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Mährisches Tagblatt. Nr. 132, Olmütz, 12.06.1891.

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[Spaltenumbruch]
Politische Nachrichten.
(Gemeinsame Minister-Conferenz.)

Vor-
gestern fand in Wien eine gemeinsame Minister-
Conferenz statt. Diese Conferenz, welche in An-
gelegenheit des gemeinsamen Budgets abgehalten
wurde, hatte keinen beschließenden, sondern einen
informativen und vorbereitenden Character. Die
österreichische wie die ungarische Regierung wollten
über die Höhe der Credite Klarheit erhalten,
welche der Kriegsminister von den Delegationen
in Anspruch zu nehmen gedenkt und die bereits
in diesem vorbereitenden Stadium einen gewissen
Einfluß auf den Rahmen nehmen, innerhalb
dessen sich die Entwerfung des gemeinsamen Vor-
anschlages zu bewegen hätte. Allem Anschein nach
ist das Streben der beiderseitigen Finanzminister
darauf gerichtet, den Ausgaben-Etat der Kriegs-
verwaltung in der Höhe der für das laufende
Jahr bewilligten Credite zu erhalten.

(Der Budget-Ausschuß des Abgeordne-
tenhauses)

versammelte sich gestern Abends, um
das Finanzgesetz zu erledigen und den vom Ge-
neral-Berichterstatter Dr. v. Bilinski verfaßten
Bericht zum gesammten Staatsvoranschlag ent-
gegenzunehmen und festzustellen. Gestern Vor-
mittags hat der volkswirthschaftliche Ausschuß
den Lloydvertrag in Verhandlung gezogen, und
dieses Gesetz wird somit gleibfalls für die Bud-
get-Berathung fertiggestellt. Die General-Debatte
über den Staatsvoranschlag wird demnach näch-
sten Montag oder Dienstag ihren Anfang neh-
men können.

(Zur Reform der Geschäftsordnung im
Abgeordnetenhause.)

Der Ausschuß für die
Revision der Geschäftsordnung hielt vorgestern seine
erste Sitzung ab. Abg. Kathrein befürwortet die
Einschränkung der Debatte bei ersten Lesungen.
Er meint, das Haus solle insbesondere zwei bis
sechs Wochen nach der Einbringung des Budgets
dasselbe im Plenum berathen. Petitionen sollen
wenigstens alle 14 Tage verhandelt werden. Er
befürwortet die Erweiterung der Disciplinarge-
walt des Vorsitzenden, hiebei habe jedoch die
größte Vorsicht vorzuwalten und eventuelle Stra-
fen seien nur mit stark qualificirter Majorität
zu verhängen behufs Verhinderung von Verge-
waltigungen der Minoritäten. Abg. Chlumecky
ist größtentheils mit den Anträgen des Abg.
Kathrein einverstanden, wünscht aber bei einer
Vorlage nur eine Generaldebatte bei der ersten
oder zweiten Lesung; bei Anträgen auf nament-
liche Abstimmung oder Constatirung des Stim-
menverhältnisses solle die Unterstützung einer
größeren Zahl von Abgeordneten nothwendig sein
als wie bisher 50. Er befürwortet ebenfalls die
[Spaltenumbruch] größte Vorsicht bei Disciplinarstrafen, welche nur
verhängt werden sollen, wenn die Fortsetzung
der Verhandlung durch die Störung von Abge-
ordneten geradezu unmöglich gemacht wird. Bei
der Beantwortung von Interpellationen solle
dem Minister eine bestimmte Frist gegeben wer-
den. Wenn diese nicht eingehalten wird, solle der
Abgeordnete berechtigt sein, hier über die Eröffnung
der Debatte zu verlangen. Abg. Herbst spricht sich
gegen eine weitgehende Reform der Geschäftsord-
nung aus. Wünschenswerther erscheine ihm die
Vermehrung der Haussitzungen und die Ver-
minderung der Mitglieder der Ausschüsse. Abg.
Kathrein erklärt, von einer allgemeinen Reform
der Geschäftsordnung sei keine Rede. Er halte es
für angezeigt, ein Sub-Comite zur Ausarbeitung
der Reformvorschläge einzusetzen.

(Die deutschen Getreidezölle.)

Im preußi-
schen Abgeordnetenhause gelangte gestern der An-
trag Rickerts von der deutsch freisinnigen Partei
zur Verhandlung. Dieser Antrag geht bekanntlich
dahin, die Regierung möge das Mat rial be-
kanntgeben, welches dem Beschlusse zu Grunde
lag, nach welchem der Reichskanzler am 1. Juni
im Abgeordnetenhause seine motivirten Erklärun-
gen in Bezug auf die Frage der zeitweisen Her-
ab-, resp. Außerkraftsetzung der Getreidezölle ab-
gab. Reichskanzler von Caprivi ersuchte das
Haus im Namen der Staatsregierung, den An-
trag Rickert abzulehnen. Die Staatsregierung,
sagte der Reichskanzler, könne auf die beabsich-
tigte Discussion nicht näher eingehen; sie habe
keinen Grund, den am 1. Juni eingenommenen
Standpunkt zu ändern. Auf seine damalige Aeu-
ßerung Bezug nehmend, erklärte der Reichs-
kanzler, daß das gesammte Material nicht geeig-
net sein würde, einen zahlenmäßigen Beweis zu
erbringen, da dasselbe bloß auf einer Schätzung
beruht. Ende April seien Untersuchungen ange-
stellt, aber auf die königlichen Behörden beschränkt
worden, um keine Agitation und keine Hausse-
Bewegung hervorzurufen. Außer den Zollbehör-
den seien auch die Proviantämter in den Reichs-
bankstellen befragt worden. Von denselben sei das
Material gesammelt worden, aus welchem die Re-
gierung die Ueberzeugung gewann, daß kein Noth-
stand vorhanden sei. Die Erregung des Landes habe
die Regierung veranlaßt, aus ihrer Reserve heraus-
zutreten, die Privaten im Lande und die Consulate zu
befragen. Die Erregung des Landes habe ferner
die Regierung gezwungen, eine Erklärung abzu-
geben, bevor noch das gesammte Material ge-
sammelt war. Dieses Material sei eben eine
Schätzung, ebenso wie Börsen- und Saatenbe-
richte. "Wir würden Ihnen beweisen können --
sagte der Reichskanzler -- daß wir sehr werth-
[Spaltenumbruch] volle Schätzungen besitzen; aber wir können sie
sie nicht vorlegen, weil wir keine Namen nennen
können. Die Consulatsberichte sind auch nicht zu
veröffentlichen, da die Consuln ebenfalls die
Quellen nicht neunen. Wir sind also nicht im
Stande, das Material vorzulegen. Damit ist der
Haupttheil des Antrages für uns erledigt. Es
ist überhaupt schwer, die Menschen zu überzeugen.
Ich wünsche nur, daß die Debatte nicht zu einer
weiteren Erregung führen möge. Die Regierung
ist sich ihrer Verantwortlichkeit bewußt und
wünscht, daß auch Diejenigen, welche darüber
reden, sich bewußt sein mögen, wie groß der
Schaden sein kann, der durch erregte Meinungs-
äußerung zu entstehen vermag." (Siehe Telegramm.)

