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Märkische Blätter. Jahrgang 4, Nr. 70. Hattingen, 1. September 1852.

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[Beginn Spaltensatz] Herzen aber flüsterte eine schwache Hoffuung: "Vielleicht ist es doch
nicht gerade dein Kind, das sie auswählen."

Sie wurden sofort in den Schloßhof gebracht, und Graf Ros-
zynsky trat mit mehreren Gliedern seiner Familie heraus, um seine
heranwachsenden Unterthanen zu besichtigen. Er war ein kleiner
Mann von unbedeutendem Aeußern, etwa 50 Jahre alt, mit tieflie-
genden Augen und überhängenden Brauen. Seine Gemahlin stand
fast in demselben Alter, war ungemein stark und hatte dabei ein ge-
meines Gesicht nnd eine laute unangenehme Stimme. Sie machte
sich lächerlich, indem sie aristokratische Manieren und Haltung nach-
zuahmen suchte, denn trotz der Niedrigkeit ihrer Herkunft wollten sie
und ihr Gemahl sich in jene Sphäre hinaufdrängen. Der Vater
des hochgeborenen Grafen Roszynsky war nämlich nicht mehr und
nicht weniger als Kammerdiener gewesen, hatte sich aber, da er sich
bei seinem Gebieter sehr in Gunst zu setzen wußte, eine so große
Summe zusammengescharrt, daß er seinem Sohne und Erben das
große Gut Olgogrod mit dem alleinigen Eigenthumsrecht über 1600
menschliche Wesen verkaufen konnte. Ueber diese führte nun der
Letztere eine genaue Kontrole, und wehe ihnen, wenn sie, durch den
furchtbaren Druck zur Verzweiflung gebracht, eine Handlung der
Rache zu begehen wagten. Dann konnte er sie in einen ungesunden
Kerker werfen, wo sie Jahre lang dem Tageslicht entzogen, an einer
Hand angekettet lagen, bis sogar ihr Dasein im Gedächtniß der
Menschen erlosch, den Kerkermeister ausgenommen, der ihnen täglich
einen Krug Wasser und ein Stück trocken [unleserliches Material - 4 Zeichen fehlen]Bord brachte.

Einige von den alten Bauern behaupteten, in einem dieser un-
terirdischen Kerker sei auch Sava eingemauert, der Vater jenes jun-
gen Bauernmädchens, das dort an der Spitze ihrer Gefährten neben
einem alten Weibe im Schloßhofe steht. Sava befand sich immer
in der nächsten Umgebung des Grafen, der ihn nebst seinem kleinen
mutterlosen Kinde aus fernem Lande mitgebracht hatte. Das Kind
übergab Sava der Pflege eines alten Mannes und seines Weibes,
welche die Obhut über die Bienen in einem nahe beim Schlosse ge-
legenen Walde führten, und wo er bisweilen hinging, um das Kind
zu besuchen. Aber einst verstrichen sechs lange Monde und er kam
nicht! Vergebens weinte Anielka, vergebens schrie sie: -- "Wo ist
mein Vater?" -- Kein Vater zeigte sich. Endlich verbreitete sich
das Gerücht, Sava sei mit einer großen Summe Geldes an einen
entfernten Ort gesendet und unterwegs von Räubern getödtet worden.
Jm neunten Lebensjahre verwischt sich auch der bitterste Schmerz
bald wieder, und nach sechs Monaten hörte Anielka auf sich zu grä-
men. Die zwei alten Leute waren sehr freundlich gegen sie und
liebten sie wie ihr eigenes Kind. Nie kam ihnen in den Sinn, daß
Anielka zum Dienste im Schlosse ausgewählt werden könne; denn
wer sollte so barbarisch sein, einem alten siebzigjährigen Weibe und
ihrem betagten Gatten das Kind wegzunehmen?

