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Marburger Zeitung. Nr. 26, Marburg, 02.03.1909.

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Schluß für Einschaltungen:
Dienstag, Donnerstag, Samstag 10 Uhr vormittags.

Die Einzelnummer kostet 10 Heller.




Nr. 26 Dienstag, 2. März 1909 48. Jahrgang.


[Spaltenumbruch]
Ein Rückblick.

Wenn man die Zusammensetzung des Reichs-
rates seit 1873 betrachtet, so findet man:

1873--1879: Deutsche 231, ohne Klerikale 205,
Slawen 122.
1879--1885: Deutsche 213, ohne Klerikale 173,
Slawen, Italiener u. s. w. 140.
1885--1891: Deutsche 185, ohne Klerikale 147,
Slawen, Italiener u. s. w. 168.
1891--1897: Deutsche 178, ohne Klerikale 149,
Slawen und andere 175.
1897--1903: Deutsche 195, ohne Klerikale und
Christlichsoziale 113, Slawen und andere 211.

Es hatten also bis zum Jahre 1885 die
Deutschen insgesamt die überwiegende
Mehrheit.
Die Sünden der damaligen größten
deutschen Partei -- der deutschliberalen, ungefähr
200 Mann -- gegen das Deutschtum sind himmel-
schreiend. Man denke nur, so schreibt das
"Alldeutsche Tagblatt", an die leichte Möglichkeit
einer Feststellung der deutschen Staatssprache
und Sonderstellung Galiziens. Zu letzterer
waren Zustimmungsäußerungen seitens
der Krone und der Polen sogar vorhanden.
Doch es geschah zur Sicherung des Deutschtums
nichts. Die Folgen sollten sich bald zeigen.
Von 1885 bis zur Wahlreform, also ungefähr 1907,
sind die Deutschen den anderen Nationen mit
ungefähr gleicher Stärke gegenübergestanden.
Es fallen in diese Zeit die glorreichen Badeni-Tage,
Tage, in denen die Einigkeit dazu diente, etwas
Bestimmtes (Sturz Badenis und der deutschfeind-
lichen Regierungsvorlagen) zu erreichen. Es wurde
[Spaltenumbruch] damals erreicht. Doch weiter. Es kommt die Wahl-
reform. Ergebnis: 205 Deutsche gegen 250 Nicht-
deutsche, die Deutschen sind dauernd in die Minderheit
gedrängt. Hiezu kommt, daß die Deutschen noch
weiter geschwächt sind durch die Sozialdemokraten.
Geberden sich die Klerikalen einmal national, dann
lassen sie sich's gut bezahlen auf freiheitlichem Gebiete,
wie Stillschweigen der Nationalfreiheitlichen zur
Knechtung der Lehrer, Verfolgung der Los von
Rom-Bewegung durch Nichtbestätigung der evan-
gelischen Geistlichen u. s. w. oder sie treiben gar
den erbärmlichsten Schacher mit dem heiligsten
Gefühle, dem Nationalgefühle und machen die
Betätigung ihrer nationalen Gesinnung von Zuge-
ständnissen der verschiedensten Art, um nur eines
zu nennen, Einräumung von einer Anzahl Stellen
in der Leitung der Schutzvereine gegen Eintritt
in denselben, abhängig. Sie denken sich jedenfalls
und mit Recht, haben wir einmal Eingang gefunden,
so wollen wir für das andere schon sorgen.
Doch genug davon. Es bleiben also ungefähr
170 Deutsche mit den Christlichsozialen gegen
285 Nichtdeutsche und Sozialdemokraten.

Seit der Wahlreform und schon vorher hatten
die einzelnen Nationalitäten und Parteien ihre Ver-
treter bis zur letzten parlamentarischen Regierung
in folgender Zusammensetzung:

Die Deutschen, u. zwar Parlamentarier 5

" Tschechen " " " 2

" Polen " " " 2

Hiezu kamen noch Beamtenminister, die ihrer
Nationalität nach Deutschen waren, ihrer Gesinnung
nach den Christlichsozialen nahe standen, 3. Die
[Spaltenumbruch] Minister für militärische Angelegenheiten sind nicht
gezählt. Summe 12, davon 8 Deutsche.