(Gerüchte über den Rücktritt des russi-
schen Ministers v. Giers.)

Man spricht in
Petersburg wieder einmal von dem bevorstehen-
den Rücktritte des Herrn v. Giers. Sein Ein-
fluß sei schon lange darauf beschränkt, den Cul-
tus der höflichen diplomatischen Formen in der
russischen Diplomatie lebendig zu erhalten, neuer-
dings aber scheine sein körperlicher Zustand jede
angespannte Arbeit unmöglich zu machen. Zur
Zeit weilt er in Finnland, um nur einmal
wöchentlich in Petersburg einzukehren. Die Ge-
schäfte und die Politik würden ohne ihn gemacht.
Im asiatischen Departement des Auswärtigen
Amtes haben sich vor Kurzem bekanntlich wichtige
Veränderungen vollzogen. Kommen diese Herren
an das Ruder, so ist eine Besserung des deutsch-
russischen Verhältnisses wahrscheinlich für längere
Zeit ausgeschlossen.

(Die Judenverfolgungen in Rußland.)

In Bezug auf die Judenverfolgungen in Ruß-
land findet man in der "Times" nachstehende
Petersburger Depesche: Während des jüngsten
Aufenthaltes des Czars in Moskau berichtete
der neue General-Gouverneur Großfürst Sergius
seinem kaiserlichen Bruder über die Art und
Weise, wie die jüdischen Handwerker von dort
ausgewiesen wurden. Der Großfürst soll insbe-
sondere auf die brutale Behandlung der Juden
und den Umstand hingewiesen haben, daß man
ihnen nicht die Zeit zur Abwicklung ihrer Ge-
schäfte gelassen habe. Wie verlautet, hätte der
Czar sich daraufhin mit Entrüstung über das
Vorgehen der Behörden bei Ausführung des
Ausweisungs-Ukas ausgesprochen, in welchem
ganz ausdrücklich die allmälige Entfernung der
Juden anbefohlen worden sei, damit denselben
die Zeit zur Ordnung ihrer Geschäfte gegönnt
werde. Es sollen nunmehr, wie versichert wird,
Befehle ergangen sein, welche dieser empörenden
Sachlage ein Ende machen und die Behörden
zwingen dürften, sich an den stricten Wortlaut




[Spaltenumbruch]

und erzählte die ganze Geschichte ... von der
alten Weide ... von dem Postwagen, der immer
zur rechten Zeit gekommen ... vom armen
Conducteur. Der Beamte nahm den Postbeutel,
band den Riemen auf und wechselte die Farben.

-- Sofort! rief er und eilte in das
Sitzungszimmer, wo ihn seine Collegen um-
ringten, geschäftig hin und her liefen und unter
einander tuschelten. Nach etwa zehn Minuten
brachte er den Beutel wieder zurück und sagte
zu Archipp: Bist an den unrechten Ort ge-
kommen, Brüderchen. Gehe in die "Untere Straße"
-- da wird man Dich zurechtweisen -- hier ist
das Rentamt, mein Lieber. Du aber mußt Deine
Sache der Polizei vortragen!

Archipp nahm den Postbeutel und ging.
Der Beutel ist leichter geworden, dachte er, zur
Hälfte ist er leichter geworden.

In der Unteren Straße wies man ihn in ein
anderes gelbes Haus mit zwei Schilderhäuschen.
Er trat ein -- hier war kein Vorzimmer --
näherte sich einem der Tische und erzählte den
Schreibern, weshalb er gekommen. Dieselben
rissen ihm den Beutel aus den Händen, schrieen
ihn an und schickten nach dem Vorstand. Ein
dicker Herr mit schwarzem Schnurrbart trat ein,
unterzog Archipp einem kurzen Verhör, nahm
den Beutel an sich und ging hinaus.

-- Wo ist das Geld? hörte nach einer
Minute Archipp im Nebenzimmer sprechen. Leer
ist der Beutel! Sagt übrigens dem Alten draußen
daß er sich packen könne ... oder haltet ihn
besser zurück ... bringt ihn zu Ivan Markovics
nein, mag er laufen!

Archipp verbeugte sich vor den Schreibern
[Spaltenumbruch] und ging seiner Wege. Anderen Tages sahen
wieder Karauschen und Barsche seinen weißen Bart.