Es war heute das erste Mal in ihrem Leben, daß Anielka so
weit von ihrer Heimath weggekommen war. Sie betrachtete Alles,
was ihrem Auge begegnete, mit neugierigen Blicken, besonders aber
eine junge Dame, ungefähr in dem gleichen Alter mit ihr und präch-
tig gekleidet und dann einen Jüngling von 18 Jahren, der allem
Anschein nach eben von einem Ritte zurückgekehrt war, denn er hielt
eine Reitgerte in der Hand, während er an den jungen Burschen,
die in einer Reihe vor ihm aufgestellt wurden, musternd auf und
nieder ging. Er wählte zwei von ihnen aus, die alsbald nach den
Ställen abgeführt wurden.

"Und ich wähle dieses junge Mädchen," sagte Konstanze Ros-
zynsky, indem sie auf Anielka deutete. "Sie ist die hübscheste von
allen. Jch mag keine häßlichen Gesichter um mich sehen."

Als Konstanze in den Saal zurückkehrte, gab sie Besehl, Anielka
nach ihren Gemächern zu schaffen und sie der Obhut der Mademoi-
selle Dufour zu übergeben, einer Französin, welche erst kürzlich aus
dem Laden der ersten Putzmacherin in Odessa angelangt war. Das
arme Mädchen! als man sie von ihrer Adoptiv=Mutter trennte und
dem Schlosse zuführte, riß sie sich mit einem Schrei der Verzweiflung
los und schloß ihre alte Beschützerin fest, fest in die Arme! Man
stieß sie mit Gewalt auseinander und der Graf Roszynsky fragte
ruhig: "Jst es die Tochter oder die Enkelin der Alten?"

"Weder das eine nach das andere, gnädigster Herr -- nur
ein angenommenes Kind."

[Spaltenumbruch]

"Aber wer will das alte Weib heimführen, da sie blind ist?"

"Jch, gnädigster Herr," erwiderte einer von seinen Dienern,
indem er sich bis zum Boden verneigte, "ich will sie neben meinem
Pferde herlaufen lassen, und wenn sie in ihrer Hütte ist, wird ihr
alter Mann sich ihrer annehmen -- sie müssen jetzt eben gegenseitig
für einander sorgen."

Mit diesen Worten entfernte er sich mit den übrigen Bauern
und Dienern. Das arme alte Weib aber mußte von zwei Männern
weiter geschleppt werden, denn mitten in ihrem Schreien und
Schluchzen war sie fast leblos zu Boden gesunken.

Und Anielka? Sie ließen ihr Zeit zum Weinen. Sie mußte
nun alle Tage im Winkel eines Zimmers sitzen und nähen Man
erwartete von ihr, daß sie Alles gleich zum ersten Male recht mache,
und geschah dies nicht, so mußte sie hungern oder wurde grausam
abgestraft. Morgens und Abends mußte sie der Mademoiselle Du-
four beim An= und Ausziehen der Gräfin behülflich sein. Kon-
stanze sah zwar hochmüthig auf Alle herab, die unter ihr standen,
und verlangte sklavischen Gehorsam, doch war sie ziemlich freundlich
gegen die arme Waise. Die eigentliche Qual dieser begann erst,
wenn sie das Zimmer ihrer jungen Gebieterin verlassen hatte und
nun Mademoiselle Dufour helfen sollte. Ungeachtet sie sich hier be-
strebte, Alles so gut als möglich zu machen, so gelang es ihr doch
nie, die Französin zu befriedigen oder etwas Anderes, als harte Be-
weise von ihr zu erlangen.

Auf diese Weise verstrichen zwei Monate.

Eines Tages ging Mademoiselle Dufour sehr früh zur Beichte;
da ergriff Anielka eine heftige Sehnsucht, wieder einmal in Frieden
und Freiheit den schönen blauen Himmel und die grünen Bäume
zu betrachten, wie sie ehedem gethan, wenn die ersten Strahlen der
aufgehenden Sonne zu den Fenstern der kleinen Waldhütte herein-
strömten. Sie eilte in den Garten. Entzückt über den Anblick so
vieler schöner Blumen wandelte sie weiter und weiter auf den weichen,
sich schlängelnden Pfaden, bis sie endlich in den Wald gelangte, So
gar lange war sie fern von ihren lieben Bäumen gewesen; jetzt pil-
gerte sie dahin, wo sie am dicksten standen. Hier schaut sie sich kühn
um. Sie gewahrt Niemand! Sie allein! Etwas weiter weg stößt
sie auf ein Bächlein, das durch den Wald rieselt. Hier erinnert sie
sich, daß sie heute noch nicht gebetet. Sie kniet nieder, faltet die
Hände und richtet die Blicke zum Himmel empor, und beginnt nun
mit sanfter Stimme die Hymne an die Jungfrau zu singen.

