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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 30. Stuttgart/Tübingen, 27. Juli 1856.

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[Beginn Spaltensatz] Harrens müde, wieder auf dem Luzerner See ange-
langt, zu meinem Erstaunen und Aerger den Culm im
hellen Sonnenschein über mir erblickte.

Auf dieser Seite des Berges fehlt der allmählige
Uebergang des Laubholzes ( Nadelholz ist nirgends vor-
handen ) aus krüppelhaftem Gebüsch zu kräftig vegeti-
renden Bäumen. Von etwa 4500 Fuß Höhe an ab-
wärts unterbrechen in Gruppen zusammenstehende alte
Buchen, die sich mit den edelsten ihres Geschlechts in
den deutschen und dänischen Wäldern messen können,
die Einförmigkeit der weit gedehnten Matten. Nicht so
hoch und schlank, erst weit vom Boden ein ziemlich
spärliches Astsystem aussendend, wie wir sie in unsern
wohlgepflegten Forsten sehen, sondern von gewaltigem
Umfang und von etwa zehn bis zwanzig Fuß Höhe an
ein Labyrinth von starken Aesten und dicht belaubten
Zweigen ausbreitend, oft mit niederhängenden Spitzen
laubenartig, bieten sie den Hirten und Heerden einen
Zufluchtsort auch vor dem gewaltigsten Gewitterregen.
Auf tiefgründigem Boden, nur gegen Süden dem Winde
Zugang verstattend, erfreuen sie den deutschen Wande-
rer mit dem Anblick einer Ueppigkeit und Fülle an
Laub und Stamm, die er sonst auf den Halbinseln des
südlichen Europa, zumal bei den aus der Heimath ver-
trauten Baumgestalten schmerzlich vermißt. Wohl mögen
ihn die Cypressen des Gartens der Villa d'Este in Ti-
voli, die Pinien von Ravenna, die Oelbäume von
Syrakus und Agrigent, die Steineichen von Ariccia
und Frascati, die Johannisbrodbäume von Amalfi und
die Kastanien des Aetna durch ihre riesigen Verhältnisse
in Erstaunen setzen; aber nur in wenigen verborgenen
Schluchten des Apennins, oder auf den wunderbaren
Sandsteinfelsen der Alvernia findet er Buchen und
Rothtannen, die ihm beweisen, daß Humboldt Recht
hat, wenn er sagt, daß es weniger die Schuld der
Natur, als der umschaffende Geist der Nationen, die
tausendjährige Cultur sey, die Jtalien des größten
Theils seines Wälderschmucks beraubt habe.

Während wir nach abermaliger Durchwatung ei-
nes der zahllosen Waldströme im Schatten einer solchen
Buche ausruhten, erzählte uns der Führer, der es für
seine Pflicht zu halten schien, uns nicht nur zu gelei-
ten, sondern auch nach Kräften zu unterhalten, eine
seltsame Geschichte von zwei Poeten aus den beiden
Nachbarflecken San Marcello und Popiglio. Der Ruhm
des einen als Sonettendichter habe den andern nicht
schlafen lassen, er sey mit Gegensonetten aufgetreten;
aus der Rivalität sey ein förmlicher Sonettenkampf ge-
worden; die beiden Ortschaften haben nach und nach
bis zum letzten Mann Partei für ihre respektiven Mit-
bürger genommen, wie -- si parva licet componere
[Spaltenumbruch] magnis
-- in Paris dereinst die Jobelins und Uranistes
für Voiture und Benserade. Erst nach Verlauf meh-
rerer Jahre und noch dem Erscheinen einer Anzahl von
Sonetten habe der Tod des einen Kämpfers dieser litera-
rischen Fehde ein Ende gemacht; doch seyen die Spuren
nebenbuhlerischer Eifersucht zwischen den beiden Flecken
noch immer nicht ausgetilgt.

