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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 30. Stuttgart/Tübingen, 27. Juli 1856.

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[Beginn Spaltensatz] Kreisen; von den Priestern sah und hörte man nichts.
Dem Uneingeweihten konnte es scheinen, es sey alles
vergeben und vergessen. Aber wer in den einsamen
Klöstern nachforschen wollte, die in den ödesten Wild-
nissen der Apenninen liegen, der konnte dort mehr als
einem Antlitz begegnen, das er roth und blühend in
den Straßen der Hauptstadt gesehen hatte, und das nun
bleich und hager aus dem härenen Bußhemde hervor
schaute. Einer von ihnen, erzählte der Führer, dem
eine noch strengere Strafe drohe, weil er zu Garibaldis
Corps gehört habe, irre noch immer unstät und flüch-
tig in den Einöden des Corno umher.

Wo wir uns am Abhange des Berges rechts dem
Limathal zuwandten, bot sich unsern Blicken ein furcht-
barer Schauplatz der Verwüstung. Von dem Rücken
des Berges bis fast zur Thaltiefe war alles mit Schutt
und wüstem Geröll und wirrem, gestaltlosem Durchein-
ander bedeckt. Hier und da ragte zur Rechten ein
Stück Gemäner hervor; weiter unten gähnte, halb ver-
fallen, das Portal einer Kirche, deren Wände und
Dach fehlten. Es war das durch einen Bergsturz im
Jahr 1816 zerstörte und begrabene Dorf Lizzano. Aehn-
liche Ursachen wie bei dem berühmten Sturz des Roß-
berges, der zehn Jahre früher Goldau vernichtete, hat-
ten die Katastrophe veranlaßt: lockere Erdschichten, die
allmählig vom Wasser aufgelöst und fortgespült, den
[Spaltenumbruch] sie überlagernden Felsen den nöthigen Stützpunkt ent-
zogen hatten. Die übrig gebliebenen Bewohner ( nicht
wenige waren dem schnell und bei nächtlicher Weile
hereinbrechenden Verderben zum Opfer gefallen ) ver-
ließen, von Schrecken und abergläubischer Furcht er-
füllt, die Umgegend gänzlich. Noch heute liegt der
Ort der Zerstörung unberührt wie am Morgen nach
dem Ereigniß.

Durch dichtes Kastanien = und Eichengebüsch, von
den zierlichen weißen Blüthentrauben und rankenden
Zweigen der Waldreben durchwoben, und über kräuter-
reiche, duftende Hänge stiegen wir in das Thal der
Lima hinab, in dem sich die Straße von Florenz nach
Modena über den Paß des Abetone hinauf windet.
Eine kühne und in den edelsten Verhältnissen gebaute
Steinbrücke verbindet hoch über den Wellen des Flüß-
chens beide Abhänge des Thals. Nördlich schließen die
majestätischen, symmetrisch gebauten Massen des Libro
Aperto, an dem die Lima entspringt, in hellem Son-
nenschein leuchtend, den Thalgrund, während im Süden
schon die Schatten der Nacht träumerisch auf den Wiesen
und Matten ruhen, und nur der Dampf aus den
Schornsteinen der Papierfabrik noch röthlich im Abend-
strahl schimmert. Als wir durch die einsamen Straßen
von San Marcello unserem Nachtquartier zueilten, um-
gab uns schon nächtliches Dunkel.

[Ende Spaltensatz]



Literatur.
Gutzkows Ella Rose.
[Beginn Spaltensatz]

Eine übersichtliche Analyse von Gutzkows letztem
Drama unterliegt mancher Schwierigkeit. Die Fabel ist
zwar an sich einfach, sie wird aber durch eine überreiche
Menge von Episoden, durch eine übergroße Masse von
accidentellem Beiwerk sehr verwickelt.