Nach und nach sang sie lauter und mit größerer Jnbrunst.
Jhre Brust hob sich vor innerer Bewegung, ihre Augen leuchteten
in ungewöhnlichem Glanze; als aber die Hymne zu Ende war, ließ
sie den Kopf sinken, Thränen rollten über ihre Wangen und endlich
schluchzte sie überlaut. Sie würde wohl lange so fortgemacht haben,
wenn nicht Jemand, der unvermerkt hinter sie getreten war, ihr zu-
gerufen hätte: "Weine nicht, mein armes Mädchen, es ist besser, Du
singst, als Du weinest." Der Fremdling hob ihr den Kopf in die
Höhe, trocknete ihre Augen mit seinem Taschentuch und küßte sie auf
die Stirne.

Es war des Grafen Sohn, Leon!

"Du mußt nicht so weinen," fuhr er fort; "sei ruhig, und
wenn die Krämer kommen, so kaufe Dir ein hübsches Tuch." Bei
diesen Worten gab er ihr einen Rubel und ging weiter.

Anielka barg das Geldstück in ihren Mieder und eilte nach
dem Schlosse zurück.

Zum Glück war Mademoiselle Dufour noch nicht heimgekehrt.
Anielka setzte sich in die gewohnte Ecke. Sie nahm gar oft den
Rubel heraus und sah ihn zärtlich an; dann schickte sie sich an, eine
kleine Börse zu fertigen, welche sie an ein Band befestigt, und um
den Nacken hing. Es fiel ihr nicht ein, den Rubel auszugeben; es
würde sie im Gegentheile tief geschmerzt haben, wenn sie sich von
jenem Geschenke hätte trennen müssen, welches ihr die einzige Person
im ganzen Hause, die sie freundlich ansah, gegeben hatte.

Von dieser Zeit an blieb Anielka stets im Zimmer ihrer jun-
gen Gebieterin; sie ward besser gekleidet und Mademoiselle Dufour
hörte auf, sie zu quälen. Wem hatte sie diesen plötzlichen Wechsel
zu verdanken? Vielleicht einer Vorstellung Leons? Konstanze ließ
Anielka neben sich sitzen, wenn sie selbst Unterricht bei ihren Musik-
meistern erhielt, ging sie aber nach dem Gesellschaftssaale, so ward
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] Herzen aber flüsterte eine schwache Hoffuung: „Vielleicht ist es doch
nicht gerade dein Kind, das sie auswählen.“

Sie wurden sofort in den Schloßhof gebracht, und Graf Ros-
zynsky trat mit mehreren Gliedern seiner Familie heraus, um seine
heranwachsenden Unterthanen zu besichtigen. Er war ein kleiner
Mann von unbedeutendem Aeußern, etwa 50 Jahre alt, mit tieflie-
genden Augen und überhängenden Brauen. Seine Gemahlin stand
fast in demselben Alter, war ungemein stark und hatte dabei ein ge-
meines Gesicht nnd eine laute unangenehme Stimme. Sie machte
sich lächerlich, indem sie aristokratische Manieren und Haltung nach-
zuahmen suchte, denn trotz der Niedrigkeit ihrer Herkunft wollten sie
und ihr Gemahl sich in jene Sphäre hinaufdrängen. Der Vater
des hochgeborenen Grafen Roszynsky war nämlich nicht mehr und
nicht weniger als Kammerdiener gewesen, hatte sich aber, da er sich
bei seinem Gebieter sehr in Gunst zu setzen wußte, eine so große
Summe zusammengescharrt, daß er seinem Sohne und Erben das
große Gut Olgogrod mit dem alleinigen Eigenthumsrecht über 1600
menschliche Wesen verkaufen konnte. Ueber diese führte nun der
Letztere eine genaue Kontrole, und wehe ihnen, wenn sie, durch den
furchtbaren Druck zur Verzweiflung gebracht, eine Handlung der
Rache zu begehen wagten. Dann konnte er sie in einen ungesunden
Kerker werfen, wo sie Jahre lang dem Tageslicht entzogen, an einer
Hand angekettet lagen, bis sogar ihr Dasein im Gedächtniß der
Menschen erlosch, den Kerkermeister ausgenommen, der ihnen täglich
einen Krug Wasser und ein Stück trocken [unleserliches Material – 4 Zeichen fehlen]Bord brachte.

