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Marburger Zeitung. Nr. 138, Marburg, 18.11.1902.

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schaltungen Dienstag, Donnerstag und Samstag mittags

Die Einzelnummer kostet 10 h.




Nr. 138 Dienstag, 18. November 1902 41. Jahrgang.


[Spaltenumbruch]
Ein Gespenst.

Allerseelen ist vorüber, die lange Totenreihe,
die vor unseren Augen trat, legte sich wiederum
zur Ruhe. Aber eines der Gespenster will zurück-
bleiben, will wieder Fleisch und Blut annehmen,
unter uns wandeln als knochenlose Moluske. Es
ist dies die Koalition, die unter den Fußtritten
des jungen Deutschösterreich verendete. Nun wittert
sie wieder Auferstehungsluft und über die Brücke
der Vergessenheit, angetan mit dem Schandfetzen
des Kosmopolitismus, will sie wieder ins brau-
sende, kämpfende Leben unseres Volkes treten, die
Sünden der Vergangenheit in der Gegenwart
wiederholen. Wo tauchte zum erstenmale das
Schreckgespenst der Koalition wieder auf? Wer war
der neunmal Weise, der ihren Sarg sprengte?
"Seinen Namen nennt kein Heldenbuch, kein Gesang."
Keiner will sich zur Untat bekennen. Da sagen die
einen: Die "Neue Freie Presse" sei der Toten-
erwecker, die anderen sagen, Koerber sei es gewesen.
Bestimmtes aber weiß man über den Leichenschänder
nicht. Plötzlich tauchten die Umrisse der Koalition
aus den moderigen Grüften der Vergangenheit auf
und schon schneidern ihr die Blätter den Anzug der
Parteien zu, schon gibt es ein Drängen und ein
"Geriß" um die wiedererwachte Vettel. Aus
Deutschen, Polaken und Tschechen -- ganz nach
dem Vorbilde der "Seligen" -- soll die neue
parlamentarische Koalition zusammengestoppelt
werden, ein neues Ministerium mit dem alten
v. Koerber an der Spitze soll das gelungene Werk
dann krönen. Michl, merkst Du etwas? Ein neues,
parlamentarisches Ministerium, gebildet aus natür-
[Spaltenumbruch] lich "hervorragenden" Parlamentariern! Ein vor-
witziges Wiener jüdisches Montagsblatt nannte
gestern bereits Namen .... Alles begreifen heißt
alles verzeihen ...

Unter recht netten Auspizien wird uns die
erneuerte Koalition angekündigt. Wäre die Sache
nicht so verteufelt ernst, man müßte eine grimme
Lache aufschlagen über den Wahnsinn, der sich klug
geberdet, über die Weisheit, welche überschnappt!
Den Tschechen, die, wie ohnehin überall versichert
wird, sehnlich nach einem Auswege aus der parla-
mentarischen Sackgasse, in welche sie sich verrannt
haben, Ausschau halten und die daher mit Freuden
für einige Zeit den Koalitionsweg betreten
würden, der ihnen wie damals so auch heute, auch
sonstige Vorteile bietet, denen will man von ge-
wisser "auchdeutscher" Seite anläßlich ihres Ein-
trittes in die Koalition ein neues Riesengeschenk
machen -- die innere tschechische Amts-
sprache!
Man will aus dem Leibe des Staates
und der Deutschen die Pfunde schneiden, mit denen
der doppeltgeschwänzte tschechische Löwe aufs neue
gemästet werden soll, Pfunde, deren Opferung den
Anfang vom Ende des einheitlichen Oesterreich und
einen furchtbaren Faustschlag für die volkstreuen
Deutschen im Deutschböhme[rl]ande bedeuten würde.
Aber die Neunmalweisen des Fortschrittes und alle
die, die sich um Dr. v. Koerber gruppieren, haben
für uns Deutsche auch eine "Schadloshaltung" --
Kompensation heißt es in der politischen Zünftler-
sprache -- herausgetiftelt und diese Schadloshaltung
nennt sich: Kreiseinteilung in Böhmen. Alle guten
Geister loben ihren Meister -- da taucht also noch
ein zweites Totengeripp neben dem ersten auf!
[Spaltenumbruch] Dieser Plan, wahrhaftig, er ist Fleisch vom Fleische
der Prade, Eppinger und Bachmann, Blut von
ihrem Blute und Geist von ihrem "Geiste." Und
dieses, vom deutschböhmischen Volke dreimal ver-
maledeite Totenmahl will man uns wieder auf-
tischen?!

