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Marburger Zeitung. Nr. 141, Marburg, 24.11.1910.

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Nr. 141 Donnerstag, 24. November 1910 49. Jahrgang.


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Das Bündnis.

Der Stuttgarter Türmer führt über die Frage:
Welches Interesse haben wir am österreichischen
Bündnis? u. a. folgendes aus: Es ist nicht nur
Gefühlsschwärmerei, wenn der Staatsangehörige des
kleindeutschen Reiches im Westen den heutigen habs-
burgischen Donaustaat als das ostdeutsche Kaiserreich
ansieht, die sich beide ergänzen und den Hauptstock
des deutschen Volkes in sich bergen, ohne der
deutschen Außenlande in den Alpen, dem alten Ober-
schwaben, der gegenwärtigen Schweiz und an der
Rhein- und Maasmündung, den Niederlanden habs-
burgischen und österreichischen Angedenkens, Belgien
und Holland, zu vergessen. Der Schwerpunkt einer
allgemeinen deutschen Politik liegt keineswegs allein
in Berlin. Die politische Ausscheidung Österreichs
aus dem seligen, lebensunfähigen Deutschen Bunde
änderte das nationale Gepräge der Ostmark nicht,
von wo aus Deutschland jahrhundertelang regiert
worden war. Treitsche spricht es mit geschichtlicher
Sehergabe über jeden Zweifel erhaben klar und
deutlich aus, daß nur das Volk eine wirkliche Welt-
macht besitzen wird, dessen Sprache am meisten auf
der Erde gesprochen werden wird. Von europäischen
Völkern sind England und Rußland auf diesem
Wege; England auch hauptsächlich durch seinen
republikanischen Ableger über dem großen Teiche,
wo 30 Millionen Deutsche unter einer englischen
Staatssprache stehen, die durch die deutsche zu er-
setzen ihnen bei der Gründung der Vereinigten
Staaten möglich gewesen war; hat doch der deutsche
Präsident (Mühlenberg) der konstituierenden National-
[Spaltenumbruch] versammlung durch seine Stimme zugunsten der
englischen die deutsche Staatssprache erst beseitigt.
Diese fast volksverräterische Schwäche unseres deutschen
Volkes hat auch in der Alten Welt Früchte ge-
tragen, die den uralten deutschen Volksboden in
der Schweiz und den beiden Niederlanden, sowie
in Österreich-Ungarn immer mehr benagen. Den
tschechischen Keil im deutschen Volksgebiet völlig
einzudeutschen, wäre bis 1848 eine Kleinigkeit ge-
wesen, da die slawische Mundart tatsächlich nur die
des niederen Volkes ohne ausgebildete Schriftform
war. Ein deutscher Professor (Jungmann) erfand
erst diese. Unter kirchlichem Einfluß ist Südtirol,
das bis zum südlichen Ende des Gartensees eine
reine deutsche, bayerische Bevölkerung birgt, die bis
vor den Toren Paduas saß und Verona (Bern)
bis 1200 deutsches Gepräge verlieh, staatlich künst-
lich verwelscht worden. Als Österreich 1815 Venetien
erhielt, italienisierte es arglos die deci und tredeci
communi der Berner und Wisentainer (Vicentiner)
Alpen; das Veltlin wurde als lombardisches An-
hängsel ebenfalls vollkommen verwelscht. In Ungarn
setzte die Entdeutschung seit 1848 ein, daß das
national tüchtige Bachsche Regiment nur vorüber-
gehend der Magyarisierung entgegenwirken konnte.
Es handelt sich nur um Tatsachen und scheidet jede
Schuldfrage aus, da ja auch Preußen seine Bam-
berger Bauern vor den Toren des deutsch ge-
wordenen Posen mit geistlicher Hilfe verpolen ließ.
Die Dänen machten als deutsche Bundesglieder aus
Nordschleswig Südjütland, obwohl das dort ge-
redete Platt niemals dänisch war und ganz Jütland
sprachlich erst dänisiert worden ist. Altjütisch ist eine
[Spaltenumbruch] deutsche Mundart. Selbst die erst von Deutschland
gerettete Oranierherrschaft entblödete sich als eben-
falls deutsches Bundesglied nicht, das urdeutsche
Lützelburg -- französisch zu regieren, was noch
fortdauert. Die Schicksalsfrage des deutschen Volkes
in Europa ist also eine Sprachenfrage und in Öster-
reich kann am wenigsten darüber Zweifel bestehen.
Die deutsche Sprache ist dort sogar besonders im
staatlich gewollten oder doch geduldeten Rückgang
begriffen, der die Grundlage des Staates als einer
deutschen Kolonisation berührt. Zwar läßt sich nicht
leugnen, daß die Verkehrssprache in ganz Ungarn
noch die deutsche ist. Das angeführte Treitschkesche
Wort gilt aber auch für das deutsch-österreichische
Bündnis, das auf der nationalen Interessengemein-
schaft beruhen muß, soll es von bleibender Dauer
sein. Das Deutsche Reich hat keinerlei Interesse an
den Slawen, Magyaren und Italienern Österreichs,
die ihre Volkszahl auf deutsche Kosten vermehren.
Teuer und wertvoll ist uns bloß der Deutsche in
der Ostmark, den wir nie im Stiche lassen werden
und dürfen. Schon sind, abgerechnet von den Juden,
mehr als zwei Millionen Deutsche in den beiden
österreichischen Reichshälften verslawt und
magyarisiert, was unter dem Schutz des
deutschen Bündnisses fortgesetzt
wird,
obwohl die Staatstreue der Tschechen, Magyaren
und jüngst der Serbokroaten niemals festgestanden
hat. Der Magyar befindet sich seit der Eroberung
seines Landes durch die habsburgischen Könige in
fast dauerndem Aufruhr, der jetzt bloß parlamentarisch
gemildert ist, was dem schärferen reichsdeutschen
Auge doch nicht verborgen bleiben kann.