Einige von den alten Bauern behaupteten, in einem dieser un-
terirdischen Kerker sei auch Sava eingemauert, der Vater jenes jun-
gen Bauernmädchens, das dort an der Spitze ihrer Gefährten neben
einem alten Weibe im Schloßhofe steht. Sava befand sich immer
in der nächsten Umgebung des Grafen, der ihn nebst seinem kleinen
mutterlosen Kinde aus fernem Lande mitgebracht hatte. Das Kind
übergab Sava der Pflege eines alten Mannes und seines Weibes,
welche die Obhut über die Bienen in einem nahe beim Schlosse ge-
legenen Walde führten, und wo er bisweilen hinging, um das Kind
zu besuchen. Aber einst verstrichen sechs lange Monde und er kam
nicht! Vergebens weinte Anielka, vergebens schrie sie: — „Wo ist
mein Vater?“ — Kein Vater zeigte sich. Endlich verbreitete sich
das Gerücht, Sava sei mit einer großen Summe Geldes an einen
entfernten Ort gesendet und unterwegs von Räubern getödtet worden.
Jm neunten Lebensjahre verwischt sich auch der bitterste Schmerz
bald wieder, und nach sechs Monaten hörte Anielka auf sich zu grä-
men. Die zwei alten Leute waren sehr freundlich gegen sie und
liebten sie wie ihr eigenes Kind. Nie kam ihnen in den Sinn, daß
Anielka zum Dienste im Schlosse ausgewählt werden könne; denn
wer sollte so barbarisch sein, einem alten siebzigjährigen Weibe und
ihrem betagten Gatten das Kind wegzunehmen?

Es war heute das erste Mal in ihrem Leben, daß Anielka so
weit von ihrer Heimath weggekommen war. Sie betrachtete Alles,
was ihrem Auge begegnete, mit neugierigen Blicken, besonders aber
eine junge Dame, ungefähr in dem gleichen Alter mit ihr und präch-
tig gekleidet und dann einen Jüngling von 18 Jahren, der allem
Anschein nach eben von einem Ritte zurückgekehrt war, denn er hielt
eine Reitgerte in der Hand, während er an den jungen Burschen,
die in einer Reihe vor ihm aufgestellt wurden, musternd auf und
nieder ging. Er wählte zwei von ihnen aus, die alsbald nach den
Ställen abgeführt wurden.

„Und ich wähle dieses junge Mädchen,“ sagte Konstanze Ros-
zynsky, indem sie auf Anielka deutete. „Sie ist die hübscheste von
allen. Jch mag keine häßlichen Gesichter um mich sehen.“

Als Konstanze in den Saal zurückkehrte, gab sie Besehl, Anielka
nach ihren Gemächern zu schaffen und sie der Obhut der Mademoi-
selle Dufour zu übergeben, einer Französin, welche erst kürzlich aus
dem Laden der ersten Putzmacherin in Odessa angelangt war. Das
arme Mädchen! als man sie von ihrer Adoptiv=Mutter trennte und
dem Schlosse zuführte, riß sie sich mit einem Schrei der Verzweiflung
los und schloß ihre alte Beschützerin fest, fest in die Arme! Man
stieß sie mit Gewalt auseinander und der Graf Roszynsky fragte
ruhig: „Jst es die Tochter oder die Enkelin der Alten?“