Also hatten die Deutschen in dem
Koalitions-Ministerium die Zweidrittelmehr-
heit.
Ergebnisse dieser "Herrschaft" der Deutschen,
die ja doch besser gar nicht mehr errungen werden
könnte, also Ergebnisse: Persen, Bergreichenstein,
Laibach, Prag, dazu Scheibenschießen der Welschen
auf deutsche Studenten in der deutschen Stadt Wien.
Was war also der Erfolg dieser Zweidrittelmehrheit
deutscher Minister? Fortwährendes Zurückdrängen
der Deutschen auf der ganzen Linie. Vorläufiges
Endergebnis dieser Politik die Sprachenvorlage, der-
zufolge die innere tschechische Amtssprache in ganz
Böhmen eingeführt werden soll. Und fragen wir
uns: wer ist schuld an dem ganzen nationalen
Unglücke? Die Deutschen selbst! Und das Warum
ist leicht aus einem Vergleiche zwischen der Haltung
der Deutschen zu Badenis Zeit, als sie in rück-
sichtsloser
Einigkeit vorgingen, um den Sturz
Badenis und seiner Vorlagen zu erreichen, und
der Haltung der Deutschen jetzt, wo sie Regierungs-
deutsche, Streber und Knechte geworden sind, zu
ersehen und zu begreifen. Die unglückselige Folge
dieser schmählichen Haltung war seinerzeit die Wahl-
reform und ist jetzt allmählich eine so große nationale
Not geworden, die jene zu Badenis Zeit bereits
übersteigt. Und dennoch kann man auch heute noch
immer jenes Schlagwort hören, von welchem das
zitierte Blatt eingangs jener Betrachtungen aus-
ging: Wiedererringung der verloren gegangenen
deutschen Autorität und Herrschaft in Österreich!






[Spaltenumbruch]
Um die Ehre gespielt.
Roman von Robert Heymann.

1 (Nachdruck verboten.)

1. Kapitel.

Der alte Freiherr Harras v. d. Marnitz ging
mit großen erregten Schritten in dem breiten,
getäfelten Raume des Herrensitzes auf Döbritz auf
und ab. Er hatte die Hände über dem Rücken gekreuzt;
zwischen den Brauen prägte sich eine tiefe, scharf-
geschnittene Falte aus, die schief zu der linken Braue
verlief, eine Familieneigentümlichkeit derer v. Marnitz.
Auch Udo besaß sie, wenn auch lange nicht in dem
ausgeprägtem Maße wie der Vater. Der junge
Offizier, Leutnant im Gardekürassierregement in
Berlin, stand in militärischer Haltung, die gepflegten
Hände über dem Säbelgriff verschlungen, vor dem
Vater.

"Wie oft habe ich dir schon gesagt, du solltest
die Finger von den Karten lassen! Ich möchte wissen,
von wem du diese Leidenschaft geerbt hast!
Von mir nicht, darauf kannst du dich verlassen!
Du scheinst überhaupt ein tolles Leben in Berlin
zu führen, mein Junge! Ein tolles Leben ....!
Was da so durchsickert, das sagt genug!"

Die stahlharten Augen des Alten, von weißen,
weit vorspringenden Brauen beschattet, hefteten sich
durchdringend auf das Antlitz des Sohnes.

Udo v. d. Marnitz mochte 26 Jahre zählen.
Auf etwas langem Hals saß ein kräftiger Kopf mit
schön geschnittenem Gesicht. Die Züge hatten noch
etwas Jünglinghaftes an sich, doch die großen
[Spaltenumbruch] blauen Augen, die ruhig und furchtlos den Blick
des Vaters aushielten, verrieten Reife und eine
natürliche Kühnheit, eine Sicherheit, von der jede
Bewegung des Jünglings getragen war. Bei den
letzten Wortes des alten Edelmannes huschte eine
flüchtige Röte über sein gebräuntes Gesicht.