Im Spätherbst saß der Alte an seinem ge-
wohnten Platze und angelte. Düster wie die ver-
gilbte Weide war sein Gesicht: er liebte den
Herbst nicht. Und noch düsterer wurde dasselbe,
als er neben sich den Postknecht sah. Der aber,
wie er zur Weide ging und die Hand in die
Höhlung steckte, bemerkte ihn nicht -- naß und
faul krochen Bienen über seinen Aermel -- er
stöberte, erblaßte -- eine Stunde später saß er
am Ufer und starrte gedankenlos in das Wasser.
Endlich bemerkte er Archipp und zuckte zusammen.

-- Wo ist's hingekommen? fragte er.

Archipp gab keine Antwort und wendete
sich mürrisch ab. Bald indeß überwältigte ihn
das Mitleid.

-- Hab's der Behörde überbracht, sagte er.
Fürchte Dich nicht, Du Narr ... ich sagte, daß
ich's unter der Weide gefunden hätte ...

Der Postknecht sprang in die Höhe, heulte
vor Wuth, warf sich auf Archipp, schlug ihm
ins Gesicht, schleuderte ihn auf die Erde und
trat ihn mit den Füßen. Nachdem er den Alten
mißhandelt hatte, wich er nicht mehr von dessen
Seite ... er blieb bei Archipp und sie wohnten
zusammen.

Tagsüber saß er schweigsam brütend oder schlief,
in der Nacht ging er auf dem Damm auf und nieder
-- dort erschien ihm der Schatten des Conduc-
teurs und hielt Zwiesprach mit ihm.

Das Frühjahr kam ... noch immer schwieg
der Postknecht, schlief, brütete ... noch immer
nahte sich ihm, bang und leise flüsternd, das
Gespenst in der lautlosen Nacht.


[Spaltenumbruch]

Einst näherte sich ihm Archipp.

-- Hör' auf, Du Narr, umherzuschlendern,
sagte er. Geh' fort von hier ... gib Dich an!

Durch die Blätter der Weide, als ob sie
zustimmten, ging ein Rauschen.

-- Ich vermag's nicht, stöhnte der Post-
knecht. Die Füße schmerzen ... und mich schmerzt
die Seele.

Da nahm ihn Archipp unter dem Arm und
führte ihn in die Kreisstadt. In der unteren
Straße bei derselben Behörde, wo Archipp den
Postbeutel abgegeben hatte, fiel der Postknecht vor
dem Vorstand auf die Knie und that Buße.

Aber der Dicke mit dem schwarzen Schnurr-
bart wurde ärgerlich.

-- Was verleumdest Du Dich, Du Schuft!
schrie er. Bist wohl betrunken? Möchtest in's
Loch? Toll seid Ihr, Halunken! Ihr verwickelt
nur die Sache ... der Verbrecher ist nicht ge-
funden -- damit basta! Was willst Du noch?
Esel? Mach, daß Du fortkommst!

Als Archipp an den Geldbeutel erinnerte,
lachte der Schnurrbärtige laut auf und die Schrei-
ber sahen sich verwundert an. Die Polizei in der
Kreisstadt hat ein gutes Gedächtniß.

Erlösung hatte der Postknecht gesucht und
bei Menschen nicht gefunden ... da kehrte er
mit Archipp zur alten Weide zurück. Aber, es
mußte von seinem Gewissen herunter ... Er-
lösung fand er im Wasser, das wirbelnd über ihm
zusammenschlug.

Jetzt sehen auf dem Damm die beiden Alten
-- Archipp und die Weide -- zwei Schatten
huschen ... und sie flüstern mit in die stille
Nacht.




[Spaltenumbruch]
Politiſche Nachrichten.
(Gemeinſame Miniſter-Conferenz.)

Vor-
geſtern fand in Wien eine gemeinſame Miniſter-
Conferenz ſtatt. Dieſe Conferenz, welche in An-
gelegenheit des gemeinſamen Budgets abgehalten
wurde, hatte keinen beſchließenden, ſondern einen
informativen und vorbereitenden Character. Die
öſterreichiſche wie die ungariſche Regierung wollten
über die Höhe der Credite Klarheit erhalten,
welche der Kriegsminiſter von den Delegationen
in Anſpruch zu nehmen gedenkt und die bereits
in dieſem vorbereitenden Stadium einen gewiſſen
Einfluß auf den Rahmen nehmen, innerhalb
deſſen ſich die Entwerfung des gemeinſamen Vor-
anſchlages zu bewegen hätte. Allem Anſchein nach
iſt das Streben der beiderſeitigen Finanzminiſter
darauf gerichtet, den Ausgaben-Etat der Kriegs-
verwaltung in der Höhe der für das laufende
Jahr bewilligten Credite zu erhalten.

(Der Budget-Ausſchuß des Abgeordne-
tenhauſes)

verſammelte ſich geſtern Abends, um
das Finanzgeſetz zu erledigen und den vom Ge-
neral-Berichterſtatter Dr. v. Bilinski verfaßten
Bericht zum geſammten Staatsvoranſchlag ent-
gegenzunehmen und feſtzuſtellen. Geſtern Vor-
mittags hat der volkswirthſchaftliche Ausſchuß
den Lloydvertrag in Verhandlung gezogen, und
dieſes Geſetz wird ſomit gleibfalls für die Bud-
get-Berathung fertiggeſtellt. Die General-Debatte
über den Staatsvoranſchlag wird demnach näch-
ſten Montag oder Dienſtag ihren Anfang neh-
men können.

(Zur Reform der Geſchäftsordnung im
Abgeordnetenhauſe.)