[Spaltenumbruch]
Das Haus am Nixensee.

22 (Nachdruck verboten.)

Grete beachtete die beiden nicht weiter, sie be-
merkte nur, das der junge Mann zuweilen ver-
stohlen nach der Hand der Dame haschte und die-
selbe an seine Lippen zog. Das helle Auflachen
der vor ihr Gehenden tönte manchmal an Gretes
Ohr und ihr war es, als hätte sie dieses Lachen
schon irgendwo gehört; sie wußte nur nicht gleich,
wo. Angestrengt dachte sie nach. Und es fiel ihr
ein, wo dies gewesen sein könnte. Es war, als
Tante Lina sie neulich in Gesellschaft Charlotte
Walters besuchte. Ja, genau so hatte die junge
Braut damals gelacht. Aber die vor ihr gehende
Dame konnte unmöglich Charlotte Walter sein,
wenigstens war der, der sie begleitete, sicher nicht
Otto, Charlottens Verlobter. Und wie käme sie dazu,
sich von einem andern die Hand küssen zu lassen?
Nein, nein, es mußte eine Täuschung sein.

Grete sah sich um. Kein Mensch war zu sehen
weit und breit. Das vor ihr gehende Pärchen
schmiegte sich eng zusammen. Grete beschleunigte ihre
Schritte, das Paar fing an, sie zu interessieren.
Die Dame war elegant gekleidet, trug einen modernen
Sommerhut mit rotem Mohn garniert und ein helles
Kostüm. Unter dem Hut leuchtete ein rötlicher dicker
Haarknoten hervor.


[Spaltenumbruch]

Nun wandte der Herr plötzlich den Kopf; er
bemerkte das Mädchen und neigte sich blitzschnell zu
seiner Begleiterin. Er schien ihr eine Mitteilung zu
machen; dann beschleunigten die beiden auffallend
ihre Schritte und ehe Grete ihnen folgen konnte,
waren sie um die nächste Wegbiegung verschwunden.
Sie mußten von da an fluchtartig gelaufen sein,
denn als Grete die Ecke erreichte, war keine mehr
von ihnen zu sehen.