Noch spüren wir in allen Gliedern die Wunden,
welche uns die erste Koalitionszeit schlug und schon
will man wieder das frevle Spiel erneuern!
Es würden dieselben Trümpfe, wie damals
so auch heute wieder von den gierigen Tschechen
ausgespielt werden und auch der alte Einsatz bleibt:
die nationale Wohlfahrt des deutschen Volkes!
Wiederum würde sich die alte Koalitionsluft lähmend
auf die Tatkraft der Deutschen legen, sie allein
sind es ja, welche in Gesellschaft mit den ihnen
koalierten Gegnern stets die Rolle eines Nachgiebi-
gen, des Staatsmännischen spielen, um nur ja
nicht in den Geruch des Koalitionsbruches zu
kommen. Das ist eine alte Geschichte und den-
noch bleibt sie ewig neu und daran ändern
auch die schönsten Versprechungen, die vor
dem Zustandekommen
der Koalition
gegeben werden, nicht das Geringste. Zum Kuckuck,
warum haben wir denn bereits eine bittere Lehr-
und Leidenszeit durchgemacht, wenn wir das Er-
lernte und Gesehene nicht beherzigen?! Das sah
auch die Cillier "D. W.", ein Organ der Deutschen
Volkspartei, ein, indem sie schrieb: "Eine Koali-
litionsregierung kann überhaupt nicht die Formel
sein, nach welcher unser Staat zweckmäßig und
vernünftig regiert werden könnte." Umso mehr
mußte uns nach dieser ganz richtigen Auslassung der
einige Zeilen weiter unten befindliche Satz befremden,




[Spaltenumbruch]
(Nachdruck verboten.)
Eine Lüge.
19. Fortsetzung.

"Ich muß einen Zweck, ein bestimmtes Ziel
haben. Soll ich nicht zugrunde gehen, muß ich ar-
beiten. Du sagtest vorhin, Dr. Sonnenried wünsche,
wir sollen in eine Stadt ziehen. Gehen wir nach
München, ich werde Professor Admil bitten, daß
er mich für die Bühne ausbilde."

"Oho!" schrie Anna und sah sie erschrocken
an. Du! Du wolltest zur Bühne!? Hören meine
Ohren recht? Du, das schüchterne zaghafte Kind?"

"Das bin ich nicht mehr, Mutter. Und dann,
wenn Professor Admil glaubt, ich sei nicht be-
fähigt, dann war es eben nur ein Versuch, der
mich von meinem Schmerz abzog, und das wäre
bei allem doch die größte Wohltat."

"Natürlich, mein Kind, Du hast ganz recht,
ich war nur im ersten Moment frappiert, alles,
was Du wünschest, soll geschehen. Deine Stimme
ist die schönste, die man je hören kann, ich dachte
nur, Deine Befangenheit würde Dir hinderlich sein."

"Wie unendlich gut Du mir bist", rief
Alice und küßte der alten Dame gerührt die Hand,
"und noch immer hast Du in Deiner zarten
Schonung für mich nicht nach der Ursache meiner
Qual gefragt."

"Ach schweige, wenn es Dich schmerzt."

"Aber einmal mußt Du es doch hören,
[Spaltenumbruch] außer Dir aber darf es niemand wissen. -- Meine
Mutter -- die Geliebte des Grafen Windsee."

"Herr Jesus!" schrie Anna aufspringend.
"Ach, jetzt begreife ich jetzt! Das war es. -- Wie
schwer müssen doch die Kinder die Sünden der
Eltern büßen! O, daß ein solches Weh Dich
treffen mußte! Ja, jetzt entsinne ich mich, als Du
nach Hermannsgrün fuhrst, erzählte mir die Ma-
jorin von dem alten Grafen, er sei ein schöner
ritterlicher Kavalier, ein Edelmann vom Scheitel
bis zur Sohle. In seiner Jugend habe er ein Ver-
hältnis mit einer Sängerin gehabt, die ihm durch-
gegangen wäre. Kurz darauf heiratete er die Fürstin
Rothenfels, mit der er sehr glücklich gewesen. O,
Du mein armes, schuldloses Opferlamm, nie wäre
mir so etwas im Traum eingefallen."

Eilftes Kapitel

Im Klosterschlößchen wurden Türen und Läden
verschlossen. Mit dem Nachtzug fuhren die Damen
nach München, wo sie in einer der Vorstädte eine
kleine, bescheidene Wohnung bezogen.