„Weder das eine nach das andere, gnädigster Herr — nur
ein angenommenes Kind.“

[Spaltenumbruch]

„Aber wer will das alte Weib heimführen, da sie blind ist?“

„Jch, gnädigster Herr,“ erwiderte einer von seinen Dienern,
indem er sich bis zum Boden verneigte, „ich will sie neben meinem
Pferde herlaufen lassen, und wenn sie in ihrer Hütte ist, wird ihr
alter Mann sich ihrer annehmen — sie müssen jetzt eben gegenseitig
für einander sorgen.“

Mit diesen Worten entfernte er sich mit den übrigen Bauern
und Dienern. Das arme alte Weib aber mußte von zwei Männern
weiter geschleppt werden, denn mitten in ihrem Schreien und
Schluchzen war sie fast leblos zu Boden gesunken.

Und Anielka? Sie ließen ihr Zeit zum Weinen. Sie mußte
nun alle Tage im Winkel eines Zimmers sitzen und nähen Man
erwartete von ihr, daß sie Alles gleich zum ersten Male recht mache,
und geschah dies nicht, so mußte sie hungern oder wurde grausam
abgestraft. Morgens und Abends mußte sie der Mademoiselle Du-
four beim An= und Ausziehen der Gräfin behülflich sein. Kon-
stanze sah zwar hochmüthig auf Alle herab, die unter ihr standen,
und verlangte sklavischen Gehorsam, doch war sie ziemlich freundlich
gegen die arme Waise. Die eigentliche Qual dieser begann erst,
wenn sie das Zimmer ihrer jungen Gebieterin verlassen hatte und
nun Mademoiselle Dufour helfen sollte. Ungeachtet sie sich hier be-
strebte, Alles so gut als möglich zu machen, so gelang es ihr doch
nie, die Französin zu befriedigen oder etwas Anderes, als harte Be-
weise von ihr zu erlangen.

Auf diese Weise verstrichen zwei Monate.

Eines Tages ging Mademoiselle Dufour sehr früh zur Beichte;
da ergriff Anielka eine heftige Sehnsucht, wieder einmal in Frieden
und Freiheit den schönen blauen Himmel und die grünen Bäume
zu betrachten, wie sie ehedem gethan, wenn die ersten Strahlen der
aufgehenden Sonne zu den Fenstern der kleinen Waldhütte herein-
strömten. Sie eilte in den Garten. Entzückt über den Anblick so
vieler schöner Blumen wandelte sie weiter und weiter auf den weichen,
sich schlängelnden Pfaden, bis sie endlich in den Wald gelangte, So
gar lange war sie fern von ihren lieben Bäumen gewesen; jetzt pil-
gerte sie dahin, wo sie am dicksten standen. Hier schaut sie sich kühn
um. Sie gewahrt Niemand! Sie allein! Etwas weiter weg stößt
sie auf ein Bächlein, das durch den Wald rieselt. Hier erinnert sie
sich, daß sie heute noch nicht gebetet. Sie kniet nieder, faltet die
Hände und richtet die Blicke zum Himmel empor, und beginnt nun
mit sanfter Stimme die Hymne an die Jungfrau zu singen.

Nach und nach sang sie lauter und mit größerer Jnbrunst.
Jhre Brust hob sich vor innerer Bewegung, ihre Augen leuchteten
in ungewöhnlichem Glanze; als aber die Hymne zu Ende war, ließ
sie den Kopf sinken, Thränen rollten über ihre Wangen und endlich
schluchzte sie überlaut. Sie würde wohl lange so fortgemacht haben,
wenn nicht Jemand, der unvermerkt hinter sie getreten war, ihr zu-
gerufen hätte: „Weine nicht, mein armes Mädchen, es ist besser, Du
singst, als Du weinest.“ Der Fremdling hob ihr den Kopf in die
Höhe, trocknete ihre Augen mit seinem Taschentuch und küßte sie auf
die Stirne.

