#x017F;tatt vorwärts.</p><lb/>
          <p>Ich konnte übrigens nichts dafür, denn wenn<lb/>
aus einem Coupé ein accurat &#x017F;o &#x017F;chwarzweiß ge-<lb/>
würfelter Plaid heraus&#x017F;ieht, wie meiner i&#x017F;t &#x2014;<lb/>
wenn überdies der Zugführer gerade &#x017F;einen<lb/>
trillernden Abfahrtspfiff aus&#x017F;tößt und ein aufge-<lb/><cb/>
regter Schaffner Einen vorwärts bug&#x017F;irt, &#x017F;o i&#x017F;t<lb/>
es kein Wunder, wenn man zu &#x017F;pät &#x017F;einen Irr-<lb/>
thum erkennt.</p><lb/>
          <p>So &#x017F;tand ich händeringend und heimlich<lb/>
fluchend an meinem Fen&#x017F;ter und wandte mich er&#x017F;t um,<lb/>
als ein kicherndes Lachen hinter mir ertönte. Da<lb/>
&#x017F;aß plötzlich ein junges Mädchen und neben ihr<lb/>
ein Jüngling von etwa vierzehn Jahren, der<lb/>
ganz kir&#x017F;chbraun im Ge&#x017F;icht vor unterdrücktem<lb/>
Lachen war.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Ach, erlauben Sie,&#x201C; &#x017F;agte er jetzt, indem<lb/>
er &#x017F;ich bückte und das Tuch unter meinen Füßen<lb/>
vorzog, &#x201E;dies i&#x017F;t un&#x017F;er Plaid.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Ich hob meine Füße und trat dabei dem<lb/>
jungen Mädchen auf die ihrigen; &#x017F;ie zuckte zu-<lb/>
&#x017F;ammen, ich war aber &#x017F;o erbo&#x017F;t, daß ich alle<lb/>
Höflichkeit vergaß und an&#x017F;tatt mich zu ent&#x017F;chul-<lb/>
digen einen vernehmlichen Fluch aus&#x017F;tieß.</p><lb/>
          <p>Hatte ich es nicht gleich ge&#x017F;agt, daß man zu<lb/>
Pfing&#x017F;ten geradezu auf die Men&#x017F;chen tritt? &#x2014;<lb/>
Zum Glück war Niemand da, dem ich die&#x017F;en<lb/>
&#x017F;chlechten Witz ver&#x017F;etzen konnte, aber der Fluch<lb/>
hatte doch mein Herz erleichtert, &#x017F;o daß ich nach<lb/>
und nach meinen Pfing&#x017F;t-Galgenhumor wieder-<lb/>
fand.</p><lb/>
          <p>Den Hut lüftend, wandte ich mich an mein<lb/>
hüb&#x017F;ches Gegenüber &#x2014; es war wirklich &#x017F;ehr<lb/>
niedlich &#x2014; und &#x017F;agte: &#x201E;Verzeihen Sie gütig&#x017F;t<lb/>
&#x2014; dürfte ich mir vielleicht die Frage erlauben,<lb/>
wo ich eigentlich hinfahre?&#x201C;</p><lb/>
          <p>Jetzt lachte &#x017F;ie ganz unverhohlen auf. Ein<lb/>
reizendes Lachen übrigens.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Ich glaube, Sie fahren nach Berlin, &#x2014;<lb/>
und wollten nach Marburg, nicht wahr?&#x201C;</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[1]/0001] Das „Mähriſche Tagblatt“ erſcheint mit Ausnahme der Sonn- und Feiertage täglich. Ausgabe 2 Uhr Nachmittag im Adminiſtrationslocale. Niederring Nr. 41 neu. Abonnement für Olmütz: Ganzjährig fl. 10.— Halbjährig „ 5.— Vierteljährig „ 2.50 Monatlich „ —·90 Zuſtellung ins Haus monat- lich 10 kr, Auswärts durch die Poſt: Ganzjährig fl. 14.— Halbjährig „ 7.— Vierteljährig „ 3.50 Einzelne Nummern 5 kr. Celephon Nr. 9. Mähriſches Tagblatt. Inſertionsgebühren nach aufliegendem Tarif. Außerhalb Olmütz überneh- men Inſertions-Aufträge. Heinrich Schalek, Annon- cen-Exped. in Wien, I. Woll- zeile Nr. 11, Haasenstein & Vogler, in Wien, Buda- peſt, Berlin, Frankfurt a. M. Hamburg, Baſel und Leipzig. Alois Opellik, in Wien, Rud. Mosse, in Wien, München u. Berlin. M. Dukes, Wien 1. Schulerſtraße 8. G. L. Daube und Co., Frankfurt a. M. Karoly u. Liebmann’s Annon- cenbureau in Hamburg, ſowie ſämmtl, conc. Inſertionsbu- reaus des In- u. Auslandes Manuſcripte werden nicht zurückgeſtellt. Telephon Nr. 9. Nr. 118. Olmütz, Freitag, den 22. Mai 1896. 