"Mutter", hatte während der Reise Alice ge-
sagt, "nicht nur der Kummer allein zwingt mich
zu einem Berufe, den ich früher nie gewählt hätte,
sondern noch ein anderer sehr triftiger Grund. Ich
möchte Geld erwerben. um die Summe, die der
Graf für das ausgestoßene Kind bezahlte, zurück
zu erstatten."

Anna schwieg, sie wollte ihr nicht wider-
sprechen, aber sie war der Ansicht, daß dem Liebling
dieser Wunsch wohl nie erfüllt werde, denn die
Summe war eine zu hohe.


[Spaltenumbruch]

Professor Admil saß in seinem Gemache vor
dem Klavier, als an seiner Tür leise gepocht wurde
und Alice in das Zimmer trat. "Wie sehe ich
recht, meine Nachtigall?" rief er, freudig aufspringend
und zog sie mit beiden Händen ins Gemach. "Aber
so blaß, so hager, und nun gar noch Tränen, was
ist Ihnen geschehen? Kommen Sie, setzen Sie sich,
was ist's?"

"Sie sagten mir einmal", fing sie schüchtern
an, "daß ich eine gute Stimme besitze, für die
es ewig schade wäre, daß man sie nur nicht hört.
Haben Sie das etwa nur gesagt, weil Sie mir
schmeicheln wollten?"

"Oho!" rief er, "ich lüge in solchen Dingen
nicht. Ich habe nicht nötig, zu schmeicheln, ich
gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich die Wahrheit
sagte, und ich würde es als ein seltenes Glück be-
trachten, wollten sie sich mir anvertrauen. Ich
verspreche Ihnen, daß Sie bis in einem Jahre
die Welt bezaubern. Ich habe nur ein Bedenken,
Sie kommen mir zu schüchtern vor. Und dann
weiß ich nicht, ob sie Talent zum Spiele haben,
denn es wäre ewig schade um diese herrliche Stimme,
wenn Sie nicht in gehöriger Fassung wäre, wenn
Ihre Bewegungen nicht mit ihr harmonierten. Das
soll eins sein, verstehen Sie, wie aus einem Guß;
kurz, ich meine, Sie sollen eine vollendete Künst-
lerin werden."

"Dieses Bedenken habe ich nicht", erwiderte
sie, "machen wir wenigstens einmal einen Versuch,
wollen Sie?"

"Mit tausend Freuden", rief entzückt Admil,
"ich garantiere Ihnen ein einen Weltruf, Reichtümer


Marburger Zeitung.



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lich 1 K. Bei Zuſtellung ins Haus monatlich 20 h mehr.

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Erſcheint jeden Dienstag, Donnerstag und
Samstag abends.

Sprechſtunden des Schriftleiters an allen Wochentagen von
11—12 Uhr vorm. und von 5—6 Uhr nachm. Poſtgaſſe 4.

Die Verwaltung befindet ſich: Poſtgaſſe 4. (Telephon-Nr. 24.)


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allen größeren Annoncen-Expeditionen entgegengenommen
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Wiederholung bedeutender Nachlaß. — Schluß für Ein-
ſchaltungen Dienstag, Donnerstag und Samstag mittags

Die Einzelnummer koſtet 10 h.




Nr. 138 Dienstag, 18. November 1902 41. Jahrgang.


[Spaltenumbruch]
Ein Geſpenſt.

Allerſeelen iſt vorüber, die lange Totenreihe,
die vor unſeren Augen trat, legte ſich wiederum
zur Ruhe. Aber eines der Geſpenſter will zurück-
bleiben, will wieder Fleiſch und Blut annehmen,
unter uns wandeln als knochenloſe Moluske. Es
iſt dies die Koalition, die unter den Fußtritten
des jungen Deutſchöſterreich verendete. Nun wittert
ſie wieder Auferſtehungsluft und über die Brücke
der Vergeſſenheit, angetan mit dem Schandfetzen
des Kosmopolitismus, will ſie wieder ins brau-
ſende, kämpfende Leben unſeres Volkes treten, die
Sünden der Vergangenheit in der Gegenwart
wiederholen. Wo tauchte zum erſtenmale das
Schreckgeſpenſt der Koalition wieder auf? Wer war
der neunmal Weiſe, der ihren Sarg ſprengte?
„Seinen Namen nennt kein Heldenbuch, kein Geſang.“
Keiner will ſich zur Untat bekennen. Da ſagen die
einen: Die „Neue Freie Preſſe“ ſei der Toten-
erwecker, die anderen ſagen, Koerber ſei es geweſen.
Beſtimmtes aber weiß man über den Leichenſchänder
nicht. Plötzlich tauchten die Umriſſe der Koalition
aus den moderigen Grüften der Vergangenheit auf
und ſchon ſchneidern ihr die Blätter den Anzug der
Parteien zu, ſchon gibt es ein Drängen und ein
„Geriß“ um die wiedererwachte Vettel. Aus
Deutſchen, Polaken und Tſchechen — ganz nach
dem Vorbilde der „Seligen“ — ſoll die neue
parlamentariſche Koalition zuſammengeſtoppelt
werden, ein neues Miniſterium mit dem alten
v. Koerber an der Spitze ſoll das gelungene Werk
dann krönen. Michl, merkſt Du etwas? Ein neues,
parlamentariſches Miniſterium, gebildet aus natür-
[Spaltenumbruch] lich „hervorragenden“ Parlamentariern! Ein vor-
witziges Wiener jüdiſches Montagsblatt nannte
geſtern bereits Namen .... Alles begreifen heißt
alles verzeihen ...