"Ich weiß nicht, wer dir das gesagt haben kann",
entgegnete er dann. "Ich lebe nicht anders als
meine Kameraden. Wenn du das toll nennst -- nun,
man hat mich bisher nicht gelehrt, ein Musterknabe
zu sein. Vielleicht" -- hier nahm der Klang seiner
Stimme eine seltsam dunkle Färbung an --,
"vielleicht, Vater, lebe ich nicht immer ganz so,
wie du es wünschen würdest, wenn ich mir auch
nichts zuschulden kommen lasse, dessen ich mich
schämen müßte. Aber in mir lebt eine Kraft,
eine wilde, feurige Kraft, die keine Betätigung findet.
Und da treibt's mich dann an manchen Tagen zu
allerlei Torheiten. Dann wieder, Vater, taucht etwas
in mir auf, etwas ganz andres, das sich nicht mit
dem Verlangen, aufs Pferd zu springen und in einen
frisch-fröhlichen Krieg zu reiten, vergleichen ließe,
etwas Dunkles, das ganz auf dem Grunde meines
Herzens schlummert und manchmal lebend wird,
wenn ich allein bin. Und darum suche ich Gesellschaft,
darum treibe ich's manchmal, daß du es ein tolles
Leben nennst, Vater. Ich muß des öfteren vor meinen
Gedanken fliehen, vor einer stummen Sehnsucht,
die mich ergreift, wenn ich in meinem Zimmer in
Berlin sitze und den Blick auf das Bild der Mutter
hefte, das meinem Schreibtisch gegenüber hängt!"

Der junge Offizier hatte die letzten Worte
leise gesprochen und den Blick zu Boden gesenkt.
[Spaltenumbruch] So hatte er auch nicht bemerken können, daß der
Alte fast unmerklich zusammengezuckt war. Noch tiefer
grub sich die Falte zwischen die Brauen.
Einige Augenblicke hob und senkte sich die Brust
des Freiherrn in heftigen Atemstößen. Er öffnete
die Lippen, als wollte er etwas sagen, schluckte aber
das Wort hinunter und schließlich brachte er nichts
hervor als:

"Unsinn!"

Das war die ganze Weisheit. Und gleich als
klammere er sich an dieses Wort, wiederholte er
noch einmal:

"Unsinn! Das ist nichts als lauter dummer,
toller Unsinn!"

Udo v. d. Marnitz hob wieder den Kopf und
entgegnete, ohne mit einer Wimper zu zucken:

"Wie du meinst, Vater."

Die Ruhe des Jungen, eine gewisse Überlegenheit,
die sich in seinen Worten geltend machte,
beunruhigte den alten Freiherrn und brachte ihn
auf zu gleicher Zeit. Er ging wieder auf und ab
und maß den Sohn von Zeit zu Zeit mit einem
finsteren Blick. Nie war der Unterschied zwischen beiden
deutlicher hervorgetreten als in diesem Augenblick,
da der junge Udo mit solch unbewußter Überlegenheit
in einer Frage, die ohne Zweifel Vater und Sohn
heimlich mehr beschäftigte, als sie einander gestehen
wollten, geantwortet hatte:

"Wie du meinst, Vater!"

Harras v. d. Marnitz begriff sehr wohl,
daß in seinem Sohne etwas lebte, für das er nicht
das Verständnis besaß, etwas, für das sich keine
Berührungspunkte zwischen seinem und des Sohnes


Marburger Zeitung.



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lich 1 K. Bei Zuſtellung ins Haus monatlich 20 h mehr.

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Das Abonnement dauert bis zur ſchriſtlichen Abbeſtellung.


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Erſcheint jeden Dienstag, Donnerstag und
Samstag abends.

Sprechſtunden des Schriftleiters an allen Wochentagen von
11—12 Uhr vorm. und von 5—6 Uhr nachm. Poſtgaſſe 4.

Die Verwaltung befindet ſich: Poſtgaſſe 4. (Telephon Nr. 24.)


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Anzeigen werden im Verlage des Blattes und von
allen größeren Annoncen-Expeditionen entgegengenommen
und koſtet die fünfmal geſpaltene Kleinzeile 12 h.

Schluß für Einſchaltungen:
Dienstag, Donnerstag, Samstag 10 Uhr vormittags.

Die Einzelnummer koſtet 10 Heller.




Nr. 26 Dienstag, 2. März 1909 48. Jahrgang.


[Spaltenumbruch]
Ein Rückblick.

Wenn man die Zuſammenſetzung des Reichs-
rates ſeit 1873 betrachtet, ſo findet man:

1873—1879: Deutſche 231, ohne Klerikale 205,
Slawen 122.
1879—1885: Deutſche 213, ohne Klerikale 173,
Slawen, Italiener u. ſ. w. 140.
1885—1891: Deutſche 185, ohne Klerikale 147,
Slawen, Italiener u. ſ. w. 168.
1891—1897: Deutſche 178, ohne Klerikale 149,
Slawen und andere 175.
1897—1903: Deutſche 195, ohne Klerikale und
Chriſtlichſoziale 113, Slawen und andere 211.