17. Jahrgang. Was will werden? Wien, 21 Mai. (Orig.-Corr.) Die Unzufriedenheit unter den Deutſchen Oeſterreichs greift um ſich. „Die Slaven haben an Macht und Einfluß gewonnen“ — ebenſo viel haben die Deutſchen verloren. Das läßt ſich nicht anfechten und man braucht nicht auf den Aus- gleich mit Ungarn, nicht auf die Vertreibung des deutſchen Beamtenthums aus Galizien, nicht auf Krain und Laibach, nicht auf Prag und Pilſen erſt hinzuweiſen, um Glauben zu finden. Graf Badeni, der Miniſterpräſident ſelbſt, hat in einer ſeiner erſten Reden über die nationalen Forderun- gen und Beſtrebungen zugegeben, daß der Eine verlieren muß, was der Andere gewinnt. Dabei ſind diejenigen, welche ſo viel gewonnen haben, wie etwa die Tſchechen, ebenfalls unzufrieden und täglich erneuern ſie ihre alten Forderungen, er- heben ſie neue. Diejenigen dürften ſich in einem großen Irrthume befinden, die da meinen, in dem neuen Abgeordnetenhauſe mit ſeiner fünften Curie aus dem allgemeinen Stimmrechte werde die nationale Frage eine geringere Rolle ſpielen als in dem heutigen. Einige Socialiſten, welche ſich „international“ nennen, werden nicht im Stande ſein, das Gepräge des neuen Hauſes weſentlich anders zu geſtalten als das gegen- wärtige. Von dieſen Socialiſten werden überdies die meiſten, namentlich die Slaven, eigentlich doch nur verkappte Nationale ſein. Der größere Theil der aus der fünften Curie hervorgehenden Abgeordneten wird auf Grund von Candidaten- reden und Programmen gewählt ſein, in denen die nationale Frage eine ebenſo große Rolle ſpielt als bei den bisherigen Candidaturen in den alten Curien. Die Deutſchen werden ſich alſo ebenſo ſehr wie bisher in der Reichsvertretung und im Reiche ihrer Haut zu wehren haben, und ſie werden neue Verluſte erleiden, wenn auch die künftigen Regierungen das alte, im Gange von Taaffe bis heute feſtgehaltene Syſtem anwenden, welches in ſeinem letzten Ende gerade auf eine Slavi- ſirung dieſes Reiches hinauslauft, welches bisher noch immer ein vorzugsweiſe deutſches Aus- ſehen hatte. Soll dieſer Wandel nach einer ſlaviſchen Vorherrſchaft hin noch ſo lange fortdauern, bis er endlich an ſein Ziel gelangt iſt, bis es endlich einmal den Slaven wirklich gelungen iſt, den öſterreichiſchen Parlamentarismus ganz unmöglich zu machen, wenn ſie es nicht vorziehen, etwa auf Grund des allgemeinen Wahlrechtes und der Mehrheit, welche ſie zuſammengenommen gegenüber den Deutſchen haben, auch neben der Reichsregierung auch noch die Reichsvertretung zu ſlaviſiren und nach einem Uebergange mit der „Gleichberechtigung“ endlich die ſlaviſche Geſchäfts- ſprache, vielleicht ſogar die ruſſiſche, für Regie- rung und Parlament zu decretiren? Das ſieht auf den erſten Anblick ſehr utopiſch aus, man thut jedoch nicht gut in Oeſterreich irgend Etwas für unmöglich zu erklären. Das Unglaubliche wird man für glaublich halten, wenn man den Verlauf der verſchiedenen nationalen Fragen in Oeſterreich ſeit den letzten fünfzig Jahren ver- folgt. Die Deutſchen müſſen