Unter recht netten Auſpizien wird uns die
erneuerte Koalition angekündigt. Wäre die Sache
nicht ſo verteufelt ernſt, man müßte eine grimme
Lache aufſchlagen über den Wahnſinn, der ſich klug
geberdet, über die Weisheit, welche überſchnappt!
Den Tſchechen, die, wie ohnehin überall verſichert
wird, ſehnlich nach einem Auswege aus der parla-
mentariſchen Sackgaſſe, in welche ſie ſich verrannt
haben, Ausſchau halten und die daher mit Freuden
für einige Zeit den Koalitionsweg betreten
würden, der ihnen wie damals ſo auch heute, auch
ſonſtige Vorteile bietet, denen will man von ge-
wiſſer „auchdeutſcher“ Seite anläßlich ihres Ein-
trittes in die Koalition ein neues Rieſengeſchenk
machen — die innere tſchechiſche Amts-
ſprache!
Man will aus dem Leibe des Staates
und der Deutſchen die Pfunde ſchneiden, mit denen
der doppeltgeſchwänzte tſchechiſche Löwe aufs neue
gemäſtet werden ſoll, Pfunde, deren Opferung den
Anfang vom Ende des einheitlichen Oeſterreich und
einen furchtbaren Fauſtſchlag für die volkstreuen
Deutſchen im Deutſchböhme[rl]ande bedeuten würde.
Aber die Neunmalweiſen des Fortſchrittes und alle
die, die ſich um Dr. v. Koerber gruppieren, haben
für uns Deutſche auch eine „Schadloshaltung“ —
Kompenſation heißt es in der politiſchen Zünftler-
ſprache — herausgetiftelt und dieſe Schadloshaltung
nennt ſich: Kreiseinteilung in Böhmen. Alle guten
Geiſter loben ihren Meiſter — da taucht alſo noch
ein zweites Totengeripp neben dem erſten auf!
[Spaltenumbruch] Dieſer Plan, wahrhaftig, er iſt Fleiſch vom Fleiſche
der Prade, Eppinger und Bachmann, Blut von
ihrem Blute und Geiſt von ihrem „Geiſte.“ Und
dieſes, vom deutſchböhmiſchen Volke dreimal ver-
maledeite Totenmahl will man uns wieder auf-
tiſchen?!

Noch ſpüren wir in allen Gliedern die Wunden,
welche uns die erſte Koalitionszeit ſchlug und ſchon
will man wieder das frevle Spiel erneuern!
Es würden dieſelben Trümpfe, wie damals
ſo auch heute wieder von den gierigen Tſchechen
ausgeſpielt werden und auch der alte Einſatz bleibt:
die nationale Wohlfahrt des deutſchen Volkes!
Wiederum würde ſich die alte Koalitionsluft lähmend
auf die Tatkraft der Deutſchen legen, ſie allein
ſind es ja, welche in Geſellſchaft mit den ihnen
koalierten Gegnern ſtets die Rolle eines Nachgiebi-
gen, des Staatsmänniſchen ſpielen, um nur ja
nicht in den Geruch des Koalitionsbruches zu
kommen. Das iſt eine alte Geſchichte und den-
noch bleibt ſie ewig neu und daran ändern
auch die ſchönſten Verſprechungen, die vor
dem Zuſtandekommen
der Koalition
gegeben werden, nicht das Geringſte. Zum Kuckuck,
warum haben wir denn bereits eine bittere Lehr-
und Leidenszeit durchgemacht, wenn wir das Er-
lernte und Geſehene nicht beherzigen?! Das ſah
auch die Cillier „D. W.“, ein Organ der Deutſchen
Volkspartei, ein, indem ſie ſchrieb: „Eine Koali-
litionsregierung kann überhaupt nicht die Formel
ſein, nach welcher unſer Staat zweckmäßig und
vernünftig regiert werden könnte.“ Umſo mehr
mußte uns nach dieſer ganz richtigen Auslaſſung der
einige Zeilen weiter unten befindliche Satz befremden,




[Spaltenumbruch]
(Nachdruck verboten.)
Eine Lüge.
19. Fortſetzung.