Es war des Grafen Sohn, Leon!

„Du mußt nicht so weinen,“ fuhr er fort; „sei ruhig, und
wenn die Krämer kommen, so kaufe Dir ein hübsches Tuch.“ Bei
diesen Worten gab er ihr einen Rubel und ging weiter.

Anielka barg das Geldstück in ihren Mieder und eilte nach
dem Schlosse zurück.

Zum Glück war Mademoiselle Dufour noch nicht heimgekehrt.
Anielka setzte sich in die gewohnte Ecke. Sie nahm gar oft den
Rubel heraus und sah ihn zärtlich an; dann schickte sie sich an, eine
kleine Börse zu fertigen, welche sie an ein Band befestigt, und um
den Nacken hing. Es fiel ihr nicht ein, den Rubel auszugeben; es
würde sie im Gegentheile tief geschmerzt haben, wenn sie sich von
jenem Geschenke hätte trennen müssen, welches ihr die einzige Person
im ganzen Hause, die sie freundlich ansah, gegeben hatte.

Von dieser Zeit an blieb Anielka stets im Zimmer ihrer jun-
gen Gebieterin; sie ward besser gekleidet und Mademoiselle Dufour
hörte auf, sie zu quälen. Wem hatte sie diesen plötzlichen Wechsel
zu verdanken? Vielleicht einer Vorstellung Leons? Konstanze ließ
Anielka neben sich sitzen, wenn sie selbst Unterricht bei ihren Musik-
meistern erhielt, ging sie aber nach dem Gesellschaftssaale, so ward
[Ende Spaltensatz]