alſo daran denken, dieſen „Wundern“ die ſich unausgeſetzt bei uns vollziehen — immer auf Koſten der Deutſchen — ein Ende zu machen. Das könnte nur durch ein Sprachen- und Nationalitätengeſetz geſchehen, welches Ordnung in das Chaos der nationalen Fragen brächte und den wechſelnden Regierungen nicht weiter geſtattete, ihre täglichen Sorgen aus dem Inventar des deutſchen Volkes in Oeſterreich zu beſtreiten und gewiſſermaſſen von dem Verkaufe des einen oder des anderen Stückes der alten deutſchen Einrichtung dieſes Reiches ihr Daſein zu friſten. Man kann zugeben, daß es heute in dieſer Beziehung etwas weniger ſchlimm ſteht, als in den ſchönſten Tagen der Aera Taaffe, das Schlimmſte bei dieſem Zuſtande iſt die Möglich- keit, daß einer Erneuerung der Tage der „Ver- ſöhnungsära“ gar nichts im Wege ſteht, und daß Graf Badeni, wenn er es wollte, durch nichts verhindert wäre, noch über Taaffe hinaus- zugehen. Es hat ſich ſogar gezeigt, daß wenn eine regelrechte Regierung nicht im Stande war, den Slaven den Willen zu thun, ſogar ein Pro- viſorium aushelfen mußte, um nicht den Zorn der Deutſchen auf ſich zu nehmen, damit dann die neue definitive Regierung zunächſt unbelaſtet von aller Schuld gegen die Deutſchen ins Amt treten kann, aber gar nicht gehindert iſt, ſpäter den Deutſchen eine Unbill zuzufügen. Es gab manche dringliche Arbeit, redlich hat die deutſche Partei mitgeholfen, ſie zu bewältigen. Ja ſie hat den Löwenantheil der Mühen und Anſtrengungen zu dieſem Zwecke auf ſich genommen. Nun iſt es aber wohl an der Zeit, die Deutſchen auch von der drückenden Sorge um die Zukunft zu befreien. Sie können nicht immer im Saale Feuilleton. Die Baumkönigin. Ein Tagebuchfragment von E. Fahrow (Neurupin). (Nachdruck verboten.) Ich möchte wohl wiſſen, warum man Pfing- ſten heutzutage noch das Feſt der Freude nennt! — Iſt es etwa eine Freude, überall wo man vor dem Feſt hinkommt, ungemüthliche Scheuer- überſchwemmungen zu finden? Von Handwerkern und Kaufleuten, denen man Aufträge geben will, die achſelzuckende Abweiſung zu hören: „aber bitte nach dem Feſt erſt“. Iſt es erfreulich, wenn man eine Erholungsſpritzfahrt machen will, etwa nach Dresden oder dem Harz, überall buchſtäblich auf die Menſchen zu treten? Nein, bis jetzt habe ich von den Pfingſttagen noch nie eine reine Freude gehabt; im Gegen- theil, der blöde Jubel der aufgeputzten Menſchen, den ich in vollgepfropften Biergärten ſo oft be- obachtet habe, pflegte mich zu ärgern. Mein Freund Helmer, der mich im vorigen Jahr um dieſe Zeit beſuchte, lachte mich aus; er findet ja überhaupt immer und überall etwas, was ſeine Heiterkeit erregt, der beneidenswerthe Menſch. Er behauptete, daß ich mit der Zeit die richtige, typiſche Figur des ernſt-mürriſchen, menſchenſcheuen Privatgelehrten werden würde, wenn ich mich nicht mehr „herausriſſe“, mehr unter Leute und beſonders unter Damen ginge. — Gott bewahre mich! Dieſe koketten, berech- nenden Berlinerinnen ſind mir ein wahrer Gräuel. Und überhaupt! Mir will ſcheinen, daß ein völlig unbefangenes, natürliches Mädchen heute gar nicht mehr zu finden iſt. — Ja, wenn ich Eine fände, wie meine gute Mutter war! Heiter, harmlos, klug, gut und hübſch! Aber wo findet man das noch beiſammen! Helmer hat mich für dies Jahr nach