„Ich muß einen Zweck, ein beſtimmtes Ziel
haben. Soll ich nicht zugrunde gehen, muß ich ar-
beiten. Du ſagteſt vorhin, Dr. Sonnenried wünſche,
wir ſollen in eine Stadt ziehen. Gehen wir nach
München, ich werde Profeſſor Admil bitten, daß
er mich für die Bühne ausbilde.“

„Oho!“ ſchrie Anna und ſah ſie erſchrocken
an. Du! Du wollteſt zur Bühne!? Hören meine
Ohren recht? Du, das ſchüchterne zaghafte Kind?“

„Das bin ich nicht mehr, Mutter. Und dann,
wenn Profeſſor Admil glaubt, ich ſei nicht be-
fähigt, dann war es eben nur ein Verſuch, der
mich von meinem Schmerz abzog, und das wäre
bei allem doch die größte Wohltat.“

„Natürlich, mein Kind, Du haſt ganz recht,
ich war nur im erſten Moment frappiert, alles,
was Du wünſcheſt, ſoll geſchehen. Deine Stimme
iſt die ſchönſte, die man je hören kann, ich dachte
nur, Deine Befangenheit würde Dir hinderlich ſein.“

„Wie unendlich gut Du mir biſt“, rief
Alice und küßte der alten Dame gerührt die Hand,
„und noch immer haſt Du in Deiner zarten
Schonung für mich nicht nach der Urſache meiner
Qual gefragt.“

„Ach ſchweige, wenn es Dich ſchmerzt.“

„Aber einmal mußt Du es doch hören,
[Spaltenumbruch] außer Dir aber darf es niemand wiſſen. — Meine
Mutter — die Geliebte des Grafen Windſee.“

„Herr Jeſus!“ ſchrie Anna aufſpringend.
„Ach, jetzt begreife ich jetzt! Das war es. — Wie
ſchwer müſſen doch die Kinder die Sünden der
Eltern büßen! O, daß ein ſolches Weh Dich
treffen mußte! Ja, jetzt entſinne ich mich, als Du
nach Hermannsgrün fuhrſt, erzählte mir die Ma-
jorin von dem alten Grafen, er ſei ein ſchöner
ritterlicher Kavalier, ein Edelmann vom Scheitel
bis zur Sohle. In ſeiner Jugend habe er ein Ver-
hältnis mit einer Sängerin gehabt, die ihm durch-
gegangen wäre. Kurz darauf heiratete er die Fürſtin
Rothenfels, mit der er ſehr glücklich geweſen. O,
Du mein armes, ſchuldloſes Opferlamm, nie wäre
mir ſo etwas im Traum eingefallen.“

Eilftes Kapitel

Im Kloſterſchlößchen wurden Türen und Läden
verſchloſſen. Mit dem Nachtzug fuhren die Damen
nach München, wo ſie in einer der Vorſtädte eine
kleine, beſcheidene Wohnung bezogen.

„Mutter“, hatte während der Reiſe Alice ge-
ſagt, „nicht nur der Kummer allein zwingt mich
zu einem Berufe, den ich früher nie gewählt hätte,
ſondern noch ein anderer ſehr triftiger Grund. Ich
möchte Geld erwerben. um die Summe, die der
Graf für das ausgeſtoßene Kind bezahlte, zurück
zu erſtatten.“

Anna ſchwieg, ſie wollte ihr nicht wider-
ſprechen, aber ſie war der Anſicht, daß dem Liebling
dieſer Wunſch wohl nie erfüllt werde, denn die
Summe war eine zu hohe.


