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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 31. Stuttgart/Tübingen, 3. August 1856.

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[Beginn Spaltensatz] Zurückfallen der einzelnen, gesonderten Erscheinungen
in ein sie alle umfassendes Allgemeines bestehen wird.

Auf den ersten Entwicklungsstufen, z. B. im Zu-
stande des Samens, des Embryo, des Fötus, ja selbst
nach der ersten Kindheit zeigen sämmtliche Organismen
einen weit geringeren Grad von Eigenthümlichkeit als
in späteren Stadien. So stellt z. B. Agassiz in seinen
embryologischen Untersuchungen das Gesetz auf, daß es
während des fötalen Zustandes in den meisten Fällen
geradezu unmöglich sey, die verschiedenen Species einer
Thiergattung von einander zu unterscheiden, und daß
die Thiere, sofern sie von specifischen Bildungsgesetzen
regiert werden, erst nach der Geburt zur Ausbildung
ihrer eigenthümlichen Umrisse fortschreiten. So seyen
z. B. der Hund, der Wolf, der Fuchs und der Schakal
in jenem Zustande nicht von einander zu unterscheiden;
eben so wenig die verschiedenen Arten von Enten unter
sich, ja nicht einmal von den Gänsen; ihr distinctiver
Charakter beginne vielmehr erst nach der Geburt sich
zu entwickeln. So sey es auch mit den Menschenracen.
Während des fötalen Zustandes gebe es kein Kennzeichen,
durch welches man die anatomische Structur des Ne-
gers von der des Germanen unterscheiden könne, son-
dern erst nach der Geburt entwickle sich der beiden Ra-
centypen eigenthümliche Charakter in divergirenden Li-
nien, und zwar unabhängig von klimatischen Einflüssen.
Dasselbe bemerken wir an den Pflanzen. Die Zellen
der verschiedenartigsten Gewächse zeigen in ihrem ur-
sprünglichen Zustande sämmtlich dieselbe oder wenigstens
eine nur wenig abweichende Form; und selbst die Sa-
menkörner legen in Vergleich mit den Gebilden, welche
daraus hervor gehen, eine nur sehr dürftige Verschie-
denheit an den Tag. Eben so die ersten Wurzelfasern,
die ersten Blätter ( Samenlappen ) u. s. w. -- Daß im
Tode, im Zustande der Verwesung alle Unterschiede
wieder aufhören, bedarf keiner Erwähnung.

Jnnerhalb der ersten Entwicklungsstufen zeigen
selbst die Theile und Glieder eines und desselben Jn-
dividuums eine entschiedene Vorliebe zum Verhältniß
der Gleichheit, während sie später verschiedene Maaße
annehmen. So befindet sich z. B. der Nabel beim
neugeborenen Kinde genau in der Mitte des Körpers
zwischen Scheitel und Sohle; er theilt also die Total-
höhe dergestalt, daß sich die Länge des Oberkörpers
zu der des Unterkörpers wie 1:1 verhält. Beim Er-
wachsenen steht der Oberkörper zum Unterkörper nur
noch im Verhältniß von 5:8. Eben so sind beim
neugeborenen Kinde die beiden Theile des Oberkörpers,
Kopf und Rumpf, von gleicher Höhe, während sie spä-
terhin ebenfalls das Verhältniß 5:8 annehmen. Etwas
Aehnliches zeigt sich an den unreifen Gebilden der
[Spaltenumbruch] Pflanzenwelt. So haben z. B. die Tannen in den
jüngeren Zweigen, die Buchen in ihrer Jugendzeit eine
Neigung zur opponirten, d. h. den Stengelumfang in
zwei gleiche Theile theilenden Blattstellung, während sie
später oder in ihren reiferen Gebilden einem andern
Verhältniß folgen, durch welches der Stengelumfang in
ungleiche Theile getheilt wird. -- Vor der Geburt
zeigt allerdings der menschliche Körper auch solche Entwick-
lungsmomente, in denen gerade umgekehrt die Theile im
Verhältniß der größten Maßdifferenz zu einander stehen,
z. B. in jenem Stadium des embryonalen Zustandes,
in welchem eben die unteren Extremitäten aus dem
Oberkörper hervorzutreten beginnen, während der Ober-
körper schon bedeutend entwickelt ist. Aber sobald wir
die Entwicklung noch weiter zurück verfolgen, heben sich
diese äußersten Differenzen selbst auf, indem der eine
Theil ganz und gar im andern verschwindet, ihm ge-
genüber gleich Null wird, so daß der ursprüngliche ge-
radezu als das Eine und Ungetheilte, in sich noch Un-
unterschiedene erscheint. Eben so zeigen auch die
Pflanzenzellen, die Samenkörner meist solche For-
men, deren Theile entweder in einem symmetrischen
Verhältniß zu einander stehen, oder die überhaupt noch
keine bemerkbare Theilung und Gliederung erfahren
haben.