Das erschien doch seltsam. Sollte es doch Char-
lotte Walter gewesen sein, die da mit einem andern
in der Dämmerung promenierte? An ein solch scham-
loses Benehmen wollte Grete nicht glauben. Und
doch schien alles darauf hinzudeuten. Die Figur,
das Hoar, die Kleidung, alles stimmte. Grete dachte
darüber nach, ob sie über den Vorfall schweigen
sollte oder nicht. Bestimmtes wußte sie allerdings
nicht, so war es wohl besser, den Mund zu halten.
Aber war es nicht Pflicht, darüber zu sprechen?
Sie nahm sich vor, wenigstens Liese auf die Sache
aufmerksam zu machen.

8.

Als Grete nach Hause kam, fand sie die Mutter
in begreiflicher Aufregung. Die arme Frau hatte
sich wegen des langen Ausbleibens unsäglich ge-
ängstigt.

"Mein Gott", klagte sie, die Tränen trocknend,
die ihr die Angst um die kaum genesene Tochter
entlockt hatte, "was habe ich ausgestanden! Ich
füchtete, es sei dir etwas zugestoßen. Wie konntest
du nur so lange ausbleiben. Die Sorge um dich
[Spaltenumbruch] warf mich fast nieder. Am liebsten wäre ich selbst
fortlaufen, dich zu suchen, aber ich wagte es nicht,
denn der Vater hat keinen Schlüssel und wenn er
heimgekommen wäre und hätte die Türe verschlossen
gefunden, würde es einen Krach gesetzt haben. Liese
kommt auch solange nicht. Sie ging schon vor zwei
Stunden zu Tante Lina -- So war ich mit meiner
Angst und Sorge ganz allein. Ich meinte, vergehen
zu müssen. Ruhelos wanderte ich umher, hudertmal
habe ich zum Fenster hinausgesehen, aber du kamst
nicht. Es war zum verzweifeln."

Grete schlang zärtlich die Arme um den Hals
der Mutter und schmiegte sich an sie.

"Ach, du Ärmste, wie leid es mir tut, daß
du dich so geängstigt hast! Aber ich konnte wirklich
nicht früher kommen. Mütterchen, verzeihe mir, du
weißt nicht, was ich alles erlebt habe."

Gespannt blickte Frau Sommer die Tochter an
und diese berichtete nun ihr Erlebnis.

Die Mutter war tief erschüttert.

"So hat halt jeder sein Kreuz auf der Welt",
meinte sie dann nachdenklich. "Die Leute sind nun
reich und dennoch unglücklich. Was hilft ihnen das
viele Geld?"

Sie seufzte tief auf und fuhr dann fort: "Die
Hoffnung, daß der Vater sich bessern würde, ist
nun auch wieder geschwunden. Seit du genesen bist,
treibt er es ärger als je. Ich möchte wohl wissen,
was er noch im Besitz hat von dem vielen Geld,
das er von Frau Gronau erhalten hat."


Marburger Zeitung.



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Der Preis des Blattes beträgt: Für Marburg:
Ganzjährig 12 K, halbjährig 6 K, vierteljährig 3 K, monat-
lich 1 K. Bei Zuſtellung ins Haus monatlich 20 h mehr.

Mit Poſtverſendung:
Ganzjährig 14 K, halbjährig 7 K, vierteljährig 3 K 50 h.
Das Abonnement dauert bis zur ſchriftlichen Abbeſtellung.


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Erſcheint jeden Dienstag, Donnerstag und
Samstag abends.

Sprechſtunden des Schriftleiters an allen Wochentagen von
11—12 Uhr vorm. und von 5—6 Uhr nachm. Poſtgaſſe 4.