Es hatten alſo bis zum Jahre 1885 die
Deutſchen insgeſamt die überwiegende
Mehrheit.
Die Sünden der damaligen größten
deutſchen Partei — der deutſchliberalen, ungefähr
200 Mann — gegen das Deutſchtum ſind himmel-
ſchreiend. Man denke nur, ſo ſchreibt das
„Alldeutſche Tagblatt“, an die leichte Möglichkeit
einer Feſtſtellung der deutſchen Staatsſprache
und Sonderſtellung Galiziens. Zu letzterer
waren Zuſtimmungsäußerungen ſeitens
der Krone und der Polen ſogar vorhanden.
Doch es geſchah zur Sicherung des Deutſchtums
nichts. Die Folgen ſollten ſich bald zeigen.
Von 1885 bis zur Wahlreform, alſo ungefähr 1907,
ſind die Deutſchen den anderen Nationen mit
ungefähr gleicher Stärke gegenübergeſtanden.
Es fallen in dieſe Zeit die glorreichen Badeni-Tage,
Tage, in denen die Einigkeit dazu diente, etwas
Beſtimmtes (Sturz Badenis und der deutſchfeind-
lichen Regierungsvorlagen) zu erreichen. Es wurde
[Spaltenumbruch] damals erreicht. Doch weiter. Es kommt die Wahl-
reform. Ergebnis: 205 Deutſche gegen 250 Nicht-
deutſche, die Deutſchen ſind dauernd in die Minderheit
gedrängt. Hiezu kommt, daß die Deutſchen noch
weiter geſchwächt ſind durch die Sozialdemokraten.
Geberden ſich die Klerikalen einmal national, dann
laſſen ſie ſich’s gut bezahlen auf freiheitlichem Gebiete,
wie Stillſchweigen der Nationalfreiheitlichen zur
Knechtung der Lehrer, Verfolgung der Los von
Rom-Bewegung durch Nichtbeſtätigung der evan-
geliſchen Geiſtlichen u. ſ. w. oder ſie treiben gar
den erbärmlichſten Schacher mit dem heiligſten
Gefühle, dem Nationalgefühle und machen die
Betätigung ihrer nationalen Geſinnung von Zuge-
ſtändniſſen der verſchiedenſten Art, um nur eines
zu nennen, Einräumung von einer Anzahl Stellen
in der Leitung der Schutzvereine gegen Eintritt
in denſelben, abhängig. Sie denken ſich jedenfalls
und mit Recht, haben wir einmal Eingang gefunden,
ſo wollen wir für das andere ſchon ſorgen.
Doch genug davon. Es bleiben alſo ungefähr
170 Deutſche mit den Chriſtlichſozialen gegen
285 Nichtdeutſche und Sozialdemokraten.

Seit der Wahlreform und ſchon vorher hatten
die einzelnen Nationalitäten und Parteien ihre Ver-
treter bis zur letzten parlamentariſchen Regierung
in folgender Zuſammenſetzung:

Die Deutſchen, u. zwar Parlamentarier 5

„ Tſchechen „ „ „ 2

„ Polen „ „ „ 2

Hiezu kamen noch Beamtenminiſter, die ihrer
Nationalität nach Deutſchen waren, ihrer Geſinnung
nach den Chriſtlichſozialen nahe ſtanden, 3. Die
[Spaltenumbruch] Miniſter für militäriſche Angelegenheiten ſind nicht
gezählt. Summe 12, davon 8 Deutſche.