Der Ausſchuß für die
Reviſion der Geſchäftsordnung hielt vorgeſtern ſeine
erſte Sitzung ab. Abg. Kathrein befürwortet die
Einſchränkung der Debatte bei erſten Leſungen.
Er meint, das Haus ſolle insbeſondere zwei bis
ſechs Wochen nach der Einbringung des Budgets
dasſelbe im Plenum berathen. Petitionen ſollen
wenigſtens alle 14 Tage verhandelt werden. Er
befürwortet die Erweiterung der Disciplinarge-
walt des Vorſitzenden, hiebei habe jedoch die
größte Vorſicht vorzuwalten und eventuelle Stra-
fen ſeien nur mit ſtark qualificirter Majorität
zu verhängen behufs Verhinderung von Verge-
waltigungen der Minoritäten. Abg. Chlumecky
iſt größtentheils mit den Anträgen des Abg.
Kathrein einverſtanden, wünſcht aber bei einer
Vorlage nur eine Generaldebatte bei der erſten
oder zweiten Leſung; bei Anträgen auf nament-
liche Abſtimmung oder Conſtatirung des Stim-
menverhältniſſes ſolle die Unterſtützung einer
größeren Zahl von Abgeordneten nothwendig ſein
als wie bisher 50. Er befürwortet ebenfalls die
[Spaltenumbruch] größte Vorſicht bei Disciplinarſtrafen, welche nur
verhängt werden ſollen, wenn die Fortſetzung
der Verhandlung durch die Störung von Abge-
ordneten geradezu unmöglich gemacht wird. Bei
der Beantwortung von Interpellationen ſolle
dem Miniſter eine beſtimmte Friſt gegeben wer-
den. Wenn dieſe nicht eingehalten wird, ſolle der
Abgeordnete berechtigt ſein, hier über die Eröffnung
der Debatte zu verlangen. Abg. Herbſt ſpricht ſich
gegen eine weitgehende Reform der Geſchäftsord-
nung aus. Wünſchenswerther erſcheine ihm die
Vermehrung der Hausſitzungen und die Ver-
minderung der Mitglieder der Ausſchüſſe. Abg.
Kathrein erklärt, von einer allgemeinen Reform
der Geſchäftsordnung ſei keine Rede. Er halte es
für angezeigt, ein Sub-Comité zur Ausarbeitung
der Reformvorſchläge einzuſetzen.

(Die deutſchen Getreidezölle.)

Im preußi-
ſchen Abgeordnetenhauſe gelangte geſtern der An-
trag Rickerts von der deutſch freiſinnigen Partei
zur Verhandlung. Dieſer Antrag geht bekanntlich
dahin, die Regierung möge das Mat rial be-
kanntgeben, welches dem Beſchluſſe zu Grunde
lag, nach welchem der Reichskanzler am 1. Juni
im Abgeordnetenhauſe ſeine motivirten Erklärun-
gen in Bezug auf die Frage der zeitweiſen Her-
ab-, reſp. Außerkraftſetzung der Getreidezölle ab-
gab. Reichskanzler von Caprivi erſuchte das
Haus im Namen der Staatsregierung, den An-
trag Rickert abzulehnen. Die Staatsregierung,
ſagte der Reichskanzler, könne auf die beabſich-
tigte Discuſſion nicht näher eingehen; ſie habe
keinen Grund, den am 1. Juni eingenommenen
Standpunkt zu ändern. Auf ſeine damalige Aeu-
ßerung Bezug nehmend, erklärte der Reichs-
kanzler, daß das geſammte Material nicht geeig-
net ſein würde, einen zahlenmäßigen Beweis zu
erbringen, da dasſelbe bloß auf einer Schätzung
beruht. Ende April ſeien Unterſuchungen ange-
ſtellt, aber auf die königlichen Behörden beſchränkt
worden, um keine Agitation und keine Hauſſe-
Bewegung hervorzurufen. Außer den Zollbehör-
den ſeien auch die Proviantämter in den Reichs-
bankſtellen befragt worden. Von denſelben ſei das
Material geſammelt worden, aus welchem die Re-
gierung die Ueberzeugung gewann, daß kein Noth-
ſtand vorhanden ſei. Die Erregung des Landes habe
die Regierung veranlaßt, aus ihrer Reſerve heraus-
zutreten, die Privaten im Lande und die Conſulate zu
befragen. Die Erregung des Landes habe ferner
die Regierung gezwungen, eine Erklärung abzu-
geben, bevor noch das geſammte Material ge-
ſammelt war. Dieſes Material ſei eben eine
Schätzung, ebenſo wie Börſen- und Saatenbe-
richte. „Wir würden Ihnen beweiſen können —
ſagte der Reichskanzler — daß wir ſehr werth-
[Spaltenumbruch] volle Schätzungen beſitzen; aber wir können ſie
ſie nicht vorlegen, weil wir keine Namen nennen
können. Die Conſulatsberichte ſind auch nicht zu
veröffentlichen, da die Conſuln ebenfalls die
Quellen nicht neunen. Wir ſind alſo nicht im
Stande, das Material vorzulegen. Damit iſt der
Haupttheil des Antrages für uns erledigt. Es
iſt überhaupt ſchwer, die Menſchen zu überzeugen.
Ich wünſche nur, daß die Debatte nicht zu einer
weiteren Erregung führen möge. Die Regierung
iſt ſich ihrer Verantwortlichkeit bewußt und
wünſcht, daß auch Diejenigen, welche darüber
reden, ſich bewußt ſein mögen, wie groß der
Schaden ſein kann, der durch erregte Meinungs-
äußerung zu entſtehen vermag.“ (Siehe Telegramm.)

(Gerüchte über den Rücktritt des ruſſi-
ſchen Miniſters v. Giers.)

