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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 31. Stuttgart/Tübingen, 3. August 1856.

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Morgenblatt

für

gebildete Leser.

Nr. 31. 3. August 1856.



Weltseele, komm uns zu durchdringen!
Dann mit dem Weltgeist selbst zu ringen,
Wird unsrer Kräfte Hochberuf
Goethe.


Kraft und Stoff -- Geist und Materie.
[Beginn Spaltensatz]

Die Franzosen, und in neuerer Zeit fast noch mehr
die Engländer, beklagen sich darüber, daß ihnen der Ge-
nuß unserer schönen Literatur, selbst unserer Zeitschriften,
durch unsere Neigung, überall der Tiefe und Trübe der
Gedanken nachzugehen, erschwert und verleidet werde. Wie
sie versichern, können wir es nicht lassen, selbst unsern leichte-
sten, auf raschen Genuß berechneten Hervorbringungen den
widrigen Extractiostoff der Philosophie beizumischen. Was
die Redaktion dieser Blätter betrifft, so war sie sich immer
des Willens bewußt, die Philosophie möglichst aus dem
Spiel zu lassen; da aber Völker und Jndividuen sich selbst
am wenigsten kennen, so mögen wir, als gute Deutsche,
sehr oft philosophisch gewesen seyn, ohne es zu wissen.
Unter diesen Umständen können wir es wohl wagen, ein-
mal mit Bewußtseyn etwas vorzubringen, was uns mehr
als gewöhnlich auf das Gebiet des reinen Gedankens hin-
aus treiben wird. Die Wichtigkeit des Gegenstandes, der
im Augenblick so viele Gemüther so ernstlich beschäftigt,
wird uns hinreichend rechtfertigen, da nun einmal über
Dinge, welche die höchsten Anliegen des Menschen betreffen,
in leichtfertiger, spielender Form nicht zu verhandeln ist.
Wir glauben übrigens, daß die folgende Skizze einer ei-
genthümlichen Weltanschauung an die wenigsten Köpfe zu
große Ansprüche macht; sind es doch deutsche Köpfe. Und
[Spaltenumbruch] wenn es sich um eine Frage handelt, auf deren Lösung
oder doch vorläufig strengere Fassung die ganze geistige Ent-
wicklung des Zeitalters hindrängt, darf sich jeder, der auf
Bildung Anspruch macht, wohl etwas mehr als sonst zu-
muthen. Wir können darauf rechnen, daß das Trostreiche
des Ergebnisses, zu dem unser Verfasser gelangt, die mei-
sten für die kleine Mühe entschädigen wird.



    Mens agitat molem.

Es liegt in der Natur der Sache, daß die allge-
meinsten Fragen auch das allgemeinste Jnteresse erwecken.
Sie können eine Zeitlang durch Fragen über einzelne,
besondere Erscheinungen in den Hintergrund gedrängt
werden, aber nach kurzer Zwischenzeit wird man sie
immer wieder und wieder hervorziehen, und mit ver-
jüngter, gesteigerter Theilnahme über sie reden und
streiten; ja nicht selten geht die Erneuung des Jnteresses
gerade von denjenigen aus, die noch vor Kurzem zur
zeitweiligen Beseitigung desselben Anlaß gaben. So
waren es besonders die exacten Wissenschaften einerseits
und die Tendenzen eines unbedingten Dogmatismus
[Ende Spaltensatz]

Morgenblatt

für

gebildete Leser.

Nr. 31. 3. August 1856.



Weltseele, komm uns zu durchdringen!
Dann mit dem Weltgeist selbst zu ringen,
Wird unsrer Kräfte Hochberuf
Goethe.


Kraft und Stoff — Geist und Materie.
[Beginn Spaltensatz]

Die Franzosen, und in neuerer Zeit fast noch mehr
die Engländer, beklagen sich darüber, daß ihnen der Ge-
nuß unserer schönen Literatur, selbst unserer Zeitschriften,
durch unsere Neigung, überall der Tiefe und Trübe der
Gedanken nachzugehen, erschwert und verleidet werde. Wie
sie versichern, können wir es nicht lassen, selbst unsern leichte-
sten, auf raschen Genuß berechneten Hervorbringungen den
widrigen Extractiostoff der Philosophie beizumischen. Was
die Redaktion dieser Blätter betrifft, so war sie sich immer
des Willens bewußt, die Philosophie möglichst aus dem
Spiel zu lassen; da aber Völker und Jndividuen sich selbst
am wenigsten kennen, so mögen wir, als gute Deutsche,
sehr oft philosophisch gewesen seyn, ohne es zu wissen.
Unter diesen Umständen können wir es wohl wagen, ein-
mal mit Bewußtseyn etwas vorzubringen, was uns mehr
als gewöhnlich auf das Gebiet des reinen Gedankens hin-
aus treiben wird. Die Wichtigkeit des Gegenstandes, der
im Augenblick so viele Gemüther so ernstlich beschäftigt,
wird uns hinreichend rechtfertigen, da nun einmal über
Dinge, welche die höchsten Anliegen des Menschen betreffen,
in leichtfertiger, spielender Form nicht zu verhandeln ist.
Wir glauben übrigens, daß die folgende Skizze einer ei-
genthümlichen Weltanschauung an die wenigsten Köpfe zu
große Ansprüche macht; sind es doch deutsche Köpfe. Und
[Spaltenumbruch] wenn es sich um eine Frage handelt, auf deren Lösung
oder doch vorläufig strengere Fassung die ganze geistige Ent-
wicklung des Zeitalters hindrängt, darf sich jeder, der auf
Bildung Anspruch macht, wohl etwas mehr als sonst zu-
muthen. Wir können darauf rechnen, daß das Trostreiche
des Ergebnisses, zu dem unser Verfasser gelangt, die mei-
sten für die kleine Mühe entschädigen wird.