Alſo hatten die Deutſchen in dem
Koalitions-Miniſterium die Zweidrittelmehr-
heit.
Ergebniſſe dieſer „Herrſchaft“ der Deutſchen,
die ja doch beſſer gar nicht mehr errungen werden
könnte, alſo Ergebniſſe: Perſen, Bergreichenſtein,
Laibach, Prag, dazu Scheibenſchießen der Welſchen
auf deutſche Studenten in der deutſchen Stadt Wien.
Was war alſo der Erfolg dieſer Zweidrittelmehrheit
deutſcher Miniſter? Fortwährendes Zurückdrängen
der Deutſchen auf der ganzen Linie. Vorläufiges
Endergebnis dieſer Politik die Sprachenvorlage, der-
zufolge die innere tſchechiſche Amtsſprache in ganz
Böhmen eingeführt werden ſoll. Und fragen wir
uns: wer iſt ſchuld an dem ganzen nationalen
Unglücke? Die Deutſchen ſelbſt! Und das Warum
iſt leicht aus einem Vergleiche zwiſchen der Haltung
der Deutſchen zu Badenis Zeit, als ſie in rück-
ſichtsloſer
Einigkeit vorgingen, um den Sturz
Badenis und ſeiner Vorlagen zu erreichen, und
der Haltung der Deutſchen jetzt, wo ſie Regierungs-
deutſche, Streber und Knechte geworden ſind, zu
erſehen und zu begreifen. Die unglückſelige Folge
dieſer ſchmählichen Haltung war ſeinerzeit die Wahl-
reform und iſt jetzt allmählich eine ſo große nationale
Not geworden, die jene zu Badenis Zeit bereits
überſteigt. Und dennoch kann man auch heute noch
immer jenes Schlagwort hören, von welchem das
zitierte Blatt eingangs jener Betrachtungen aus-
ging: Wiedererringung der verloren gegangenen
deutſchen Autorität und Herrſchaft in Öſterreich!






[Spaltenumbruch]
Um die Ehre geſpielt.
Roman von Robert Heymann.

1 (Nachdruck verboten.)

1. Kapitel.

Der alte Freiherr Harras v. d. Marnitz ging
mit großen erregten Schritten in dem breiten,
getäfelten Raume des Herrenſitzes auf Döbritz auf
und ab. Er hatte die Hände über dem Rücken gekreuzt;
zwiſchen den Brauen prägte ſich eine tiefe, ſcharf-
geſchnittene Falte aus, die ſchief zu der linken Braue
verlief, eine Familieneigentümlichkeit derer v. Marnitz.
Auch Udo beſaß ſie, wenn auch lange nicht in dem
ausgeprägtem Maße wie der Vater. Der junge
Offizier, Leutnant im Gardeküraſſierregement in
Berlin, ſtand in militäriſcher Haltung, die gepflegten
Hände über dem Säbelgriff verſchlungen, vor dem
Vater.

„Wie oft habe ich dir ſchon geſagt, du ſollteſt
die Finger von den Karten laſſen! Ich möchte wiſſen,
von wem du dieſe Leidenſchaft geerbt haſt!
Von mir nicht, darauf kannſt du dich verlaſſen!
Du ſcheinſt überhaupt ein tolles Leben in Berlin
zu führen, mein Junge! Ein tolles Leben ....!
Was da ſo durchſickert, das ſagt genug!“

Die ſtahlharten Augen des Alten, von weißen,
weit vorſpringenden Brauen beſchattet, hefteten ſich
durchdringend auf das Antlitz des Sohnes.

Udo v. d. Marnitz mochte 26 Jahre zählen.
Auf etwas langem Hals ſaß ein kräftiger Kopf mit
ſchön geſchnittenem Geſicht. Die Züge hatten noch
etwas Jünglinghaftes an ſich, doch die großen
[Spaltenumbruch] blauen Augen, die ruhig und furchtlos den Blick
des Vaters aushielten, verrieten Reife und eine
natürliche Kühnheit, eine Sicherheit, von der jede
Bewegung des Jünglings getragen war. Bei den
letzten Wortes des alten Edelmannes huſchte eine
flüchtige Röte über ſein gebräuntes Geſicht.