Die Verwaltung befindet ſich: Poſtgaſſe 4. (Telephon Nr. 24.)


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Anzeigen werden im Verlage des Blattes und von
allen größeren Annoncen-Expeditionen entgegengenommen
und koſtet die fünfmal geſpaltene Kleinzeile 12 h.

Schluß für Einſchaltungen:
Dienstag, Donnerstag, Samstag 10 Uhr vormittags,

Die Einzelnummer koſtet 10 Heller.




Nr. 141 Donnerstag, 24. November 1910 49. Jahrgang.


[Spaltenumbruch]
Das Bündnis.

Der Stuttgarter Türmer führt über die Frage:
Welches Intereſſe haben wir am öſterreichiſchen
Bündnis? u. a. folgendes aus: Es iſt nicht nur
Gefühlsſchwärmerei, wenn der Staatsangehörige des
kleindeutſchen Reiches im Weſten den heutigen habs-
burgiſchen Donauſtaat als das oſtdeutſche Kaiſerreich
anſieht, die ſich beide ergänzen und den Hauptſtock
des deutſchen Volkes in ſich bergen, ohne der
deutſchen Außenlande in den Alpen, dem alten Ober-
ſchwaben, der gegenwärtigen Schweiz und an der
Rhein- und Maasmündung, den Niederlanden habs-
burgiſchen und öſterreichiſchen Angedenkens, Belgien
und Holland, zu vergeſſen. Der Schwerpunkt einer
allgemeinen deutſchen Politik liegt keineswegs allein
in Berlin. Die politiſche Ausſcheidung Öſterreichs
aus dem ſeligen, lebensunfähigen Deutſchen Bunde
änderte das nationale Gepräge der Oſtmark nicht,
von wo aus Deutſchland jahrhundertelang regiert
worden war. Treitſche ſpricht es mit geſchichtlicher
Sehergabe über jeden Zweifel erhaben klar und
deutlich aus, daß nur das Volk eine wirkliche Welt-
macht beſitzen wird, deſſen Sprache am meiſten auf
der Erde geſprochen werden wird. Von europäiſchen
Völkern ſind England und Rußland auf dieſem
Wege; England auch hauptſächlich durch ſeinen
republikaniſchen Ableger über dem großen Teiche,
wo 30 Millionen Deutſche unter einer engliſchen
Staatsſprache ſtehen, die durch die deutſche zu er-
ſetzen ihnen bei der Gründung der Vereinigten
Staaten möglich geweſen war; hat doch der deutſche
Präſident (Mühlenberg) der konſtituierenden National-
[Spaltenumbruch] verſammlung durch ſeine Stimme zugunſten der
engliſchen die deutſche Staatsſprache erſt beſeitigt.
Dieſe faſt volksverräteriſche Schwäche unſeres deutſchen
Volkes hat auch in der Alten Welt Früchte ge-
tragen, die den uralten deutſchen Volksboden in
der Schweiz und den beiden Niederlanden, ſowie
in Öſterreich-Ungarn immer mehr benagen. Den
tſchechiſchen Keil im deutſchen Volksgebiet völlig
einzudeutſchen, wäre bis 1848 eine Kleinigkeit ge-
weſen, da die ſlawiſche Mundart tatſächlich nur die
des niederen Volkes ohne ausgebildete Schriftform
war. Ein deutſcher Profeſſor (Jungmann) erfand
erſt dieſe. Unter kirchlichem Einfluß iſt Südtirol,