Mar- burg eingeladen, und ich reiſe morgen hin; er hat eine Schwäbin zur Frau, eine allerliebſte blonde Dame, die es verſteht, Behaglichkeit um ſich zu verbreiten und Einen nicht mit feierlichen Feſtgeſellſchaften „erfreut“. Uebrigens iſt mir Reiſen eine Qual, man muß an tauſend Baga- tellen denken, die an ſich ganz unwichtig ſind und ſich unterwegs zu unglaublicher Wichtigkeit auf- blähen! Das Letztemal hatte ich z. B. meinen Gepäckſchein verloren — das war höchſt unange- nehm. Dießmal werde ich wohl irgend ſonſt was verlieren. Marburg, Pfingſtſonnabend. Dem Himmel ſei Dank, daß ich glücklich angelangt bin! — Ich hatte diesmal meinen Gepäckſchein nicht verloren. Aber in Caſſel bin ich dafür in den falſchen Zug geſtiegen und fünf Meilen zurückgefahren ſtatt vorwärts. Ich konnte übrigens nichts dafür, denn wenn aus einem Coupé ein accurat ſo ſchwarzweiß ge- würfelter Plaid herausſieht, wie meiner iſt — wenn überdies der Zugführer gerade ſeinen trillernden Abfahrtspfiff ausſtößt und ein aufge- regter Schaffner Einen vorwärts bugſirt, ſo iſt es kein Wunder, wenn man zu ſpät ſeinen Irr- thum erkennt. So ſtand ich händeringend und heimlich fluchend an meinem Fenſter und wandte mich erſt um, als ein kicherndes Lachen hinter mir ertönte. Da ſaß plötzlich ein junges Mädchen und neben ihr ein Jüngling von etwa vierzehn Jahren, der ganz kirſchbraun im Geſicht vor unterdrücktem Lachen war. „Ach, erlauben Sie,“ ſagte er jetzt, indem er ſich bückte und das Tuch unter meinen Füßen vorzog, „dies iſt unſer Plaid.“ Ich hob meine Füße und trat dabei dem jungen Mädchen auf die ihrigen; ſie zuckte zu- ſammen, ich war aber ſo erboſt, daß ich alle Höflichkeit vergaß und anſtatt mich zu entſchul- digen einen vernehmlichen Fluch ausſtieß. Hatte ich es nicht gleich geſagt, daß man zu Pfingſten geradezu auf die Menſchen tritt? — Zum Glück war Niemand da, dem ich dieſen ſchlechten Witz verſetzen konnte, aber der Fluch hatte doch mein Herz erleichtert, ſo daß ich nach und nach meinen Pfingſt-Galgenhumor wieder- fand. Den Hut lüftend, wandte ich mich an mein hübſches Gegenüber — es war wirklich ſehr niedlich — und ſagte: „Verzeihen Sie gütigſt — dürfte ich mir vielleicht die Frage erlauben, wo ich eigentlich hinfahre?“ Jetzt lachte ſie ganz unverhohlen auf. Ein reizendes Lachen übrigens. „Ich glaube, Sie fahren nach Berlin, — und wollten nach Marburg, nicht wahr?“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Benjamin Fiechter, Susanne Haaf: Bereitstellung der digitalen Textausgabe (Konvertierung in das DTA-Basisformat). (2018-01-26T15:49:55Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
grepect GmbH: Bereitstellung der Texttranskription und Textauszeichnung. (2018-01-26T15:49:55Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Amelie Meister: Vorbereitung der Texttranskription und Textauszeichnung. (2018-01-26T15:49:55Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.

Weitere Informationen:

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_maehrisches118_1896
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_maehrisches118_1896/1
Zitationshilfe: Mährisches Tagblatt. Nr. 118, Olmütz, 22.05.1896, S. [1]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_maehrisches118_1896/1>, abgerufen am 21.11.2024.