Dieses Zusammenhalten der Bewohner einzelner
Städte und Ortschaften gegen ihre Nachbarn und die
daraus entstehende Nebenbuhlerschaft, die gara munici-
pale,
ist ein eigenthümlicher Zug im italienischen Na-
tionalcharakter, der sich seit vielen Jahrhunderten stets
im Kleinen wie im Großen wiederholt, und einer na-
tionalen Erhebung des ganzen Landes, wie den Ein-
heitsbestrebungen einzelner Patrioten immer von neuem
ein unüberwindliches Hinderniß entgegen setzt. Als im
Jahr 1848 vorübergehend Aussicht zu einem einigen
Königreich oder einer Republik Jtalien vorhanden zu
seyn schien, zankten Rom und Neapel, Florenz und
Turin, Mailand und Venedig schon ganz ernsthaft um
die Ehre, die künftige Metropole des neuen Reichs zu
werden, und ihre Bürger erklärten in Zeitungen, Adressen
und Protesten, daß sie ihre Vaterstadt nie zu einer
citta di provincia herabwürdigen lassen würden. Und
so ist es auch innerhalb desselben Staates. Die zum
förmlichen Hasse gesteigerte Rivalität zwischen Florenz
und Livorno rief die toscanische Contrerevolution vom
12. April 1849 hervor; Neapel und Palermo liegen
immer in offenem oder verstecktem Kriege; schlecht ver-
hehlte, oft in helle Flammen ausbrechende Eifersucht
herrscht zwischen Turin und Genua, zwischen Rom
und Bologna. Ja, nach den Erfahrungen des letzten
Jahrzehnts ist es kaum zu bezweifeln, daß mit der re-
publikanischen Freiheit des Mittelalters auch die wilden
Parteikämpfe wiederkehren würden, gegen die Dante
klagend und zürnend die deutschen Kaiser zu Hülfe ruft,
zwischen denen, " che un muro e una fossa serra."

Doch genug davon. Ein Priester, dem wir beim
Hinabsteigen begegneten und der seit 1848 in eines der
Dörfer des Hochgebirgs verbannt war, hatte das An-
denken an jene vielbewegte Zeit wieder lebhaft in mir
wach gerufen. Wie viele seiner jüngeren Genossen,
hatte er, noch nicht hinlänglich gedrillt und versteint
durch Seminar = und Klosterzucht, sich von der patrio-
tischen Begeisterung jener Tage zu Demonstrationen
hinreißen lassen, zu denen damals der allgefeierte Name
Pius IX. auch die Geweihten des Herrn zu berechtigen
schien. Aber er hatte es nicht verstanden, zur richti-
gen Zeit Chamade zu schlagen und den Rock zu wen-
den. Bei dem Siege der Reaction füllten sich die Ge-
fängnisse mit politisch Compromittirten aus den weltlichen
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] Harrens müde, wieder auf dem Luzerner See ange-
langt, zu meinem Erstaunen und Aerger den Culm im
hellen Sonnenschein über mir erblickte.

Auf dieser Seite des Berges fehlt der allmählige
Uebergang des Laubholzes ( Nadelholz ist nirgends vor-
handen ) aus krüppelhaftem Gebüsch zu kräftig vegeti-
renden Bäumen. Von etwa 4500 Fuß Höhe an ab-
wärts unterbrechen in Gruppen zusammenstehende alte
Buchen, die sich mit den edelsten ihres Geschlechts in
den deutschen und dänischen Wäldern messen können,
die Einförmigkeit der weit gedehnten Matten. Nicht so
hoch und schlank, erst weit vom Boden ein ziemlich
spärliches Astsystem aussendend, wie wir sie in unsern
wohlgepflegten Forsten sehen, sondern von gewaltigem
Umfang und von etwa zehn bis zwanzig Fuß Höhe an
ein Labyrinth von starken Aesten und dicht belaubten
Zweigen ausbreitend, oft mit niederhängenden Spitzen
laubenartig, bieten sie den Hirten und Heerden einen
Zufluchtsort auch vor dem gewaltigsten Gewitterregen.
Auf tiefgründigem Boden, nur gegen Süden dem Winde
Zugang verstattend, erfreuen sie den deutschen Wande-
rer mit dem Anblick einer Ueppigkeit und Fülle an
Laub und Stamm, die er sonst auf den Halbinseln des
südlichen Europa, zumal bei den aus der Heimath ver-
trauten Baumgestalten schmerzlich vermißt. Wohl mögen
ihn die Cypressen des Gartens der Villa d'Este in Ti-
voli, die Pinien von Ravenna, die Oelbäume von
Syrakus und Agrigent, die Steineichen von Ariccia
und Frascati, die Johannisbrodbäume von Amalfi und
die Kastanien des Aetna durch ihre riesigen Verhältnisse
in Erstaunen setzen; aber nur in wenigen verborgenen
Schluchten des Apennins, oder auf den wunderbaren
Sandsteinfelsen der Alvernia findet er Buchen und
Rothtannen, die ihm beweisen, daß Humboldt Recht
hat, wenn er sagt, daß es weniger die Schuld der
Natur, als der umschaffende Geist der Nationen, die
tausendjährige Cultur sey, die Jtalien des größten
Theils seines Wälderschmucks beraubt habe.