das bis zum ſüdlichen Ende des Gartenſees eine
reine deutſche, bayeriſche Bevölkerung birgt, die bis
vor den Toren Paduas ſaß und Verona (Bern)
bis 1200 deutſches Gepräge verlieh, ſtaatlich künſt-
lich verwelſcht worden. Als Öſterreich 1815 Venetien
erhielt, italieniſierte es arglos die deci und tredeci
communi der Berner und Wiſentainer (Vicentiner)
Alpen; das Veltlin wurde als lombardiſches An-
hängſel ebenfalls vollkommen verwelſcht. In Ungarn
ſetzte die Entdeutſchung ſeit 1848 ein, daß das
national tüchtige Bachſche Regiment nur vorüber-
gehend der Magyariſierung entgegenwirken konnte.
Es handelt ſich nur um Tatſachen und ſcheidet jede
Schuldfrage aus, da ja auch Preußen ſeine Bam-
berger Bauern vor den Toren des deutſch ge-
wordenen Poſen mit geiſtlicher Hilfe verpolen ließ.
Die Dänen machten als deutſche Bundesglieder aus
Nordſchleswig Südjütland, obwohl das dort ge-
redete Platt niemals däniſch war und ganz Jütland
ſprachlich erſt däniſiert worden iſt. Altjütiſch iſt eine
[Spaltenumbruch] deutſche Mundart. Selbſt die erſt von Deutſchland
gerettete Oranierherrſchaft entblödete ſich als eben-
falls deutſches Bundesglied nicht, das urdeutſche
Lützelburg — franzöſiſch zu regieren, was noch
fortdauert. Die Schickſalsfrage des deutſchen Volkes
in Europa iſt alſo eine Sprachenfrage und in Öſter-
reich kann am wenigſten darüber Zweifel beſtehen.
Die deutſche Sprache iſt dort ſogar beſonders im
ſtaatlich gewollten oder doch geduldeten Rückgang
begriffen, der die Grundlage des Staates als einer
deutſchen Koloniſation berührt. Zwar läßt ſich nicht
leugnen, daß die Verkehrsſprache in ganz Ungarn
noch die deutſche iſt. Das angeführte Treitſchkeſche
Wort gilt aber auch für das deutſch-öſterreichiſche
Bündnis, das auf der nationalen Intereſſengemein-
ſchaft beruhen muß, ſoll es von bleibender Dauer
ſein. Das Deutſche Reich hat keinerlei Intereſſe an
den Slawen, Magyaren und Italienern Öſterreichs,
die ihre Volkszahl auf deutſche Koſten vermehren.
Teuer und wertvoll iſt uns bloß der Deutſche in
der Oſtmark, den wir nie im Stiche laſſen werden
und dürfen. Schon ſind, abgerechnet von den Juden,
mehr als zwei Millionen Deutſche in den beiden
öſterreichiſchen Reichshälften verſlawt und
magyariſiert, was unter dem Schutz des
deutſchen Bündniſſes fortgeſetzt
wird,
obwohl die Staatstreue der Tſchechen, Magyaren
und jüngſt der Serbokroaten niemals feſtgeſtanden
hat. Der Magyar befindet ſich ſeit der Eroberung
ſeines Landes durch die habsburgiſchen Könige in
faſt dauerndem Aufruhr, der jetzt bloß parlamentariſch
gemildert iſt, was dem ſchärferen reichsdeutſchen
Auge doch nicht verborgen bleiben kann.