Charles Rose, ein englischer Pachtersohn, hat wider
den Willen seiner Familie eine junge Gouvernante, Ella,
geheirathet, deren Bekanntschaft er in London gemacht.
Um sich eine Subsistenz zu begründen, verwickelt er sich
in eine industrielle Spekulation, die indeß für ihn un-
glücklich ausschlägt; er muß nach Paris flüchten, um sich
der Schuldhaft zu entziehen. An der Seine findet er Un-
terstützung bei einer reichen Freundin, welche ihm früher
die Eltern zur Gattin bestimmt und die ihrerseits selbst
die Verbindung lebhaft gewünscht hatte. Durch ihre Ver-
[Spaltenumbruch] mittlung können die Gläubiger befriedigt werden. Charles
eilt nach der Heimath, die Gattin zu begrüßen, welche
während seiner Abwesenheit bei seinen Eltern gewohnt
und Mutter geworden. Er erfährt -- und damit eröffnet
sich das Stück; der ganze bisher mitgetheilte Vorbau wird
uns später in verschiedenen Monologen und Dialogen weit-
läuftig vorerzählt, -- daß sein Knabe "dort auf dem mond-
umglänzten Hügel" den ewigen Schlaf schläft, daß seine
Gattin sich unendlich unglücklich fühlt, nicht bloß über
den Tod des Kindes, sondern auch über die kalte und ver-
letzende Behandlung, der sie von Seiten der Schwieger-
eltern ausgesetzt ist. Ferner erfährt der Heimgekehrte von
den Eltern, daß jene wohlwollende Freundin ihm aber-
mals Geldmittel zur Verfügung stellen wolle, wenn er
nach Paris komme und ein kaufmännisches Unternehmen
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] Kreisen; von den Priestern sah und hörte man nichts.
Dem Uneingeweihten konnte es scheinen, es sey alles
vergeben und vergessen. Aber wer in den einsamen
Klöstern nachforschen wollte, die in den ödesten Wild-
nissen der Apenninen liegen, der konnte dort mehr als
einem Antlitz begegnen, das er roth und blühend in
den Straßen der Hauptstadt gesehen hatte, und das nun
bleich und hager aus dem härenen Bußhemde hervor
schaute. Einer von ihnen, erzählte der Führer, dem
eine noch strengere Strafe drohe, weil er zu Garibaldis
Corps gehört habe, irre noch immer unstät und flüch-
tig in den Einöden des Corno umher.

Wo wir uns am Abhange des Berges rechts dem
Limathal zuwandten, bot sich unsern Blicken ein furcht-
barer Schauplatz der Verwüstung. Von dem Rücken
des Berges bis fast zur Thaltiefe war alles mit Schutt
und wüstem Geröll und wirrem, gestaltlosem Durchein-
ander bedeckt. Hier und da ragte zur Rechten ein
Stück Gemäner hervor; weiter unten gähnte, halb ver-
fallen, das Portal einer Kirche, deren Wände und
Dach fehlten. Es war das durch einen Bergsturz im
Jahr 1816 zerstörte und begrabene Dorf Lizzano. Aehn-
liche Ursachen wie bei dem berühmten Sturz des Roß-
berges, der zehn Jahre früher Goldau vernichtete, hat-
ten die Katastrophe veranlaßt: lockere Erdschichten, die
allmählig vom Wasser aufgelöst und fortgespült, den
[Spaltenumbruch] sie überlagernden Felsen den nöthigen Stützpunkt ent-
zogen hatten. Die übrig gebliebenen Bewohner ( nicht
wenige waren dem schnell und bei nächtlicher Weile
hereinbrechenden Verderben zum Opfer gefallen ) ver-
ließen, von Schrecken und abergläubischer Furcht er-
füllt, die Umgegend gänzlich. Noch heute liegt der
Ort der Zerstörung unberührt wie am Morgen nach
dem Ereigniß.