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[0002] Herzen aber flüsterte eine schwache Hoffuung: „Vielleicht ist es doch nicht gerade dein Kind, das sie auswählen.“ Sie wurden sofort in den Schloßhof gebracht, und Graf Ros- zynsky trat mit mehreren Gliedern seiner Familie heraus, um seine heranwachsenden Unterthanen zu besichtigen. Er war ein kleiner Mann von unbedeutendem Aeußern, etwa 50 Jahre alt, mit tieflie- genden Augen und überhängenden Brauen. Seine Gemahlin stand fast in demselben Alter, war ungemein stark und hatte dabei ein ge- meines Gesicht nnd eine laute unangenehme Stimme. Sie machte sich lächerlich, indem sie aristokratische Manieren und Haltung nach- zuahmen suchte, denn trotz der Niedrigkeit ihrer Herkunft wollten sie und ihr Gemahl sich in jene Sphäre hinaufdrängen. Der Vater des hochgeborenen Grafen Roszynsky war nämlich nicht mehr und nicht weniger als Kammerdiener gewesen, hatte sich aber, da er sich bei seinem Gebieter sehr in Gunst zu setzen wußte, eine so große Summe zusammengescharrt, daß er seinem Sohne und Erben das große Gut Olgogrod mit dem alleinigen Eigenthumsrecht über 1600 menschliche Wesen verkaufen konnte. Ueber diese führte nun der Letztere eine genaue Kontrole, und wehe ihnen, wenn sie, durch den furchtbaren Druck zur Verzweiflung gebracht, eine Handlung der Rache zu begehen wagten. Dann konnte er sie in einen ungesunden Kerker werfen, wo sie Jahre lang dem Tageslicht entzogen, an einer Hand angekettet lagen, bis sogar ihr Dasein im Gedächtniß der Menschen erlosch, den Kerkermeister ausgenommen, der ihnen täglich einen Krug Wasser und ein Stück trocken ____Bord brachte. Einige von den alten Bauern behaupteten, in einem dieser un- terirdischen Kerker sei auch Sava eingemauert, der Vater jenes jun- gen Bauernmädchens, das dort an der Spitze ihrer Gefährten neben einem alten Weibe im Schloßhofe steht. Sava befand sich immer in der nächsten Umgebung des Grafen, der ihn nebst seinem kleinen mutterlosen Kinde aus fernem Lande mitgebracht hatte. Das Kind übergab Sava der Pflege eines alten Mannes und seines Weibes, welche die Obhut über die Bienen in einem nahe beim Schlosse ge- legenen Walde führten, und wo er bisweilen hinging, um das Kind zu besuchen. Aber einst verstrichen sechs lange Monde und er kam nicht! Vergebens weinte Anielka, vergebens schrie sie: — „Wo ist mein Vater?“ — Kein Vater zeigte sich. Endlich verbreitete sich das Gerücht, Sava sei mit einer großen Summe Geldes an einen entfernten Ort gesendet und unterwegs von Räubern getödtet worden. Jm neunten Lebensjahre verwischt sich auch der bitterste Schmerz bald wieder, und nach sechs Monaten hörte Anielka auf sich zu grä- men. Die zwei alten Leute waren sehr freundlich gegen sie und liebten sie wie ihr eigenes Kind. Nie kam ihnen in den Sinn, daß Anielka zum Dienste im Schlosse ausgewählt werden könne; denn wer sollte so barbarisch sein, einem alten siebzigjährigen Weibe und ihrem betagten Gatten das Kind wegzunehmen? Es war heute das erste Mal in ihrem Leben, daß Anielka so weit von ihrer Heimath weggekommen war. Sie betrachtete Alles, was ihrem Auge begegnete, mit neugierigen Blicken, besonders aber eine junge Dame, ungefähr in dem gleichen Alter mit ihr und präch- tig gekleidet und dann einen Jüngling von 18 Jahren, der allem Anschein nach eben von einem Ritte zurückgekehrt war, denn er hielt eine Reitgerte in der Hand, während er an den jungen Burschen, die in einer Reihe vor ihm aufgestellt wurden, musternd auf und nieder ging. Er wählte zwei von ihnen aus, die alsbald nach den Ställen abgeführt wurden. „Und ich wähle dieses junge Mädchen,“ sagte Konstanze Ros- zynsky, indem sie auf Anielka deutete. „Sie ist die hübscheste von allen. Jch mag keine häßlichen Gesichter um mich sehen.“ Als Konstanze in den Saal zurückkehrte, gab sie Besehl, Anielka nach ihren Gemächern zu schaffen und sie der Obhut der Mademoi- selle Dufour zu übergeben, einer Französin, welche erst kürzlich aus dem Laden der ersten Putzmacherin in Odessa angelangt war. Das arme Mädchen! als man sie von ihrer Adoptiv=Mutter trennte und dem Schlosse zuführte, riß sie sich mit einem Schrei der Verzweiflung los und schloß ihre alte Beschützerin fest, fest in die Arme! Man stieß sie mit Gewalt auseinander und der Graf Roszynsky fragte ruhig: „Jst es die Tochter oder die Enkelin der Alten?“ „Weder das eine nach das andere, gnädigster Herr — nur ein angenommenes Kind.“ „Aber wer will das alte Weib heimführen, da sie blind ist?