[Spaltenumbruch]

Profeſſor Admil ſaß in ſeinem Gemache vor
dem Klavier, als an ſeiner Tür leiſe gepocht wurde
und Alice in das Zimmer trat. „Wie ſehe ich
recht, meine Nachtigall?“ rief er, freudig aufſpringend
und zog ſie mit beiden Händen ins Gemach. „Aber
ſo blaß, ſo hager, und nun gar noch Tränen, was
iſt Ihnen geſchehen? Kommen Sie, ſetzen Sie ſich,
was iſt’s?“

„Sie ſagten mir einmal“, fing ſie ſchüchtern
an, „daß ich eine gute Stimme beſitze, für die
es ewig ſchade wäre, daß man ſie nur nicht hört.
Haben Sie das etwa nur geſagt, weil Sie mir
ſchmeicheln wollten?“

„Oho!“ rief er, „ich lüge in ſolchen Dingen
nicht. Ich habe nicht nötig, zu ſchmeicheln, ich
gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich die Wahrheit
ſagte, und ich würde es als ein ſeltenes Glück be-
trachten, wollten ſie ſich mir anvertrauen. Ich
verſpreche Ihnen, daß Sie bis in einem Jahre
die Welt bezaubern. Ich habe nur ein Bedenken,
Sie kommen mir zu ſchüchtern vor. Und dann
weiß ich nicht, ob ſie Talent zum Spiele haben,
denn es wäre ewig ſchade um dieſe herrliche Stimme,
wenn Sie nicht in gehöriger Faſſung wäre, wenn
Ihre Bewegungen nicht mit ihr harmonierten. Das
ſoll eins ſein, verſtehen Sie, wie aus einem Guß;
kurz, ich meine, Sie ſollen eine vollendete Künſt-
lerin werden.“

„Dieſes Bedenken habe ich nicht“, erwiderte
ſie, „machen wir wenigſtens einmal einen Verſuch,
wollen Sie?“

„Mit tauſend Freuden“, rief entzückt Admil,
„ich garantiere Ihnen ein einen Weltruf, Reichtümer