„Ich weiß nicht, wer dir das geſagt haben kann“,
entgegnete er dann. „Ich lebe nicht anders als
meine Kameraden. Wenn du das toll nennſt — nun,
man hat mich bisher nicht gelehrt, ein Muſterknabe
zu ſein. Vielleicht“ — hier nahm der Klang ſeiner
Stimme eine ſeltſam dunkle Färbung an —,
„vielleicht, Vater, lebe ich nicht immer ganz ſo,
wie du es wünſchen würdeſt, wenn ich mir auch
nichts zuſchulden kommen laſſe, deſſen ich mich
ſchämen müßte. Aber in mir lebt eine Kraft,
eine wilde, feurige Kraft, die keine Betätigung findet.
Und da treibt’s mich dann an manchen Tagen zu
allerlei Torheiten. Dann wieder, Vater, taucht etwas
in mir auf, etwas ganz andres, das ſich nicht mit
dem Verlangen, aufs Pferd zu ſpringen und in einen
friſch-fröhlichen Krieg zu reiten, vergleichen ließe,
etwas Dunkles, das ganz auf dem Grunde meines
Herzens ſchlummert und manchmal lebend wird,
wenn ich allein bin. Und darum ſuche ich Geſellſchaft,
darum treibe ich’s manchmal, daß du es ein tolles
Leben nennſt, Vater. Ich muß des öfteren vor meinen
Gedanken fliehen, vor einer ſtummen Sehnſucht,
die mich ergreift, wenn ich in meinem Zimmer in
Berlin ſitze und den Blick auf das Bild der Mutter
hefte, das meinem Schreibtiſch gegenüber hängt!“

Der junge Offizier hatte die letzten Worte
leiſe geſprochen und den Blick zu Boden geſenkt.
[Spaltenumbruch] So hatte er auch nicht bemerken können, daß der
Alte faſt unmerklich zuſammengezuckt war. Noch tiefer
grub ſich die Falte zwiſchen die Brauen.
Einige Augenblicke hob und ſenkte ſich die Bruſt
des Freiherrn in heftigen Atemſtößen. Er öffnete
die Lippen, als wollte er etwas ſagen, ſchluckte aber
das Wort hinunter und ſchließlich brachte er nichts
hervor als:

„Unſinn!“

Das war die ganze Weisheit. Und gleich als
klammere er ſich an dieſes Wort, wiederholte er
noch einmal:

„Unſinn! Das iſt nichts als lauter dummer,
toller Unſinn!“

Udo v. d. Marnitz hob wieder den Kopf und
entgegnete, ohne mit einer Wimper zu zucken:

„Wie du meinſt, Vater.“

Die Ruhe des Jungen, eine gewiſſe Überlegenheit,
die ſich in ſeinen Worten geltend machte,
beunruhigte den alten Freiherrn und brachte ihn
auf zu gleicher Zeit. Er ging wieder auf und ab
und maß den Sohn von Zeit zu Zeit mit einem
finſteren Blick. Nie war der Unterſchied zwiſchen beiden
deutlicher hervorgetreten als in dieſem Augenblick,
da der junge Udo mit ſolch unbewußter Überlegenheit
in einer Frage, die ohne Zweifel Vater und Sohn
heimlich mehr beſchäftigte, als ſie einander geſtehen
wollten, geantwortet hatte:

„Wie du meinſt, Vater!“

Harras v. d. Marnitz begriff ſehr wohl,
daß in ſeinem Sohne etwas lebte, für das er nicht
das Verſtändnis beſaß, etwas, für das ſich keine
Berührungspunkte zwiſchen ſeinem und des Sohnes