Während wir nach abermaliger Durchwatung ei-
nes der zahllosen Waldströme im Schatten einer solchen
Buche ausruhten, erzählte uns der Führer, der es für
seine Pflicht zu halten schien, uns nicht nur zu gelei-
ten, sondern auch nach Kräften zu unterhalten, eine
seltsame Geschichte von zwei Poeten aus den beiden
Nachbarflecken San Marcello und Popiglio. Der Ruhm
des einen als Sonettendichter habe den andern nicht
schlafen lassen, er sey mit Gegensonetten aufgetreten;
aus der Rivalität sey ein förmlicher Sonettenkampf ge-
worden; die beiden Ortschaften haben nach und nach
bis zum letzten Mann Partei für ihre respektiven Mit-
bürger genommen, wie — si parva licet componere
[Spaltenumbruch] magnis
— in Paris dereinst die Jobelins und Uranistes
für Voiture und Benserade. Erst nach Verlauf meh-
rerer Jahre und noch dem Erscheinen einer Anzahl von
Sonetten habe der Tod des einen Kämpfers dieser litera-
rischen Fehde ein Ende gemacht; doch seyen die Spuren
nebenbuhlerischer Eifersucht zwischen den beiden Flecken
noch immer nicht ausgetilgt.

Dieses Zusammenhalten der Bewohner einzelner
Städte und Ortschaften gegen ihre Nachbarn und die
daraus entstehende Nebenbuhlerschaft, die gara munici-
pale,
ist ein eigenthümlicher Zug im italienischen Na-
tionalcharakter, der sich seit vielen Jahrhunderten stets
im Kleinen wie im Großen wiederholt, und einer na-
tionalen Erhebung des ganzen Landes, wie den Ein-
heitsbestrebungen einzelner Patrioten immer von neuem
ein unüberwindliches Hinderniß entgegen setzt. Als im
Jahr 1848 vorübergehend Aussicht zu einem einigen
Königreich oder einer Republik Jtalien vorhanden zu
seyn schien, zankten Rom und Neapel, Florenz und
Turin, Mailand und Venedig schon ganz ernsthaft um
die Ehre, die künftige Metropole des neuen Reichs zu
werden, und ihre Bürger erklärten in Zeitungen, Adressen
und Protesten, daß sie ihre Vaterstadt nie zu einer
città di provincia herabwürdigen lassen würden. Und
so ist es auch innerhalb desselben Staates. Die zum
förmlichen Hasse gesteigerte Rivalität zwischen Florenz
und Livorno rief die toscanische Contrerevolution vom
12. April 1849 hervor; Neapel und Palermo liegen
immer in offenem oder verstecktem Kriege; schlecht ver-
hehlte, oft in helle Flammen ausbrechende Eifersucht
herrscht zwischen Turin und Genua, zwischen Rom
und Bologna. Ja, nach den Erfahrungen des letzten
Jahrzehnts ist es kaum zu bezweifeln, daß mit der re-
publikanischen Freiheit des Mittelalters auch die wilden
Parteikämpfe wiederkehren würden, gegen die Dante
klagend und zürnend die deutschen Kaiser zu Hülfe ruft,
zwischen denen, » che un muro e una fossa serra

Doch genug davon. Ein Priester, dem wir beim
Hinabsteigen begegneten und der seit 1848 in eines der
Dörfer des Hochgebirgs verbannt war, hatte das An-
denken an jene vielbewegte Zeit wieder lebhaft in mir
wach gerufen. Wie viele seiner jüngeren Genossen,
hatte er, noch nicht hinlänglich gedrillt und versteint
durch Seminar = und Klosterzucht, sich von der patrio-
tischen Begeisterung jener Tage zu Demonstrationen
hinreißen lassen, zu denen damals der allgefeierte Name
Pius IX. auch die Geweihten des Herrn zu berechtigen
schien. Aber er hatte es nicht verstanden, zur richti-
gen Zeit Chamade zu schlagen und den Rock zu wen-
den. Bei dem Siege der Reaction füllten sich die Ge-
fängnisse mit politisch Compromittirten aus den weltlichen
[Ende Spaltensatz]