Man ſpricht in
Petersburg wieder einmal von dem bevorſtehen-
den Rücktritte des Herrn v. Giers. Sein Ein-
fluß ſei ſchon lange darauf beſchränkt, den Cul-
tus der höflichen diplomatiſchen Formen in der
ruſſiſchen Diplomatie lebendig zu erhalten, neuer-
dings aber ſcheine ſein körperlicher Zuſtand jede
angeſpannte Arbeit unmöglich zu machen. Zur
Zeit weilt er in Finnland, um nur einmal
wöchentlich in Petersburg einzukehren. Die Ge-
ſchäfte und die Politik würden ohne ihn gemacht.
Im aſiatiſchen Departement des Auswärtigen
Amtes haben ſich vor Kurzem bekanntlich wichtige
Veränderungen vollzogen. Kommen dieſe Herren
an das Ruder, ſo iſt eine Beſſerung des deutſch-
ruſſiſchen Verhältniſſes wahrſcheinlich für längere
Zeit ausgeſchloſſen.

(Die Judenverfolgungen in Rußland.)

In Bezug auf die Judenverfolgungen in Ruß-
land findet man in der „Times“ nachſtehende
Petersburger Depeſche: Während des jüngſten
Aufenthaltes des Czars in Moskau berichtete
der neue General-Gouverneur Großfürſt Sergius
ſeinem kaiſerlichen Bruder über die Art und
Weiſe, wie die jüdiſchen Handwerker von dort
ausgewieſen wurden. Der Großfürſt ſoll insbe-
ſondere auf die brutale Behandlung der Juden
und den Umſtand hingewieſen haben, daß man
ihnen nicht die Zeit zur Abwicklung ihrer Ge-
ſchäfte gelaſſen habe. Wie verlautet, hätte der
Czar ſich daraufhin mit Entrüſtung über das
Vorgehen der Behörden bei Ausführung des
Ausweiſungs-Ukas ausgeſprochen, in welchem
ganz ausdrücklich die allmälige Entfernung der
Juden anbefohlen worden ſei, damit denſelben
die Zeit zur Ordnung ihrer Geſchäfte gegönnt
werde. Es ſollen nunmehr, wie verſichert wird,
Befehle ergangen ſein, welche dieſer empörenden
Sachlage ein Ende machen und die Behörden
zwingen dürften, ſich an den ſtricten Wortlaut




[Spaltenumbruch]

und erzählte die ganze Geſchichte ... von der
alten Weide ... von dem Poſtwagen, der immer
zur rechten Zeit gekommen ... vom armen
Conducteur. Der Beamte nahm den Poſtbeutel,
band den Riemen auf und wechſelte die Farben.

— Sofort! rief er und eilte in das
Sitzungszimmer, wo ihn ſeine Collegen um-
ringten, geſchäftig hin und her liefen und unter
einander tuſchelten. Nach etwa zehn Minuten
brachte er den Beutel wieder zurück und ſagte
zu Archipp: Biſt an den unrechten Ort ge-
kommen, Brüderchen. Gehe in die „Untere Straße“
— da wird man Dich zurechtweiſen — hier iſt
das Rentamt, mein Lieber. Du aber mußt Deine
Sache der Polizei vortragen!

Archipp nahm den Poſtbeutel und ging.
Der Beutel iſt leichter geworden, dachte er, zur
Hälfte iſt er leichter geworden.

In der Unteren Straße wies man ihn in ein
anderes gelbes Haus mit zwei Schilderhäuschen.
Er trat ein — hier war kein Vorzimmer —
näherte ſich einem der Tiſche und erzählte den
Schreibern, weshalb er gekommen. Dieſelben
riſſen ihm den Beutel aus den Händen, ſchrieen
ihn an und ſchickten nach dem Vorſtand. Ein
dicker Herr mit ſchwarzem Schnurrbart trat ein,
unterzog Archipp einem kurzen Verhör, nahm
den Beutel an ſich und ging hinaus.

— Wo iſt das Geld? hörte nach einer
Minute Archipp im Nebenzimmer ſprechen. Leer
iſt der Beutel! Sagt übrigens dem Alten draußen
daß er ſich packen könne ... oder haltet ihn
beſſer zurück ... bringt ihn zu Ivan Markovics
nein, mag er laufen!

Archipp verbeugte ſich vor den Schreibern
[Spaltenumbruch] und ging ſeiner Wege. Anderen Tages ſahen
wieder Karauſchen und Barſche ſeinen weißen Bart.




Im Spätherbſt ſaß der Alte an ſeinem ge-
wohnten Platze und angelte. Düſter wie die ver-
gilbte Weide war ſein Geſicht: er liebte den
Herbſt nicht. Und noch düſterer wurde dasſelbe,
als er neben ſich den Poſtknecht ſah. Der aber,
wie er zur Weide ging und die Hand in die
Höhlung ſteckte, bemerkte ihn nicht — naß und
faul krochen Bienen über ſeinen Aermel — er
ſtöberte, erblaßte — eine Stunde ſpäter ſaß er
am Ufer und ſtarrte gedankenlos in das Waſſer.
Endlich bemerkte er Archipp und zuckte zuſammen.

— Wo iſt’s hingekommen? fragte er.

Archipp gab keine Antwort und wendete
ſich mürriſch ab. Bald indeß überwältigte ihn
das Mitleid.

— Hab’s der Behörde überbracht, ſagte er.
Fürchte Dich nicht, Du Narr ... ich ſagte, daß
ich’s unter der Weide gefunden hätte ...

Der Poſtknecht ſprang in die Höhe, heulte
vor Wuth, warf ſich auf Archipp, ſchlug ihm
ins Geſicht, ſchleuderte ihn auf die Erde und
trat ihn mit den Füßen. Nachdem er den Alten
mißhandelt hatte, wich er nicht mehr von deſſen
Seite ... er blieb bei Archipp und ſie wohnten
zuſammen.

Tagsüber ſaß er ſchweigſam brütend oder ſchlief,
in der Nacht ging er auf dem Damm auf und nieder
— dort erſchien ihm der Schatten des Conduc-
teurs und hielt Zwieſprach mit ihm.

Das Frühjahr kam ... noch immer ſchwieg
der Poſtknecht, ſchlief, brütete ... noch immer
nahte ſich ihm, bang und leiſe flüſternd, das
Geſpenſt in der lautloſen Nacht.