So zeigen auch die Wesen, welche vergleichsweise
einer niederen Stufe in der Reihe der Gebilde ange-
hören, theils unter sich, theils an sich einen weit ge-
ringeren Grad des Charakteristischen als die höheren
Geschöpfe. Die elementaren Gebilde, z. B. Wasser-
tropfen, Lichtstrahlen sind von einer stereotyperen
Bildung als individualisirte Erscheinungen selbst der
untersten Sphäre, z. B. als Krystalle. Die minerali-
schen Formationen sind wieder minder charakteristisch
und mehr zur symmetrischen Gliederung neigend als
die vegetabilischen; diese bleiben in Ausprägung des
Eigenthümlichen und Besonderen wieder hinter den
Thieren zurück, diese hinter den Menschen, und unter
den Menschen wieder die niederen Racen hinter den
höheren. So bemerken wir überall auch in dieser Be-
ziehung ein Aufsteigen vom Gleichen und Allgemeinen
zum Verschiedenen und Eigenthümlichen, müssen also
auch hier das Gleiche und Allgemeine dem Besonderen
gegenüber als das Erste und Ursprüngliche, freilich aber
auch als das Letzte und Abschließende ansehen.

Eben so schreitet unsere subjektive Auffassung der
Erscheinungen vom Gleichen zum Ungleichen, vom All-
gemeinen zum Besonderen fort. Alle Dinge erscheinen
uns zuerst nur in ihren allgemeinsten Typen und Um-
rissen, und wir bilden uns daher weit eher von ihnen
mehr oder minder universale Begriffe als bestimmte
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] Zurückfallen der einzelnen, gesonderten Erscheinungen
in ein sie alle umfassendes Allgemeines bestehen wird.

Auf den ersten Entwicklungsstufen, z. B. im Zu-
stande des Samens, des Embryo, des Fötus, ja selbst
nach der ersten Kindheit zeigen sämmtliche Organismen
einen weit geringeren Grad von Eigenthümlichkeit als
in späteren Stadien. So stellt z. B. Agassiz in seinen
embryologischen Untersuchungen das Gesetz auf, daß es
während des fötalen Zustandes in den meisten Fällen
geradezu unmöglich sey, die verschiedenen Species einer
Thiergattung von einander zu unterscheiden, und daß
die Thiere, sofern sie von specifischen Bildungsgesetzen
regiert werden, erst nach der Geburt zur Ausbildung
ihrer eigenthümlichen Umrisse fortschreiten. So seyen
z. B. der Hund, der Wolf, der Fuchs und der Schakal
in jenem Zustande nicht von einander zu unterscheiden;
eben so wenig die verschiedenen Arten von Enten unter
sich, ja nicht einmal von den Gänsen; ihr distinctiver
Charakter beginne vielmehr erst nach der Geburt sich
zu entwickeln. So sey es auch mit den Menschenracen.
Während des fötalen Zustandes gebe es kein Kennzeichen,
durch welches man die anatomische Structur des Ne-
gers von der des Germanen unterscheiden könne, son-
dern erst nach der Geburt entwickle sich der beiden Ra-
centypen eigenthümliche Charakter in divergirenden Li-
nien, und zwar unabhängig von klimatischen Einflüssen.
Dasselbe bemerken wir an den Pflanzen. Die Zellen
der verschiedenartigsten Gewächse zeigen in ihrem ur-
sprünglichen Zustande sämmtlich dieselbe oder wenigstens
eine nur wenig abweichende Form; und selbst die Sa-
menkörner legen in Vergleich mit den Gebilden, welche
daraus hervor gehen, eine nur sehr dürftige Verschie-
denheit an den Tag. Eben so die ersten Wurzelfasern,
die ersten Blätter ( Samenlappen ) u. s. w. — Daß im
Tode, im Zustande der Verwesung alle Unterschiede
wieder aufhören, bedarf keiner Erwähnung.