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[[1]/0001] Marburger Zeitung. Der Preis des Blattes beträgt: Für Marburg: Ganzjährig 12 K, halbjährig 6 K, vierteljährig 3 K, monat- lich 1 K. Bei Zuſtellung ins Haus monatlich 20 h mehr. Mit Poſtverſendung: Ganzjährig 14 K, halbjährig 7 K, vierteljährig 3 K 50 h. Das Abonnement dauert bis zur ſchriſtlichen Abbeſtellung. Erſcheint jeden Dienstag, Donnerstag und Samstag abends. Sprechſtunden des Schriftleiters an allen Wochentagen von 11—12 Uhr vorm. und von 5—6 Uhr nachm. Poſtgaſſe 4. Die Verwaltung befindet ſich: Poſtgaſſe 4. (Telephon Nr. 24.) Anzeigen werden im Verlage des Blattes und von allen größeren Annoncen-Expeditionen entgegengenommen und koſtet die fünfmal geſpaltene Kleinzeile 12 h. Schluß für Einſchaltungen: Dienstag, Donnerstag, Samstag 10 Uhr vormittags. Die Einzelnummer koſtet 10 Heller. Nr. 26 Dienstag, 2. März 1909 48. Jahrgang. Ein Rückblick. Wenn man die Zuſammenſetzung des Reichs- rates ſeit 1873 betrachtet, ſo findet man: 1873—1879: Deutſche 231, ohne Klerikale 205, Slawen 122. 1879—1885: Deutſche 213, ohne Klerikale 173, Slawen, Italiener u. ſ. w. 140. 1885—1891: Deutſche 185, ohne Klerikale 147, Slawen, Italiener u. ſ. w. 168. 1891—1897: Deutſche 178, ohne Klerikale 149, Slawen und andere 175. 1897—1903: Deutſche 195, ohne Klerikale und Chriſtlichſoziale 113, Slawen und andere 211. Es hatten alſo bis zum Jahre 1885 die Deutſchen insgeſamt die überwiegende Mehrheit. Die Sünden der damaligen größten deutſchen Partei — der deutſchliberalen, ungefähr 200 Mann — gegen das Deutſchtum ſind himmel- ſchreiend. Man denke nur, ſo ſchreibt das „Alldeutſche Tagblatt“, an die leichte Möglichkeit einer Feſtſtellung der deutſchen Staatsſprache und Sonderſtellung Galiziens. Zu letzterer waren Zuſtimmungsäußerungen ſeitens der Krone und der Polen ſogar vorhanden. Doch es geſchah zur Sicherung des Deutſchtums nichts. 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Geberden ſich die Klerikalen einmal national, dann laſſen ſie ſich’s gut bezahlen auf freiheitlichem Gebiete, wie Stillſchweigen der Nationalfreiheitlichen zur Knechtung der Lehrer, Verfolgung der Los von Rom-Bewegung durch Nichtbeſtätigung der evan- geliſchen Geiſtlichen u. ſ. w. oder ſie treiben gar den erbärmlichſten Schacher mit dem heiligſten Gefühle, dem Nationalgefühle und machen die Betätigung ihrer nationalen Geſinnung von Zuge- ſtändniſſen der verſchiedenſten Art, um nur eines zu nennen, Einräumung von einer Anzahl Stellen in der Leitung der Schutzvereine gegen Eintritt in denſelben, abhängig. Sie denken ſich jedenfalls und mit Recht, haben wir einmal Eingang gefunden, ſo wollen wir für das andere ſchon ſorgen. Doch genug davon. Es bleiben alſo ungefähr 170 Deutſche mit den Chriſtlichſozialen gegen 285 Nichtdeutſche und Sozialdemokraten. Seit der Wahlreform und ſchon vorher hatten die einzelnen Nationalitäten und Parteien ihre Ver- treter bis zur letzten parlamentariſchen Regierung in folgender Zuſammenſetzung: Die Deutſchen, u. zwar Parlamentarier 5 „ Tſchechen „ „ „ 2 „ Polen „ „ „ 2 Hiezu kamen noch Beamtenminiſter, die ihrer Nationalität nach Deutſchen waren, ihrer Geſinnung nach den Chriſtlichſozialen nahe ſtanden, 3. Die Miniſter für militäriſche Angelegenheiten ſind nicht gezählt. Summe 12, davon 8 Deutſche. Alſo hatten die Deutſchen in dem Koalitions-Miniſterium die Zweidrittelmehr- heit. Ergebniſſe dieſer „Herrſchaft“ der Deutſchen, die ja doch beſſer gar nicht mehr errungen werden könnte, alſo Ergebniſſe: Perſen, Bergreichenſtein, Laibach, Prag, dazu Scheibenſchießen der Welſchen auf deutſche Studenten in der deutſchen Stadt Wien. Was war alſo der Erfolg dieſer Zweidrittelmehrheit deutſcher Miniſter? Fortwährendes Zurückdrängen der Deutſchen auf der ganzen Linie. Vorläufiges Endergebnis dieſer Politik die Sprachenvorlage, der- zufolge die innere tſchechiſche Amtsſprache in ganz Böhmen eingeführt werden ſoll. Und fragen