[Spaltenumbruch]

Einſt näherte ſich ihm Archipp.

— Hör’ auf, Du Narr, umherzuſchlendern,
ſagte er. Geh’ fort von hier ... gib Dich an!

Durch die Blätter der Weide, als ob ſie
zuſtimmten, ging ein Rauſchen.

— Ich vermag’s nicht, ſtöhnte der Poſt-
knecht. Die Füße ſchmerzen ... und mich ſchmerzt
die Seele.

Da nahm ihn Archipp unter dem Arm und
führte ihn in die Kreisſtadt. In der unteren
Straße bei derſelben Behörde, wo Archipp den
Poſtbeutel abgegeben hatte, fiel der Poſtknecht vor
dem Vorſtand auf die Knie und that Buße.

Aber der Dicke mit dem ſchwarzen Schnurr-
bart wurde ärgerlich.

— Was verleumdeſt Du Dich, Du Schuft!
ſchrie er. Biſt wohl betrunken? Möchteſt in’s
Loch? Toll ſeid Ihr, Halunken! Ihr verwickelt
nur die Sache ... der Verbrecher iſt nicht ge-
funden — damit baſta! Was willſt Du noch?
Eſel? Mach, daß Du fortkommſt!

Als Archipp an den Geldbeutel erinnerte,
lachte der Schnurrbärtige laut auf und die Schrei-
ber ſahen ſich verwundert an. Die Polizei in der
Kreisſtadt hat ein gutes Gedächtniß.

Erlöſung hatte der Poſtknecht geſucht und
bei Menſchen nicht gefunden ... da kehrte er
mit Archipp zur alten Weide zurück. Aber, es
mußte von ſeinem Gewiſſen herunter ... Er-
löſung fand er im Waſſer, das wirbelnd über ihm
zuſammenſchlug.

Jetzt ſehen auf dem Damm die beiden Alten
— Archipp und die Weide — zwei Schatten
huſchen ... und ſie flüſtern mit in die ſtille
Nacht.