Jnnerhalb der ersten Entwicklungsstufen zeigen
selbst die Theile und Glieder eines und desselben Jn-
dividuums eine entschiedene Vorliebe zum Verhältniß
der Gleichheit, während sie später verschiedene Maaße
annehmen. So befindet sich z. B. der Nabel beim
neugeborenen Kinde genau in der Mitte des Körpers
zwischen Scheitel und Sohle; er theilt also die Total-
höhe dergestalt, daß sich die Länge des Oberkörpers
zu der des Unterkörpers wie 1:1 verhält. Beim Er-
wachsenen steht der Oberkörper zum Unterkörper nur
noch im Verhältniß von 5:8. Eben so sind beim
neugeborenen Kinde die beiden Theile des Oberkörpers,
Kopf und Rumpf, von gleicher Höhe, während sie spä-
terhin ebenfalls das Verhältniß 5:8 annehmen. Etwas
Aehnliches zeigt sich an den unreifen Gebilden der
[Spaltenumbruch] Pflanzenwelt. So haben z. B. die Tannen in den
jüngeren Zweigen, die Buchen in ihrer Jugendzeit eine
Neigung zur opponirten, d. h. den Stengelumfang in
zwei gleiche Theile theilenden Blattstellung, während sie
später oder in ihren reiferen Gebilden einem andern
Verhältniß folgen, durch welches der Stengelumfang in
ungleiche Theile getheilt wird. — Vor der Geburt
zeigt allerdings der menschliche Körper auch solche Entwick-
lungsmomente, in denen gerade umgekehrt die Theile im
Verhältniß der größten Maßdifferenz zu einander stehen,
z. B. in jenem Stadium des embryonalen Zustandes,
in welchem eben die unteren Extremitäten aus dem
Oberkörper hervorzutreten beginnen, während der Ober-
körper schon bedeutend entwickelt ist. Aber sobald wir
die Entwicklung noch weiter zurück verfolgen, heben sich
diese äußersten Differenzen selbst auf, indem der eine
Theil ganz und gar im andern verschwindet, ihm ge-
genüber gleich Null wird, so daß der ursprüngliche ge-
radezu als das Eine und Ungetheilte, in sich noch Un-
unterschiedene erscheint. Eben so zeigen auch die
Pflanzenzellen, die Samenkörner meist solche For-
men, deren Theile entweder in einem symmetrischen
Verhältniß zu einander stehen, oder die überhaupt noch
keine bemerkbare Theilung und Gliederung erfahren
haben.

So zeigen auch die Wesen, welche vergleichsweise
einer niederen Stufe in der Reihe der Gebilde ange-
hören, theils unter sich, theils an sich einen weit ge-
ringeren Grad des Charakteristischen als die höheren
Geschöpfe. Die elementaren Gebilde, z. B. Wasser-
tropfen, Lichtstrahlen sind von einer stereotyperen
Bildung als individualisirte Erscheinungen selbst der
untersten Sphäre, z. B. als Krystalle. Die minerali-
schen Formationen sind wieder minder charakteristisch
und mehr zur symmetrischen Gliederung neigend als
die vegetabilischen; diese bleiben in Ausprägung des
Eigenthümlichen und Besonderen wieder hinter den
Thieren zurück, diese hinter den Menschen, und unter
den Menschen wieder die niederen Racen hinter den
höheren. So bemerken wir überall auch in dieser Be-
ziehung ein Aufsteigen vom Gleichen und Allgemeinen
zum Verschiedenen und Eigenthümlichen, müssen also
auch hier das Gleiche und Allgemeine dem Besonderen
gegenüber als das Erste und Ursprüngliche, freilich aber
auch als das Letzte und Abschließende ansehen.

Eben so schreitet unsere subjektive Auffassung der
Erscheinungen vom Gleichen zum Ungleichen, vom All-
gemeinen zum Besonderen fort. Alle Dinge erscheinen
uns zuerst nur in ihren allgemeinsten Typen und Um-
rissen, und wir bilden uns daher weit eher von ihnen
mehr oder minder universale Begriffe als bestimmte
[Ende Spaltensatz]