wir uns: wer iſt ſchuld an dem ganzen nationalen Unglücke? Die Deutſchen ſelbſt! Und das Warum iſt leicht aus einem Vergleiche zwiſchen der Haltung der Deutſchen zu Badenis Zeit, als ſie in rück- ſichtsloſer Einigkeit vorgingen, um den Sturz Badenis und ſeiner Vorlagen zu erreichen, und der Haltung der Deutſchen jetzt, wo ſie Regierungs- deutſche, Streber und Knechte geworden ſind, zu erſehen und zu begreifen. Die unglückſelige Folge dieſer ſchmählichen Haltung war ſeinerzeit die Wahl- reform und iſt jetzt allmählich eine ſo große nationale Not geworden, die jene zu Badenis Zeit bereits überſteigt. Und dennoch kann man auch heute noch immer jenes Schlagwort hören, von welchem das zitierte Blatt eingangs jener Betrachtungen aus- ging: Wiedererringung der verloren gegangenen deutſchen Autorität und Herrſchaft in Öſterreich! Um die Ehre geſpielt. Roman von Robert Heymann. 1 (Nachdruck verboten.) 1. Kapitel. Der alte Freiherr Harras v. d. Marnitz ging mit großen erregten Schritten in dem breiten, getäfelten Raume des Herrenſitzes auf Döbritz auf und ab. Er hatte die Hände über dem Rücken gekreuzt; zwiſchen den Brauen prägte ſich eine tiefe, ſcharf- geſchnittene Falte aus, die ſchief zu der linken Braue verlief, eine Familieneigentümlichkeit derer v. Marnitz. Auch Udo beſaß ſie, wenn auch lange nicht in dem ausgeprägtem Maße wie der Vater. Der junge Offizier, Leutnant im Gardeküraſſierregement in Berlin, ſtand in militäriſcher Haltung, die gepflegten Hände über dem Säbelgriff verſchlungen, vor dem Vater. „Wie oft habe ich dir ſchon geſagt, du ſollteſt die Finger von den Karten laſſen! Ich möchte wiſſen, von wem du dieſe Leidenſchaft geerbt haſt! Von mir nicht, darauf kannſt du dich verlaſſen! Du ſcheinſt überhaupt ein tolles Leben in Berlin zu führen, mein Junge! Ein tolles Leben ....! Was da ſo durchſickert, das ſagt genug!“ Die ſtahlharten Augen des Alten, von weißen, weit vorſpringenden Brauen beſchattet, hefteten ſich durchdringend auf das Antlitz des Sohnes. Udo v. d. Marnitz mochte 26 Jahre zählen. Auf etwas langem Hals ſaß ein kräftiger Kopf mit ſchön geſchnittenem Geſicht. Die Züge hatten noch etwas Jünglinghaftes an ſich, doch die großen blauen Augen, die ruhig und furchtlos den Blick des Vaters aushielten, verrieten Reife und eine natürliche Kühnheit, eine Sicherheit, von der jede Bewegung des Jünglings getragen war. Bei den letzten Wortes des alten Edelmannes huſchte eine flüchtige Röte über ſein gebräuntes Geſicht. „Ich weiß nicht, wer dir das geſagt haben kann“, entgegnete er dann. „Ich lebe nicht anders als meine Kameraden. Wenn du das toll nennſt — nun, man hat mich bisher nicht gelehrt, ein Muſterknabe zu ſein. 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Marnitz hob wieder den Kopf und entgegnete, ohne mit einer Wimper zu zucken: „Wie du meinſt, Vater.“ Die Ruhe des Jungen, eine gewiſſe Überlegenheit, die ſich in ſeinen Worten geltend machte, beunruhigte den alten Freiherrn und brachte ihn auf zu gleicher Zeit. Er ging wieder auf und ab und maß den Sohn von Zeit zu Zeit mit einem finſteren Blick. Nie war der Unterſchied zwiſchen beiden deutlicher hervorgetreten als in dieſem Augenblick, da der junge Udo mit ſolch unbewußter Überlegenheit in einer Frage, die ohne Zweifel Vater und Sohn heimlich mehr beſchäftigte, als ſie einander geſtehen wollten, geantwortet hatte: „Wie du meinſt, Vater!“ Harras v. d. Marnitz begriff ſehr wohl, daß in ſeinem Sohne etwas lebte, für das er nicht das Verſtändnis beſaß, etwas, für das ſich keine Berührungspunkte zwiſchen ſeinem und des Sohnes

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Amelie Meister: Vorbereitung der Texttranskription und Textauszeichnung. (2018-01-26T13:38:42Z)

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Zitationshilfe: Marburger Zeitung. Nr. 26, Marburg, 02.03.1909, S. [1]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_marburger26_1909/1>, abgerufen am 21.11.2024.