[Spaltenumbruch]
Das Haus am Nixenſee.

22 (Nachdruck verboten.)

Grete beachtete die beiden nicht weiter, ſie be-
merkte nur, das der junge Mann zuweilen ver-
ſtohlen nach der Hand der Dame haſchte und die-
ſelbe an ſeine Lippen zog. Das helle Auflachen
der vor ihr Gehenden tönte manchmal an Gretes
Ohr und ihr war es, als hätte ſie dieſes Lachen
ſchon irgendwo gehört; ſie wußte nur nicht gleich,
wo. Angeſtrengt dachte ſie nach. Und es fiel ihr
ein, wo dies geweſen ſein könnte. Es war, als
Tante Lina ſie neulich in Geſellſchaft Charlotte
Walters beſuchte. Ja, genau ſo hatte die junge
Braut damals gelacht. Aber die vor ihr gehende
Dame konnte unmöglich Charlotte Walter ſein,
wenigſtens war der, der ſie begleitete, ſicher nicht
Otto, Charlottens Verlobter. Und wie käme ſie dazu,
ſich von einem andern die Hand küſſen zu laſſen?
Nein, nein, es mußte eine Täuſchung ſein.

Grete ſah ſich um. Kein Menſch war zu ſehen
weit und breit. Das vor ihr gehende Pärchen
ſchmiegte ſich eng zuſammen. Grete beſchleunigte ihre
Schritte, das Paar fing an, ſie zu intereſſieren.
Die Dame war elegant gekleidet, trug einen modernen
Sommerhut mit rotem Mohn garniert und ein helles
Koſtüm. Unter dem Hut leuchtete ein rötlicher dicker
Haarknoten hervor.


[Spaltenumbruch]

Nun wandte der Herr plötzlich den Kopf; er
bemerkte das Mädchen und neigte ſich blitzſchnell zu
ſeiner Begleiterin. Er ſchien ihr eine Mitteilung zu
machen; dann beſchleunigten die beiden auffallend
ihre Schritte und ehe Grete ihnen folgen konnte,
waren ſie um die nächſte Wegbiegung verſchwunden.
Sie mußten von da an fluchtartig gelaufen ſein,
denn als Grete die Ecke erreichte, war keine mehr
von ihnen zu ſehen.

Das erſchien doch ſeltſam. Sollte es doch Char-
lotte Walter geweſen ſein, die da mit einem andern
in der Dämmerung promenierte? An ein ſolch ſcham-
loſes Benehmen wollte Grete nicht glauben. Und
doch ſchien alles darauf hinzudeuten. Die Figur,
das Hoar, die Kleidung, alles ſtimmte. Grete dachte
darüber nach, ob ſie über den Vorfall ſchweigen
ſollte oder nicht. Beſtimmtes wußte ſie allerdings
nicht, ſo war es wohl beſſer, den Mund zu halten.
Aber war es nicht Pflicht, darüber zu ſprechen?
Sie nahm ſich vor, wenigſtens Lieſe auf die Sache
aufmerkſam zu machen.

8.

Als Grete nach Hauſe kam, fand ſie die Mutter
in begreiflicher Aufregung. Die arme Frau hatte
ſich wegen des langen Ausbleibens unſäglich ge-
ängſtigt.

„Mein Gott“, klagte ſie, die Tränen trocknend,
die ihr die Angſt um die kaum geneſene Tochter
entlockt hatte, „was habe ich ausgeſtanden! Ich
füchtete, es ſei dir etwas zugeſtoßen. Wie konnteſt
du nur ſo lange ausbleiben. Die Sorge um dich
[Spaltenumbruch] warf mich faſt nieder. Am liebſten wäre ich ſelbſt
fortlaufen, dich zu ſuchen, aber ich wagte es nicht,
denn der Vater hat keinen Schlüſſel und wenn er
heimgekommen wäre und hätte die Türe verſchloſſen
gefunden, würde es einen Krach geſetzt haben. Lieſe
kommt auch ſolange nicht. Sie ging ſchon vor zwei
Stunden zu Tante Lina — So war ich mit meiner
Angſt und Sorge ganz allein. Ich meinte, vergehen
zu müſſen. Ruhelos wanderte ich umher, hudertmal
habe ich zum Fenſter hinausgeſehen, aber du kamſt
nicht. Es war zum verzweifeln.“

Grete ſchlang zärtlich die Arme um den Hals
der Mutter und ſchmiegte ſich an ſie.

„Ach, du Ärmſte, wie leid es mir tut, daß
du dich ſo geängſtigt haſt! Aber ich konnte wirklich
nicht früher kommen. Mütterchen, verzeihe mir, du
weißt nicht, was ich alles erlebt habe.“

Geſpannt blickte Frau Sommer die Tochter an
und dieſe berichtete nun ihr Erlebnis.

Die Mutter war tief erſchüttert.