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[[1]/0001] Marburger Zeitung. Der Preis des Blattes beträgt: Für Marburg: Ganzjährig 12 K, halbjährig 6 K, vierteljährig 3 K, monat- lich 1 K. Bei Zuſtellung ins Haus monatlich 20 h mehr. Mit Poſtverſendung: Ganzjährig 14 K, halbjährig 7 K, vierteljährig 3 K 50 h. Das Abonnement dauert bis zur ſchriftlichen Abbeſtellung. Erſcheint jeden Dienstag, Donnerstag und Samstag abends. Sprechſtunden des Schriftleiters an allen Wochentagen von 11—12 Uhr vorm. und von 5—6 Uhr nachm. Poſtgaſſe 4. Die Verwaltung befindet ſich: Poſtgaſſe 4. (Telephon-Nr. 24.) Einſchaltungen werden im Verlage des Blattes und von allen größeren Annoncen-Expeditionen entgegengenommen Inſeratenpreis: Für die 5mal geſpaltene Zeile 12 h, bei Wiederholung bedeutender Nachlaß. — Schluß für Ein- ſchaltungen Dienstag, Donnerstag und Samstag mittags Die Einzelnummer koſtet 10 h. Nr. 138 Dienstag, 18. November 1902 41. Jahrgang. Ein Geſpenſt. Allerſeelen iſt vorüber, die lange Totenreihe, die vor unſeren Augen trat, legte ſich wiederum zur Ruhe. Aber eines der Geſpenſter will zurück- bleiben, will wieder Fleiſch und Blut annehmen, unter uns wandeln als knochenloſe Moluske. Es iſt dies die Koalition, die unter den Fußtritten des jungen Deutſchöſterreich verendete. Nun wittert ſie wieder Auferſtehungsluft und über die Brücke der Vergeſſenheit, angetan mit dem Schandfetzen des Kosmopolitismus, will ſie wieder ins brau- ſende, kämpfende Leben unſeres Volkes treten, die Sünden der Vergangenheit in der Gegenwart wiederholen. Wo tauchte zum erſtenmale das Schreckgeſpenſt der Koalition wieder auf? Wer war der neunmal Weiſe, der ihren Sarg ſprengte? „Seinen Namen nennt kein Heldenbuch, kein Geſang.“ Keiner will ſich zur Untat bekennen. Da ſagen die einen: Die „Neue Freie Preſſe“ ſei der Toten- erwecker, die anderen ſagen, Koerber ſei es geweſen. Beſtimmtes aber weiß man über den Leichenſchänder nicht. Plötzlich tauchten die Umriſſe der Koalition aus den moderigen Grüften der Vergangenheit auf und ſchon ſchneidern ihr die Blätter den Anzug der Parteien zu, ſchon gibt es ein Drängen und ein „Geriß“ um die wiedererwachte Vettel. Aus Deutſchen, Polaken und Tſchechen — ganz nach dem Vorbilde der „Seligen“ — ſoll die neue parlamentariſche Koalition zuſammengeſtoppelt werden, ein neues Miniſterium mit dem alten v. Koerber an der Spitze ſoll das gelungene Werk dann krönen. Michl, merkſt Du etwas? Ein neues, parlamentariſches Miniſterium, gebildet aus natür- lich „hervorragenden“ Parlamentariern! Ein vor- witziges Wiener jüdiſches Montagsblatt nannte geſtern bereits Namen .... Alles begreifen heißt alles verzeihen ... Unter recht netten Auſpizien wird uns die erneuerte Koalition angekündigt. Wäre die Sache nicht ſo verteufelt ernſt, man müßte eine grimme Lache aufſchlagen über den Wahnſinn, der ſich klug geberdet, über die Weisheit, welche überſchnappt! Den Tſchechen, die, wie ohnehin überall verſichert wird, ſehnlich nach einem Auswege aus der parla- mentariſchen Sackgaſſe, in welche ſie ſich verrannt haben, Ausſchau halten und die daher mit Freuden für einige Zeit den Koalitionsweg betreten würden, der ihnen wie damals ſo auch heute, auch ſonſtige Vorteile bietet, denen will man von ge- wiſſer „auchdeutſcher“ Seite anläßlich ihres Ein- trittes in die Koalition ein neues Rieſengeſchenk machen — die innere tſchechiſche Amts- ſprache! Man will aus dem Leibe des Staates und der Deutſchen die Pfunde ſchneiden, mit denen der doppeltgeſchwänzte tſchechiſche Löwe aufs neue gemäſtet werden ſoll, Pfunde, deren Opferung den Anfang vom Ende des einheitlichen Oeſterreich und einen furchtbaren Fauſtſchlag für die volkstreuen Deutſchen im Deutſchböhmerlande bedeuten würde. Aber die Neunmalweiſen des Fortſchrittes und alle die, die ſich um Dr. v. Koerber gruppieren, haben für uns Deutſche auch eine „Schadloshaltung“ — Kompenſation heißt es in der politiſchen Zünftler- ſprache — herausgetiftelt und dieſe Schadloshaltung nennt ſich: Kreiseinteilung in Böhmen. Alle guten Geiſter loben ihren Meiſter — da taucht alſo noch ein zweites Totengeripp neben dem erſten auf! Dieſer Plan, wahrhaftig, er iſt Fleiſch vom Fleiſche der Prade, Eppinger und Bachmann, Blut von ihrem Blute und Geiſt von ihrem „Geiſte.