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[[2]/0002] Politiſche Nachrichten. (Gemeinſame Miniſter-Conferenz.) Vor- geſtern fand in Wien eine gemeinſame Miniſter- Conferenz ſtatt. Dieſe Conferenz, welche in An- gelegenheit des gemeinſamen Budgets abgehalten wurde, hatte keinen beſchließenden, ſondern einen informativen und vorbereitenden Character. Die öſterreichiſche wie die ungariſche Regierung wollten über die Höhe der Credite Klarheit erhalten, welche der Kriegsminiſter von den Delegationen in Anſpruch zu nehmen gedenkt und die bereits in dieſem vorbereitenden Stadium einen gewiſſen Einfluß auf den Rahmen nehmen, innerhalb deſſen ſich die Entwerfung des gemeinſamen Vor- anſchlages zu bewegen hätte. Allem Anſchein nach iſt das Streben der beiderſeitigen Finanzminiſter darauf gerichtet, den Ausgaben-Etat der Kriegs- verwaltung in der Höhe der für das laufende Jahr bewilligten Credite zu erhalten. (Der Budget-Ausſchuß des Abgeordne- tenhauſes) verſammelte ſich geſtern Abends, um das Finanzgeſetz zu erledigen und den vom Ge- neral-Berichterſtatter Dr. v. Bilinski verfaßten Bericht zum geſammten Staatsvoranſchlag ent- gegenzunehmen und feſtzuſtellen. Geſtern Vor- mittags hat der volkswirthſchaftliche Ausſchuß den Lloydvertrag in Verhandlung gezogen, und dieſes Geſetz wird ſomit gleibfalls für die Bud- get-Berathung fertiggeſtellt. Die General-Debatte über den Staatsvoranſchlag wird demnach näch- ſten Montag oder Dienſtag ihren Anfang neh- men können. (Zur Reform der Geſchäftsordnung im Abgeordnetenhauſe.) Der Ausſchuß für die Reviſion der Geſchäftsordnung hielt vorgeſtern ſeine erſte Sitzung ab. Abg. Kathrein befürwortet die Einſchränkung der Debatte bei erſten Leſungen. Er meint, das Haus ſolle insbeſondere zwei bis ſechs Wochen nach der Einbringung des Budgets dasſelbe im Plenum berathen. Petitionen ſollen wenigſtens alle 14 Tage verhandelt werden. Er befürwortet die Erweiterung der Disciplinarge- walt des Vorſitzenden, hiebei habe jedoch die größte Vorſicht vorzuwalten und eventuelle Stra- fen ſeien nur mit ſtark qualificirter Majorität zu verhängen behufs Verhinderung von Verge- waltigungen der Minoritäten. Abg. Chlumecky iſt größtentheils mit den Anträgen des Abg. Kathrein einverſtanden, wünſcht aber bei einer Vorlage nur eine Generaldebatte bei der erſten oder zweiten Leſung; bei Anträgen auf nament- liche Abſtimmung oder Conſtatirung des Stim- menverhältniſſes ſolle die Unterſtützung einer größeren Zahl von Abgeordneten nothwendig ſein als wie bisher 50. Er befürwortet ebenfalls die größte Vorſicht bei Disciplinarſtrafen, welche nur verhängt werden ſollen, wenn die Fortſetzung der Verhandlung durch die Störung von Abge- ordneten geradezu unmöglich gemacht wird. Bei der Beantwortung von Interpellationen ſolle dem Miniſter eine beſtimmte Friſt gegeben wer- den. Wenn dieſe nicht eingehalten wird, ſolle der Abgeordnete berechtigt ſein, hier über die Eröffnung der Debatte zu verlangen. Abg. Herbſt ſpricht ſich gegen eine weitgehende Reform der Geſchäftsord- nung aus. Wünſchenswerther erſcheine ihm die Vermehrung der Hausſitzungen und die Ver- minderung der Mitglieder der Ausſchüſſe. Abg. Kathrein erklärt, von einer allgemeinen Reform der Geſchäftsordnung ſei keine Rede. Er halte es für angezeigt, ein Sub-Comité zur Ausarbeitung der Reformvorſchläge einzuſetzen. (Die deutſchen Getreidezölle.) Im preußi- ſchen Abgeordnetenhauſe gelangte geſtern der An- trag Rickerts von der deutſch freiſinnigen Partei zur Verhandlung. Dieſer Antrag geht bekanntlich dahin, die Regierung möge das Mat rial be- kanntgeben, welches dem Beſchluſſe zu Grunde lag, nach welchem der Reichskanzler am 1. Juni im Abgeordnetenhauſe ſeine motivirten Erklärun- gen in Bezug auf die Frage der zeitweiſen Her- ab-, reſp. Außerkraftſetzung der Getreidezölle ab- gab. Reichskanzler von Caprivi erſuchte das Haus im Namen der Staatsregierung, den An- trag Rickert abzulehnen. Die Staatsregierung, ſagte der Reichskanzler, könne auf die beabſich- tigte Discuſſion nicht näher eingehen; ſie habe keinen Grund, den am 1. Juni eingenommenen Standpunkt zu ändern. Auf ſeine damalige Aeu- ßerung Bezug nehmend, erklärte der Reichs- kanzler, daß das geſammte Material nicht geeig- net ſein würde, einen zahlenmäßigen Beweis zu erbringen, da dasſelbe bloß auf einer Schätzung beruht. Ende April ſeien Unterſuchungen ange- ſtellt, aber auf die königlichen Behörden beſchränkt worden, um keine Agitation und keine Hauſſe- Bewegung hervorzurufen. Außer den Zollbehör- den ſeien auch die Proviantämter in den Reichs- bankſtellen befragt worden. Von denſelben ſei das Material geſammelt worden, aus welchem die Re- gierung die Ueberzeugung gewann, daß kein Noth- ſtand vorhanden ſei. Die Erregung des Landes habe die Regierung veranlaßt, aus ihrer Reſerve heraus- zutreten, die Privaten im Lande und die Conſulate zu befragen. Die Erregung des Landes habe ferner die Regierung gezwungen, eine Erklärung abzu- geben, bevor noch das geſammte Material ge- ſammelt war. Dieſes Material ſei eben eine Schätzung, ebenſo wie Börſen- und Saatenbe- richte. „Wir würden Ihnen beweiſen können — ſagte der Reichskanzler — daß wir ſehr werth- volle Schätzungen beſitzen; aber wir können ſie ſie nicht vorlegen, weil wir keine Namen nennen können. Die Conſulatsberichte ſind auch nicht zu veröffentlichen, da die Conſuln ebenfalls die Quellen nicht neunen. Wir ſind alſo nicht im Stande, das Material vorzulegen. Damit iſt der Haupttheil des Antrages für uns erledigt. Es iſt überhaupt ſchwer, die Menſchen zu überzeugen. Ich wünſche nur, daß die Debatte nicht zu einer weiteren Erregung führen möge. Die Regierung iſt ſich ihrer Verantwortlichkeit bewußt und wünſcht, daß auch Diejenigen, welche darüber reden, ſich bewußt ſein mögen, wie groß der Schaden ſein kann, der durch erregte Meinungs- äußerung zu entſtehen vermag.