Durch dichtes Kastanien = und Eichengebüsch, von
den zierlichen weißen Blüthentrauben und rankenden
Zweigen der Waldreben durchwoben, und über kräuter-
reiche, duftende Hänge stiegen wir in das Thal der
Lima hinab, in dem sich die Straße von Florenz nach
Modena über den Paß des Abetone hinauf windet.
Eine kühne und in den edelsten Verhältnissen gebaute
Steinbrücke verbindet hoch über den Wellen des Flüß-
chens beide Abhänge des Thals. Nördlich schließen die
majestätischen, symmetrisch gebauten Massen des Libro
Aperto, an dem die Lima entspringt, in hellem Son-
nenschein leuchtend, den Thalgrund, während im Süden
schon die Schatten der Nacht träumerisch auf den Wiesen
und Matten ruhen, und nur der Dampf aus den
Schornsteinen der Papierfabrik noch röthlich im Abend-
strahl schimmert. Als wir durch die einsamen Straßen
von San Marcello unserem Nachtquartier zueilten, um-
gab uns schon nächtliches Dunkel.

[Ende Spaltensatz]



Literatur.
Gutzkows Ella Rose.
[Beginn Spaltensatz]

Eine übersichtliche Analyse von Gutzkows letztem
Drama unterliegt mancher Schwierigkeit. Die Fabel ist
zwar an sich einfach, sie wird aber durch eine überreiche
Menge von Episoden, durch eine übergroße Masse von
accidentellem Beiwerk sehr verwickelt.

Charles Rose, ein englischer Pachtersohn, hat wider
den Willen seiner Familie eine junge Gouvernante, Ella,
geheirathet, deren Bekanntschaft er in London gemacht.
Um sich eine Subsistenz zu begründen, verwickelt er sich
in eine industrielle Spekulation, die indeß für ihn un-
glücklich ausschlägt; er muß nach Paris flüchten, um sich
der Schuldhaft zu entziehen. An der Seine findet er Un-
terstützung bei einer reichen Freundin, welche ihm früher
die Eltern zur Gattin bestimmt und die ihrerseits selbst
die Verbindung lebhaft gewünscht hatte. Durch ihre Ver-
[Spaltenumbruch] mittlung können die Gläubiger befriedigt werden. Charles
eilt nach der Heimath, die Gattin zu begrüßen, welche
während seiner Abwesenheit bei seinen Eltern gewohnt
und Mutter geworden. Er erfährt — und damit eröffnet
sich das Stück; der ganze bisher mitgetheilte Vorbau wird
uns später in verschiedenen Monologen und Dialogen weit-
läuftig vorerzählt, — daß sein Knabe „dort auf dem mond-
umglänzten Hügel“ den ewigen Schlaf schläft, daß seine
Gattin sich unendlich unglücklich fühlt, nicht bloß über
den Tod des Kindes, sondern auch über die kalte und ver-
letzende Behandlung, der sie von Seiten der Schwieger-
eltern ausgesetzt ist. Ferner erfährt der Heimgekehrte von
den Eltern, daß jene wohlwollende Freundin ihm aber-
mals Geldmittel zur Verfügung stellen wolle, wenn er
nach Paris komme und ein kaufmännisches Unternehmen
[Ende Spaltensatz]