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[712/0016] 712 Harrens müde, wieder auf dem Luzerner See ange- langt, zu meinem Erstaunen und Aerger den Culm im hellen Sonnenschein über mir erblickte. Auf dieser Seite des Berges fehlt der allmählige Uebergang des Laubholzes ( Nadelholz ist nirgends vor- handen ) aus krüppelhaftem Gebüsch zu kräftig vegeti- renden Bäumen. Von etwa 4500 Fuß Höhe an ab- wärts unterbrechen in Gruppen zusammenstehende alte Buchen, die sich mit den edelsten ihres Geschlechts in den deutschen und dänischen Wäldern messen können, die Einförmigkeit der weit gedehnten Matten. Nicht so hoch und schlank, erst weit vom Boden ein ziemlich spärliches Astsystem aussendend, wie wir sie in unsern wohlgepflegten Forsten sehen, sondern von gewaltigem Umfang und von etwa zehn bis zwanzig Fuß Höhe an ein Labyrinth von starken Aesten und dicht belaubten Zweigen ausbreitend, oft mit niederhängenden Spitzen laubenartig, bieten sie den Hirten und Heerden einen Zufluchtsort auch vor dem gewaltigsten Gewitterregen. Auf tiefgründigem Boden, nur gegen Süden dem Winde Zugang verstattend, erfreuen sie den deutschen Wande- rer mit dem Anblick einer Ueppigkeit und Fülle an Laub und Stamm, die er sonst auf den Halbinseln des südlichen Europa, zumal bei den aus der Heimath ver- trauten Baumgestalten schmerzlich vermißt. Wohl mögen ihn die Cypressen des Gartens der Villa d'Este in Ti- voli, die Pinien von Ravenna, die Oelbäume von Syrakus und Agrigent, die Steineichen von Ariccia und Frascati, die Johannisbrodbäume von Amalfi und die Kastanien des Aetna durch ihre riesigen Verhältnisse in Erstaunen setzen; aber nur in wenigen verborgenen Schluchten des Apennins, oder auf den wunderbaren Sandsteinfelsen der Alvernia findet er Buchen und Rothtannen, die ihm beweisen, daß Humboldt Recht hat, wenn er sagt, daß es weniger die Schuld der Natur, als der umschaffende Geist der Nationen, die tausendjährige Cultur sey, die Jtalien des größten Theils seines Wälderschmucks beraubt habe. 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Als im Jahr 1848 vorübergehend Aussicht zu einem einigen Königreich oder einer Republik Jtalien vorhanden zu seyn schien, zankten Rom und Neapel, Florenz und Turin, Mailand und Venedig schon ganz ernsthaft um die Ehre, die künftige Metropole des neuen Reichs zu werden, und ihre Bürger erklärten in Zeitungen, Adressen und Protesten, daß sie ihre Vaterstadt nie zu einer città di provincia herabwürdigen lassen würden. Und so ist es auch innerhalb desselben Staates. Die zum förmlichen Hasse gesteigerte Rivalität zwischen Florenz und Livorno rief die toscanische Contrerevolution vom 12. April 1849 hervor; Neapel und Palermo liegen immer in offenem oder verstecktem Kriege; schlecht ver- hehlte, oft in helle Flammen ausbrechende Eifersucht herrscht zwischen Turin und Genua, zwischen Rom und Bologna. Ja, nach den Erfahrungen des letzten Jahrzehnts ist es kaum zu bezweifeln, daß mit der re- publikanischen Freiheit des Mittelalters auch die wilden Parteikämpfe wiederkehren würden, gegen die Dante klagend und zürnend die deutschen Kaiser zu Hülfe ruft, zwischen denen, » che un muro e una fossa serra.« Doch genug davon. Ein Priester, dem wir beim Hinabsteigen begegneten und der seit 1848 in eines der Dörfer des Hochgebirgs verbannt war, hatte das An- denken an jene vielbewegte Zeit wieder lebhaft in mir wach gerufen. Wie viele seiner jüngeren Genossen, hatte er, noch nicht hinlänglich gedrillt und versteint durch Seminar = und Klosterzucht, sich von der patrio- tischen Begeisterung jener Tage zu Demonstrationen hinreißen lassen, zu denen damals der allgefeierte Name Pius IX. auch die Geweihten des Herrn zu berechtigen schien. Aber er hatte es nicht verstanden, zur richti- gen Zeit Chamade zu schlagen und den Rock zu wen- den. 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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 30. Stuttgart/Tübingen, 27. Juli 1856, S. 712. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt30_1856/16>, abgerufen am 21.11.2024.