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[723/0003] 723 Zurückfallen der einzelnen, gesonderten Erscheinungen in ein sie alle umfassendes Allgemeines bestehen wird. Auf den ersten Entwicklungsstufen, z. B. im Zu- stande des Samens, des Embryo, des Fötus, ja selbst nach der ersten Kindheit zeigen sämmtliche Organismen einen weit geringeren Grad von Eigenthümlichkeit als in späteren Stadien. So stellt z. B. Agassiz in seinen embryologischen Untersuchungen das Gesetz auf, daß es während des fötalen Zustandes in den meisten Fällen geradezu unmöglich sey, die verschiedenen Species einer Thiergattung von einander zu unterscheiden, und daß die Thiere, sofern sie von specifischen Bildungsgesetzen regiert werden, erst nach der Geburt zur Ausbildung ihrer eigenthümlichen Umrisse fortschreiten. So seyen z. B. der Hund, der Wolf, der Fuchs und der Schakal in jenem Zustande nicht von einander zu unterscheiden; eben so wenig die verschiedenen Arten von Enten unter sich, ja nicht einmal von den Gänsen; ihr distinctiver Charakter beginne vielmehr erst nach der Geburt sich zu entwickeln. So sey es auch mit den Menschenracen. Während des fötalen Zustandes gebe es kein Kennzeichen, durch welches man die anatomische Structur des Ne- gers von der des Germanen unterscheiden könne, son- dern erst nach der Geburt entwickle sich der beiden Ra- centypen eigenthümliche Charakter in divergirenden Li- nien, und zwar unabhängig von klimatischen Einflüssen. Dasselbe bemerken wir an den Pflanzen. Die Zellen der verschiedenartigsten Gewächse zeigen in ihrem ur- sprünglichen Zustande sämmtlich dieselbe oder wenigstens eine nur wenig abweichende Form; und selbst die Sa- menkörner legen in Vergleich mit den Gebilden, welche daraus hervor gehen, eine nur sehr dürftige Verschie- denheit an den Tag. 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B. die Tannen in den jüngeren Zweigen, die Buchen in ihrer Jugendzeit eine Neigung zur opponirten, d. h. den Stengelumfang in zwei gleiche Theile theilenden Blattstellung, während sie später oder in ihren reiferen Gebilden einem andern Verhältniß folgen, durch welches der Stengelumfang in ungleiche Theile getheilt wird. — Vor der Geburt zeigt allerdings der menschliche Körper auch solche Entwick- lungsmomente, in denen gerade umgekehrt die Theile im Verhältniß der größten Maßdifferenz zu einander stehen, z. B. in jenem Stadium des embryonalen Zustandes, in welchem eben die unteren Extremitäten aus dem Oberkörper hervorzutreten beginnen, während der Ober- körper schon bedeutend entwickelt ist. Aber sobald wir die Entwicklung noch weiter zurück verfolgen, heben sich diese äußersten Differenzen selbst auf, indem der eine Theil ganz und gar im andern verschwindet, ihm ge- genüber gleich Null wird, so daß der ursprüngliche ge- radezu als das Eine und Ungetheilte, in sich noch Un- unterschiedene erscheint. Eben so zeigen auch die Pflanzenzellen, die Samenkörner meist solche For- men, deren Theile entweder in einem symmetrischen Verhältniß zu einander stehen, oder die überhaupt noch keine bemerkbare Theilung und Gliederung erfahren haben. So zeigen auch die Wesen, welche vergleichsweise einer niederen Stufe in der Reihe der Gebilde ange- hören, theils unter sich, theils an sich einen weit ge- ringeren Grad des Charakteristischen als die höheren Geschöpfe. Die elementaren Gebilde, z. B. Wasser- tropfen, Lichtstrahlen sind von einer stereotyperen Bildung als individualisirte Erscheinungen selbst der untersten Sphäre, z. B. als Krystalle. Die minerali- schen Formationen sind wieder minder charakteristisch und mehr zur symmetrischen Gliederung neigend als die vegetabilischen; diese bleiben in Ausprägung des Eigenthümlichen und Besonderen wieder hinter den Thieren zurück, diese hinter den Menschen, und unter den Menschen wieder die niederen Racen hinter den höheren. So bemerken wir überall auch in dieser Be- ziehung ein Aufsteigen vom Gleichen und Allgemeinen zum Verschiedenen und Eigenthümlichen, müssen also auch hier das Gleiche und Allgemeine dem Besonderen gegenüber als das Erste und Ursprüngliche, freilich aber auch als das Letzte und Abschließende ansehen. Eben so schreitet unsere subjektive Auffassung der Erscheinungen vom Gleichen zum Ungleichen, vom All- gemeinen zum Besonderen fort. Alle Dinge erscheinen uns zuerst nur in ihren allgemeinsten Typen und Um- rissen, und wir bilden uns daher weit eher von ihnen mehr oder minder universale Begriffe als bestimmte

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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 31. Stuttgart/Tübingen, 3. August 1856, S. 723. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt31_1856/3>, abgerufen am 21.11.2024.