“ Und dieſes, vom deutſchböhmiſchen Volke dreimal ver- maledeite Totenmahl will man uns wieder auf- tiſchen?! Noch ſpüren wir in allen Gliedern die Wunden, welche uns die erſte Koalitionszeit ſchlug und ſchon will man wieder das frevle Spiel erneuern! Es würden dieſelben Trümpfe, wie damals ſo auch heute wieder von den gierigen Tſchechen ausgeſpielt werden und auch der alte Einſatz bleibt: die nationale Wohlfahrt des deutſchen Volkes! Wiederum würde ſich die alte Koalitionsluft lähmend auf die Tatkraft der Deutſchen legen, ſie allein ſind es ja, welche in Geſellſchaft mit den ihnen koalierten Gegnern ſtets die Rolle eines Nachgiebi- gen, des Staatsmänniſchen ſpielen, um nur ja nicht in den Geruch des Koalitionsbruches zu kommen. Das iſt eine alte Geſchichte und den- noch bleibt ſie ewig neu und daran ändern auch die ſchönſten Verſprechungen, die vor dem Zuſtandekommen der Koalition gegeben werden, nicht das Geringſte. Zum Kuckuck, warum haben wir denn bereits eine bittere Lehr- und Leidenszeit durchgemacht, wenn wir das Er- lernte und Geſehene nicht beherzigen?! Das ſah auch die Cillier „D. 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Und dann, wenn Profeſſor Admil glaubt, ich ſei nicht be- fähigt, dann war es eben nur ein Verſuch, der mich von meinem Schmerz abzog, und das wäre bei allem doch die größte Wohltat.“ „Natürlich, mein Kind, Du haſt ganz recht, ich war nur im erſten Moment frappiert, alles, was Du wünſcheſt, ſoll geſchehen. Deine Stimme iſt die ſchönſte, die man je hören kann, ich dachte nur, Deine Befangenheit würde Dir hinderlich ſein.“ „Wie unendlich gut Du mir biſt“, rief Alice und küßte der alten Dame gerührt die Hand, „und noch immer haſt Du in Deiner zarten Schonung für mich nicht nach der Urſache meiner Qual gefragt.“ „Ach ſchweige, wenn es Dich ſchmerzt.“ „Aber einmal mußt Du es doch hören, außer Dir aber darf es niemand wiſſen. — Meine Mutter — die Geliebte des Grafen Windſee.“ „Herr Jeſus!“ ſchrie Anna aufſpringend. „Ach, jetzt begreife ich jetzt! Das war es. — Wie ſchwer müſſen doch die Kinder die Sünden der Eltern büßen! O, daß ein ſolches Weh Dich treffen mußte! Ja, jetzt entſinne ich mich, als Du nach Hermannsgrün fuhrſt, erzählte mir die Ma- jorin von dem alten Grafen, er ſei ein ſchöner ritterlicher Kavalier, ein Edelmann vom Scheitel bis zur Sohle. In ſeiner Jugend habe er ein Ver- hältnis mit einer Sängerin gehabt, die ihm durch- gegangen wäre. Kurz darauf heiratete er die Fürſtin Rothenfels, mit der er ſehr glücklich geweſen. O, Du mein armes, ſchuldloſes Opferlamm, nie wäre mir ſo etwas im Traum eingefallen.“ Eilftes Kapitel Im Kloſterſchlößchen wurden Türen und Läden verſchloſſen. Mit dem Nachtzug fuhren die Damen nach München, wo ſie in einer der Vorſtädte eine kleine, beſcheidene Wohnung bezogen. „Mutter“, hatte während der Reiſe Alice ge- ſagt, „nicht nur der Kummer allein zwingt mich zu einem Berufe, den ich früher nie gewählt hätte, ſondern noch ein anderer ſehr triftiger Grund. Ich möchte Geld erwerben. um die Summe, die der Graf für das ausgeſtoßene Kind bezahlte, zurück zu erſtatten.“ Anna ſchwieg, ſie wollte ihr nicht wider- ſprechen, aber ſie war der Anſicht, daß dem Liebling dieſer Wunſch wohl nie erfüllt werde, denn die Summe war eine zu hohe. Profeſſor Admil ſaß in ſeinem Gemache vor dem Klavier, als an ſeiner Tür leiſe gepocht wurde und Alice in das Zimmer trat. „Wie ſehe ich recht, meine Nachtigall?“ rief er, freudig aufſpringend und zog ſie mit beiden Händen ins Gemach. „Aber ſo blaß, ſo hager, und nun gar noch Tränen, was iſt Ihnen geſchehen? Kommen Sie, ſetzen Sie ſich, was iſt’s?“ „Sie ſagten mir einmal“, fing ſie ſchüchtern an, „daß ich eine gute Stimme beſitze, für die es ewig ſchade wäre, daß man ſie nur nicht hört. Haben Sie das etwa nur geſagt, weil Sie mir ſchmeicheln wollten?“ „Oho!“ rief er, „ich lüge in ſolchen Dingen nicht. Ich habe nicht nötig, zu ſchmeicheln, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich die Wahrheit ſagte, und ich würde es als ein ſeltenes Glück be- trachten, wollten ſie ſich mir anvertrauen. Ich verſpreche Ihnen, daß Sie bis in einem Jahre die Welt bezaubern. Ich habe nur ein Bedenken, Sie kommen mir zu ſchüchtern vor. Und dann weiß ich nicht, ob ſie Talent zum Spiele haben, denn es wäre ewig ſchade um dieſe herrliche Stimme, wenn Sie nicht in gehöriger Faſſung wäre, wenn Ihre Bewegungen nicht mit ihr harmonierten. Das ſoll eins ſein, verſtehen Sie, wie aus einem Guß; kurz, ich meine, Sie ſollen eine vollendete Künſt- lerin werden.“ „Dieſes Bedenken habe ich nicht“, erwiderte ſie, „machen wir wenigſtens einmal einen Verſuch, wollen Sie?“ „Mit tauſend Freuden“, rief entzückt Admil, „ich garantiere Ihnen ein einen Weltruf, Reichtümer

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Amelie Meister: Vorbereitung der Texttranskription und Textauszeichnung. (2018-01-26T13:38:42Z)

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Zitationshilfe: Marburger Zeitung. Nr. 138, Marburg, 18.11.1902, S. [1]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_marburger138_1902/1>, abgerufen am 29.03.2024.