    Mens agitat molem.

Es liegt in der Natur der Sache, daß die allge-
meinsten Fragen auch das allgemeinste Jnteresse erwecken.
Sie können eine Zeitlang durch Fragen über einzelne,
besondere Erscheinungen in den Hintergrund gedrängt
werden, aber nach kurzer Zwischenzeit wird man sie
immer wieder und wieder hervorziehen, und mit ver-
jüngter, gesteigerter Theilnahme über sie reden und
streiten; ja nicht selten geht die Erneuung des Jnteresses
gerade von denjenigen aus, die noch vor Kurzem zur
zeitweiligen Beseitigung desselben Anlaß gaben. So
waren es besonders die exacten Wissenschaften einerseits
und die Tendenzen eines unbedingten Dogmatismus
[Ende Spaltensatz]

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[[721]/0001] Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 31. 3. August 1856. Weltseele, komm uns zu durchdringen! Dann mit dem Weltgeist selbst zu ringen, Wird unsrer Kräfte Hochberuf Goethe. Kraft und Stoff — Geist und Materie. Die Franzosen, und in neuerer Zeit fast noch mehr die Engländer, beklagen sich darüber, daß ihnen der Ge- nuß unserer schönen Literatur, selbst unserer Zeitschriften, durch unsere Neigung, überall der Tiefe und Trübe der Gedanken nachzugehen, erschwert und verleidet werde. Wie sie versichern, können wir es nicht lassen, selbst unsern leichte- sten, auf raschen Genuß berechneten Hervorbringungen den widrigen Extractiostoff der Philosophie beizumischen. Was die Redaktion dieser Blätter betrifft, so war sie sich immer des Willens bewußt, die Philosophie möglichst aus dem Spiel zu lassen; da aber Völker und Jndividuen sich selbst am wenigsten kennen, so mögen wir, als gute Deutsche, sehr oft philosophisch gewesen seyn, ohne es zu wissen. Unter diesen Umständen können wir es wohl wagen, ein- mal mit Bewußtseyn etwas vorzubringen, was uns mehr als gewöhnlich auf das Gebiet des reinen Gedankens hin- aus treiben wird. Die Wichtigkeit des Gegenstandes, der im Augenblick so viele Gemüther so ernstlich beschäftigt, wird uns hinreichend rechtfertigen, da nun einmal über Dinge, welche die höchsten Anliegen des Menschen betreffen, in leichtfertiger, spielender Form nicht zu verhandeln ist. Wir glauben übrigens, daß die folgende Skizze einer ei- genthümlichen Weltanschauung an die wenigsten Köpfe zu große Ansprüche macht; sind es doch deutsche Köpfe. Und wenn es sich um eine Frage handelt, auf deren Lösung oder doch vorläufig strengere Fassung die ganze geistige Ent- wicklung des Zeitalters hindrängt, darf sich jeder, der auf Bildung Anspruch macht, wohl etwas mehr als sonst zu- muthen. Wir können darauf rechnen, daß das Trostreiche des Ergebnisses, zu dem unser Verfasser gelangt, die mei- sten für die kleine Mühe entschädigen wird. Mens agitat molem. Es liegt in der Natur der Sache, daß die allge- meinsten Fragen auch das allgemeinste Jnteresse erwecken. Sie können eine Zeitlang durch Fragen über einzelne, besondere Erscheinungen in den Hintergrund gedrängt werden, aber nach kurzer Zwischenzeit wird man sie immer wieder und wieder hervorziehen, und mit ver- jüngter, gesteigerter Theilnahme über sie reden und streiten; ja nicht selten geht die Erneuung des Jnteresses gerade von denjenigen aus, die noch vor Kurzem zur zeitweiligen Beseitigung desselben Anlaß gaben. So waren es besonders die exacten Wissenschaften einerseits und die Tendenzen eines unbedingten Dogmatismus

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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 31. Stuttgart/Tübingen, 3. August 1856, S. [721]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt31_1856/1>, abgerufen am 21.11.2024.