„So hat halt jeder ſein Kreuz auf der Welt“,
meinte ſie dann nachdenklich. „Die Leute ſind nun
reich und dennoch unglücklich. Was hilft ihnen das
viele Geld?“

Sie ſeufzte tief auf und fuhr dann fort: „Die
Hoffnung, daß der Vater ſich beſſern würde, iſt
nun auch wieder geſchwunden. Seit du geneſen biſt,
treibt er es ärger als je. Ich möchte wohl wiſſen,
was er noch im Beſitz hat von dem vielen Geld,
das er von Frau Gronau erhalten hat.“


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[[1]/0001] Marburger Zeitung. Der Preis des Blattes beträgt: Für Marburg: Ganzjährig 12 K, halbjährig 6 K, vierteljährig 3 K, monat- lich 1 K. Bei Zuſtellung ins Haus monatlich 20 h mehr. Mit Poſtverſendung: Ganzjährig 14 K, halbjährig 7 K, vierteljährig 3 K 50 h. Das Abonnement dauert bis zur ſchriftlichen Abbeſtellung. Erſcheint jeden Dienstag, Donnerstag und Samstag abends. Sprechſtunden des Schriftleiters an allen Wochentagen von 11—12 Uhr vorm. und von 5—6 Uhr nachm. Poſtgaſſe 4. Die Verwaltung befindet ſich: Poſtgaſſe 4. (Telephon Nr. 24.) Anzeigen werden im Verlage des Blattes und von allen größeren Annoncen-Expeditionen entgegengenommen und koſtet die fünfmal geſpaltene Kleinzeile 12 h. Schluß für Einſchaltungen: Dienstag, Donnerstag, Samstag 10 Uhr vormittags, Die Einzelnummer koſtet 10 Heller. Nr. 141 Donnerstag, 24. November 1910 49. Jahrgang. Das Bündnis. Der Stuttgarter Türmer führt über die Frage: Welches Intereſſe haben wir am öſterreichiſchen Bündnis? u. a. folgendes aus: Es iſt nicht nur Gefühlsſchwärmerei, wenn der Staatsangehörige des kleindeutſchen Reiches im Weſten den heutigen habs- burgiſchen Donauſtaat als das oſtdeutſche Kaiſerreich anſieht, die ſich beide ergänzen und den Hauptſtock des deutſchen Volkes in ſich bergen, ohne der deutſchen Außenlande in den Alpen, dem alten Ober- ſchwaben, der gegenwärtigen Schweiz und an der Rhein- und Maasmündung, den Niederlanden habs- burgiſchen und öſterreichiſchen Angedenkens, Belgien und Holland, zu vergeſſen. Der Schwerpunkt einer allgemeinen deutſchen Politik liegt keineswegs allein in Berlin. Die politiſche Ausſcheidung Öſterreichs aus dem ſeligen, lebensunfähigen Deutſchen Bunde änderte das nationale Gepräge der Oſtmark nicht, von wo aus Deutſchland jahrhundertelang regiert worden war. Treitſche ſpricht es mit geſchichtlicher Sehergabe über jeden Zweifel erhaben klar und deutlich aus, daß nur das Volk eine wirkliche Welt- macht beſitzen wird, deſſen Sprache am meiſten auf der Erde geſprochen werden wird. Von europäiſchen Völkern ſind England und Rußland auf dieſem Wege; England auch hauptſächlich durch ſeinen republikaniſchen Ableger über dem großen Teiche, wo 30 Millionen Deutſche unter einer engliſchen Staatsſprache ſtehen, die durch die deutſche zu er- ſetzen ihnen bei der Gründung der Vereinigten Staaten möglich geweſen war; hat doch der deutſche Präſident (Mühlenberg) der konſtituierenden National- verſammlung durch ſeine Stimme zugunſten der engliſchen die deutſche Staatsſprache erſt beſeitigt. Dieſe faſt volksverräteriſche Schwäche unſeres deutſchen Volkes hat auch in der Alten Welt Früchte ge- tragen, die den uralten deutſchen Volksboden in der Schweiz und den beiden Niederlanden, ſowie in Öſterreich-Ungarn immer mehr benagen. 