“ (Siehe Telegramm.) (Gerüchte über den Rücktritt des ruſſi- ſchen Miniſters v. Giers.) Man ſpricht in Petersburg wieder einmal von dem bevorſtehen- den Rücktritte des Herrn v. Giers. Sein Ein- fluß ſei ſchon lange darauf beſchränkt, den Cul- tus der höflichen diplomatiſchen Formen in der ruſſiſchen Diplomatie lebendig zu erhalten, neuer- dings aber ſcheine ſein körperlicher Zuſtand jede angeſpannte Arbeit unmöglich zu machen. Zur Zeit weilt er in Finnland, um nur einmal wöchentlich in Petersburg einzukehren. Die Ge- ſchäfte und die Politik würden ohne ihn gemacht. Im aſiatiſchen Departement des Auswärtigen Amtes haben ſich vor Kurzem bekanntlich wichtige Veränderungen vollzogen. Kommen dieſe Herren an das Ruder, ſo iſt eine Beſſerung des deutſch- ruſſiſchen Verhältniſſes wahrſcheinlich für längere Zeit ausgeſchloſſen. (Die Judenverfolgungen in Rußland.) In Bezug auf die Judenverfolgungen in Ruß- land findet man in der „Times“ nachſtehende Petersburger Depeſche: Während des jüngſten Aufenthaltes des Czars in Moskau berichtete der neue General-Gouverneur Großfürſt Sergius ſeinem kaiſerlichen Bruder über die Art und Weiſe, wie die jüdiſchen Handwerker von dort ausgewieſen wurden. Der Großfürſt ſoll insbe- ſondere auf die brutale Behandlung der Juden und den Umſtand hingewieſen haben, daß man ihnen nicht die Zeit zur Abwicklung ihrer Ge- ſchäfte gelaſſen habe. Wie verlautet, hätte der Czar ſich daraufhin mit Entrüſtung über das Vorgehen der Behörden bei Ausführung des Ausweiſungs-Ukas ausgeſprochen, in welchem ganz ausdrücklich die allmälige Entfernung der Juden anbefohlen worden ſei, damit denſelben die Zeit zur Ordnung ihrer Geſchäfte gegönnt werde. Es ſollen nunmehr, wie verſichert wird, Befehle ergangen ſein, welche dieſer empörenden Sachlage ein Ende machen und die Behörden zwingen dürften, ſich an den ſtricten Wortlaut und erzählte die ganze Geſchichte ... von der alten Weide ... von dem Poſtwagen, der immer zur rechten Zeit gekommen ... vom armen Conducteur. Der Beamte nahm den Poſtbeutel, band den Riemen auf und wechſelte die Farben. — Sofort! rief er und eilte in das Sitzungszimmer, wo ihn ſeine Collegen um- ringten, geſchäftig hin und her liefen und unter einander tuſchelten. Nach etwa zehn Minuten brachte er den Beutel wieder zurück und ſagte zu Archipp: Biſt an den unrechten Ort ge- kommen, Brüderchen. Gehe in die „Untere Straße“ — da wird man Dich zurechtweiſen — hier iſt das Rentamt, mein Lieber. Du aber mußt Deine Sache der Polizei vortragen! Archipp nahm den Poſtbeutel und ging. Der Beutel iſt leichter geworden, dachte er, zur Hälfte iſt er leichter geworden. In der Unteren Straße wies man ihn in ein anderes gelbes Haus mit zwei Schilderhäuschen. Er trat ein — hier war kein Vorzimmer — näherte ſich einem der Tiſche und erzählte den Schreibern, weshalb er gekommen. Dieſelben riſſen ihm den Beutel aus den Händen, ſchrieen ihn an und ſchickten nach dem Vorſtand. Ein dicker Herr mit ſchwarzem Schnurrbart trat ein, unterzog Archipp einem kurzen Verhör, nahm den Beutel an ſich und ging hinaus. — Wo iſt das Geld? hörte nach einer Minute Archipp im Nebenzimmer ſprechen. Leer iſt der Beutel! Sagt übrigens dem Alten draußen daß er ſich packen könne ... oder haltet ihn beſſer zurück ... bringt ihn zu Ivan Markovics nein, mag er laufen! Archipp verbeugte ſich vor den Schreibern und ging ſeiner Wege. Anderen Tages ſahen wieder Karauſchen und Barſche ſeinen weißen Bart. Im Spätherbſt ſaß der Alte an ſeinem ge- wohnten Platze und angelte. Düſter wie die ver- gilbte Weide war ſein Geſicht: er liebte den Herbſt nicht. Und noch düſterer wurde dasſelbe, als er neben ſich den Poſtknecht ſah. Der aber, wie er zur Weide ging und die Hand in die Höhlung ſteckte, bemerkte ihn nicht — naß und faul krochen Bienen über ſeinen Aermel — er ſtöberte, erblaßte — eine Stunde ſpäter ſaß er am Ufer und ſtarrte gedankenlos in das Waſſer. Endlich bemerkte er Archipp und zuckte zuſammen. — Wo iſt’s hingekommen? fragte er. Archipp gab keine Antwort und wendete ſich mürriſch ab. Bald indeß überwältigte ihn das Mitleid. — Hab’s der Behörde überbracht, ſagte er. Fürchte Dich nicht, Du Narr ... ich ſagte, daß ich’s unter der Weide gefunden hätte ... Der Poſtknecht ſprang in die Höhe, heulte vor Wuth, warf ſich auf Archipp, ſchlug ihm ins Geſicht, ſchleuderte ihn auf die Erde und trat ihn mit den Füßen. Nachdem er den Alten mißhandelt hatte, wich er nicht mehr von deſſen Seite ... er blieb bei Archipp und ſie wohnten zuſammen. Tagsüber ſaß er ſchweigſam brütend oder ſchlief, in der Nacht ging er auf dem Damm auf und nieder — dort erſchien ihm der Schatten des Conduc- teurs und hielt Zwieſprach mit ihm. Das Frühjahr kam ... noch immer ſchwieg der Poſtknecht, ſchlief, brütete ... noch immer nahte ſich ihm, bang und leiſe flüſternd, das Geſpenſt in der lautloſen Nacht. Einſt näherte ſich ihm Archipp. — Hör’ auf, Du Narr, umherzuſchlendern, ſagte er. Geh’ fort von hier ... gib Dich an! Durch die Blätter der Weide, als ob ſie zuſtimmten, ging ein Rauſchen. — Ich vermag’s nicht, ſtöhnte der Poſt- knecht. Die Füße ſchmerzen ... und mich ſchmerzt die Seele. Da nahm ihn Archipp unter dem Arm und führte ihn in die Kreisſtadt. In der unteren Straße bei derſelben Behörde, wo Archipp den Poſtbeutel abgegeben hatte, fiel der Poſtknecht vor dem Vorſtand auf die Knie und that Buße. Aber der Dicke mit dem ſchwarzen Schnurr- bart wurde ärgerlich. — Was verleumdeſt Du Dich, Du Schuft! ſchrie er. Biſt wohl betrunken? Möchteſt in’s Loch? Toll ſeid Ihr, Halunken! Ihr verwickelt nur die Sache ... der Verbrecher iſt nicht ge- funden — damit baſta! Was willſt Du noch? Eſel? Mach, daß Du fortkommſt! Als Archipp an den Geldbeutel erinnerte, lachte der Schnurrbärtige laut auf und die Schrei- ber ſahen ſich verwundert an. Die Polizei in der Kreisſtadt hat ein gutes Gedächtniß. Erlöſung hatte der Poſtknecht geſucht und bei Menſchen nicht gefunden ... da kehrte er mit Archipp zur alten Weide zurück. Aber, es mußte von ſeinem Gewiſſen herunter ... Er- löſung fand er im Waſſer, das wirbelnd über ihm zuſammenſchlug. Jetzt ſehen auf dem Damm die beiden Alten — Archipp und die Weide — zwei Schatten huſchen ... und ſie flüſtern mit in die ſtille Nacht.

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Zitationshilfe: Mährisches Tagblatt. Nr. 132, Olmütz, 12.06.1891, S. [2]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_maehrisches132_1891/2>, abgerufen am 21.11.2024.