“ „Jch, gnädigster Herr,“ erwiderte einer von seinen Dienern, indem er sich bis zum Boden verneigte, „ich will sie neben meinem Pferde herlaufen lassen, und wenn sie in ihrer Hütte ist, wird ihr alter Mann sich ihrer annehmen — sie müssen jetzt eben gegenseitig für einander sorgen.“ Mit diesen Worten entfernte er sich mit den übrigen Bauern und Dienern. Das arme alte Weib aber mußte von zwei Männern weiter geschleppt werden, denn mitten in ihrem Schreien und Schluchzen war sie fast leblos zu Boden gesunken. Und Anielka? Sie ließen ihr Zeit zum Weinen. Sie mußte nun alle Tage im Winkel eines Zimmers sitzen und nähen Man erwartete von ihr, daß sie Alles gleich zum ersten Male recht mache, und geschah dies nicht, so mußte sie hungern oder wurde grausam abgestraft. Morgens und Abends mußte sie der Mademoiselle Du- four beim An= und Ausziehen der Gräfin behülflich sein. Kon- stanze sah zwar hochmüthig auf Alle herab, die unter ihr standen, und verlangte sklavischen Gehorsam, doch war sie ziemlich freundlich gegen die arme Waise. Die eigentliche Qual dieser begann erst, wenn sie das Zimmer ihrer jungen Gebieterin verlassen hatte und nun Mademoiselle Dufour helfen sollte. Ungeachtet sie sich hier be- strebte, Alles so gut als möglich zu machen, so gelang es ihr doch nie, die Französin zu befriedigen oder etwas Anderes, als harte Be- weise von ihr zu erlangen. Auf diese Weise verstrichen zwei Monate. Eines Tages ging Mademoiselle Dufour sehr früh zur Beichte; da ergriff Anielka eine heftige Sehnsucht, wieder einmal in Frieden und Freiheit den schönen blauen Himmel und die grünen Bäume zu betrachten, wie sie ehedem gethan, wenn die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne zu den Fenstern der kleinen Waldhütte herein- strömten. Sie eilte in den Garten. Entzückt über den Anblick so vieler schöner Blumen wandelte sie weiter und weiter auf den weichen, sich schlängelnden Pfaden, bis sie endlich in den Wald gelangte, So gar lange war sie fern von ihren lieben Bäumen gewesen; jetzt pil- gerte sie dahin, wo sie am dicksten standen. Hier schaut sie sich kühn um. Sie gewahrt Niemand! Sie allein! Etwas weiter weg stößt sie auf ein Bächlein, das durch den Wald rieselt. Hier erinnert sie sich, daß sie heute noch nicht gebetet. Sie kniet nieder, faltet die Hände und richtet die Blicke zum Himmel empor, und beginnt nun mit sanfter Stimme die Hymne an die Jungfrau zu singen. Nach und nach sang sie lauter und mit größerer Jnbrunst. Jhre Brust hob sich vor innerer Bewegung, ihre Augen leuchteten in ungewöhnlichem Glanze; als aber die Hymne zu Ende war, ließ sie den Kopf sinken, Thränen rollten über ihre Wangen und endlich schluchzte sie überlaut. Sie würde wohl lange so fortgemacht haben, wenn nicht Jemand, der unvermerkt hinter sie getreten war, ihr zu- gerufen hätte: „Weine nicht, mein armes Mädchen, es ist besser, Du singst, als Du weinest.“ Der Fremdling hob ihr den Kopf in die Höhe, trocknete ihre Augen mit seinem Taschentuch und küßte sie auf die Stirne. Es war des Grafen Sohn, Leon! „Du mußt nicht so weinen,“ fuhr er fort; „sei ruhig, und wenn die Krämer kommen, so kaufe Dir ein hübsches Tuch.“ Bei diesen Worten gab er ihr einen Rubel und ging weiter. Anielka barg das Geldstück in ihren Mieder und eilte nach dem Schlosse zurück. Zum Glück war Mademoiselle Dufour noch nicht heimgekehrt. Anielka setzte sich in die gewohnte Ecke. Sie nahm gar oft den Rubel heraus und sah ihn zärtlich an; dann schickte sie sich an, eine kleine Börse zu fertigen, welche sie an ein Band befestigt, und um den Nacken hing. Es fiel ihr nicht ein, den Rubel auszugeben; es würde sie im Gegentheile tief geschmerzt haben, wenn sie sich von jenem Geschenke hätte trennen müssen, welches ihr die einzige Person im ganzen Hause, die sie freundlich ansah, gegeben hatte. Von dieser Zeit an blieb Anielka stets im Zimmer ihrer jun- gen Gebieterin; sie ward besser gekleidet und Mademoiselle Dufour hörte auf, sie zu quälen. Wem hatte sie diesen plötzlichen Wechsel zu verdanken? Vielleicht einer Vorstellung Leons? Konstanze ließ Anielka neben sich sitzen, wenn sie selbst Unterricht bei ihren Musik- meistern erhielt, ging sie aber nach dem Gesellschaftssaale, so ward

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Zitationshilfe: Märkische Blätter. Jahrgang 4, Nr. 70. Hattingen, 1. September 1852, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_maerkische070_1852/2>, abgerufen am 21.11.2024.