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Es handelt ſich nur um Tatſachen und ſcheidet jede Schuldfrage aus, da ja auch Preußen ſeine Bam- berger Bauern vor den Toren des deutſch ge- wordenen Poſen mit geiſtlicher Hilfe verpolen ließ. Die Dänen machten als deutſche Bundesglieder aus Nordſchleswig Südjütland, obwohl das dort ge- redete Platt niemals däniſch war und ganz Jütland ſprachlich erſt däniſiert worden iſt. Altjütiſch iſt eine deutſche Mundart. Selbſt die erſt von Deutſchland gerettete Oranierherrſchaft entblödete ſich als eben- falls deutſches Bundesglied nicht, das urdeutſche Lützelburg — franzöſiſch zu regieren, was noch fortdauert. Die Schickſalsfrage des deutſchen Volkes in Europa iſt alſo eine Sprachenfrage und in Öſter- reich kann am wenigſten darüber Zweifel beſtehen. Die deutſche Sprache iſt dort ſogar beſonders im ſtaatlich gewollten oder doch geduldeten Rückgang begriffen, der die Grundlage des Staates als einer deutſchen Koloniſation berührt. 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Aber die vor ihr gehende Dame konnte unmöglich Charlotte Walter ſein, wenigſtens war der, der ſie begleitete, ſicher nicht Otto, Charlottens Verlobter. Und wie käme ſie dazu, ſich von einem andern die Hand küſſen zu laſſen? Nein, nein, es mußte eine Täuſchung ſein. Grete ſah ſich um. Kein Menſch war zu ſehen weit und breit. Das vor ihr gehende Pärchen ſchmiegte ſich eng zuſammen. Grete beſchleunigte ihre Schritte, das Paar fing an, ſie zu intereſſieren. Die Dame war elegant gekleidet, trug einen modernen Sommerhut mit rotem Mohn garniert und ein helles Koſtüm. Unter dem Hut leuchtete ein rötlicher dicker Haarknoten hervor. Nun wandte der Herr plötzlich den Kopf; er bemerkte das Mädchen und neigte ſich blitzſchnell zu ſeiner Begleiterin. Er ſchien ihr eine Mitteilung zu machen; dann beſchleunigten die beiden auffallend ihre Schritte und ehe Grete ihnen folgen konnte, waren ſie um die nächſte Wegbiegung verſchwunden. Sie mußten von da an fluchtartig gelaufen ſein, denn als Grete die Ecke erreichte, war keine mehr von ihnen zu ſehen. Das erſchien doch ſeltſam. Sollte es doch Char- lotte Walter geweſen ſein, die da mit einem andern in der Dämmerung promenierte? An ein ſolch ſcham- loſes Benehmen wollte Grete nicht glauben. Und doch ſchien alles darauf hinzudeuten. Die Figur, das Hoar, die Kleidung, alles ſtimmte. Grete dachte darüber nach, ob ſie über den Vorfall ſchweigen ſollte oder nicht. Beſtimmtes wußte ſie allerdings nicht, ſo war es wohl beſſer, den Mund zu halten. Aber war es nicht Pflicht, darüber zu ſprechen? Sie nahm ſich vor, wenigſtens Lieſe auf die Sache aufmerkſam zu machen. 8. Als Grete nach Hauſe kam, fand ſie die Mutter in begreiflicher Aufregung. Die arme Frau hatte ſich wegen des langen Ausbleibens unſäglich ge- ängſtigt. „Mein Gott“, klagte ſie, die Tränen trocknend, die ihr die Angſt um die kaum geneſene Tochter entlockt hatte, „was habe ich ausgeſtanden! 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Zitationshilfe: Marburger Zeitung. Nr. 141, Marburg, 24.11.1910, S. [1]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_marburger141_1910/1>, abgerufen am 21.11.2024.