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[713/0017] 713 Kreisen; von den Priestern sah und hörte man nichts. Dem Uneingeweihten konnte es scheinen, es sey alles vergeben und vergessen. Aber wer in den einsamen Klöstern nachforschen wollte, die in den ödesten Wild- nissen der Apenninen liegen, der konnte dort mehr als einem Antlitz begegnen, das er roth und blühend in den Straßen der Hauptstadt gesehen hatte, und das nun bleich und hager aus dem härenen Bußhemde hervor schaute. Einer von ihnen, erzählte der Führer, dem eine noch strengere Strafe drohe, weil er zu Garibaldis Corps gehört habe, irre noch immer unstät und flüch- tig in den Einöden des Corno umher. Wo wir uns am Abhange des Berges rechts dem Limathal zuwandten, bot sich unsern Blicken ein furcht- barer Schauplatz der Verwüstung. Von dem Rücken des Berges bis fast zur Thaltiefe war alles mit Schutt und wüstem Geröll und wirrem, gestaltlosem Durchein- ander bedeckt. Hier und da ragte zur Rechten ein Stück Gemäner hervor; weiter unten gähnte, halb ver- fallen, das Portal einer Kirche, deren Wände und Dach fehlten. Es war das durch einen Bergsturz im Jahr 1816 zerstörte und begrabene Dorf Lizzano. Aehn- liche Ursachen wie bei dem berühmten Sturz des Roß- berges, der zehn Jahre früher Goldau vernichtete, hat- ten die Katastrophe veranlaßt: lockere Erdschichten, die allmählig vom Wasser aufgelöst und fortgespült, den sie überlagernden Felsen den nöthigen Stützpunkt ent- zogen hatten. Die übrig gebliebenen Bewohner ( nicht wenige waren dem schnell und bei nächtlicher Weile hereinbrechenden Verderben zum Opfer gefallen ) ver- ließen, von Schrecken und abergläubischer Furcht er- füllt, die Umgegend gänzlich. Noch heute liegt der Ort der Zerstörung unberührt wie am Morgen nach dem Ereigniß. Durch dichtes Kastanien = und Eichengebüsch, von den zierlichen weißen Blüthentrauben und rankenden Zweigen der Waldreben durchwoben, und über kräuter- reiche, duftende Hänge stiegen wir in das Thal der Lima hinab, in dem sich die Straße von Florenz nach Modena über den Paß des Abetone hinauf windet. Eine kühne und in den edelsten Verhältnissen gebaute Steinbrücke verbindet hoch über den Wellen des Flüß- chens beide Abhänge des Thals. Nördlich schließen die majestätischen, symmetrisch gebauten Massen des Libro Aperto, an dem die Lima entspringt, in hellem Son- nenschein leuchtend, den Thalgrund, während im Süden schon die Schatten der Nacht träumerisch auf den Wiesen und Matten ruhen, und nur der Dampf aus den Schornsteinen der Papierfabrik noch röthlich im Abend- strahl schimmert. Als wir durch die einsamen Straßen von San Marcello unserem Nachtquartier zueilten, um- gab uns schon nächtliches Dunkel. Literatur. Gutzkows Ella Rose. Eine übersichtliche Analyse von Gutzkows letztem Drama unterliegt mancher Schwierigkeit. Die Fabel ist zwar an sich einfach, sie wird aber durch eine überreiche Menge von Episoden, durch eine übergroße Masse von accidentellem Beiwerk sehr verwickelt. Charles Rose, ein englischer Pachtersohn, hat wider den Willen seiner Familie eine junge Gouvernante, Ella, geheirathet, deren Bekanntschaft er in London gemacht. Um sich eine Subsistenz zu begründen, verwickelt er sich in eine industrielle Spekulation, die indeß für ihn un- glücklich ausschlägt; er muß nach Paris flüchten, um sich der Schuldhaft zu entziehen. An der Seine findet er Un- terstützung bei einer reichen Freundin, welche ihm früher die Eltern zur Gattin bestimmt und die ihrerseits selbst die Verbindung lebhaft gewünscht hatte. Durch ihre Ver- mittlung können die Gläubiger befriedigt werden. Charles eilt nach der Heimath, die Gattin zu begrüßen, welche während seiner Abwesenheit bei seinen Eltern gewohnt und Mutter geworden. Er erfährt — und damit eröffnet sich das Stück; der ganze bisher mitgetheilte Vorbau wird uns später in verschiedenen Monologen und Dialogen weit- läuftig vorerzählt, — daß sein Knabe „dort auf dem mond- umglänzten Hügel“ den ewigen Schlaf schläft, daß seine Gattin sich unendlich unglücklich fühlt, nicht bloß über den Tod des Kindes, sondern auch über die kalte und ver- letzende Behandlung, der sie von Seiten der Schwieger- eltern ausgesetzt ist. Ferner erfährt der Heimgekehrte von den Eltern, daß jene wohlwollende Freundin ihm aber- mals Geldmittel zur Verfügung stellen wolle, wenn er nach Paris komme und ein kaufmännisches Unternehmen

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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 30. Stuttgart/Tübingen, 27. Juli 1856, S. 713. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt30_1856/17>, abgerufen am 23.11.2024.