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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 36. Stuttgart/Tübingen, 7. September 1856.

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[Beginn Spaltensatz] werden müssen. Sollte dasselbe etwas mager befunden
werden, so war es doch vielleicht besser, auf dem ge-
schichtlichen Boden die Ehrenrettung einer mißhandelten
Frau zu unternehmen, als die Sage durch willkürliche
Erfindung müßig weiter auszuspinnen. Auch wird es
kein großer Fehler seyn, wenn durch die Gesammter-
gebnisse dieser Untersuchung die Bewunderung einer Zeit
gemäßigt wird, die einestheils in ihrer Rechtspflege so
beschaffen war, daß eine Herzogswittwe, obgleich sie
ihren Vater, einen Großen des Reichs, zum Fürspre-
cher hatte, länger als ein halbes Menschenalter hin-
durch selbst bei den obersten Reichsgewalten nicht die
Gerechtigkeit fand, die jetzt der Geringste aus dem Volke
bei der nächsten besten Gerichtsstelle zur Vollstreckung
bringen kann, anderntheils in ihrem Geschichtsbewußt-
seyn so, daß die heutige Geschichtsforschung über Er-
eignisse und Persönlichkeiten, die, wie die Sage beweist,
[Spaltenumbruch] ihre Zeit mächtig bewegt haben, nur wenige dürre, leb-
lose Chroniknachrichten zusammenstellen kann. So wird
denn der einzige Gewinn dieser Erörterung der seyn,
einen Blick in die camera obscura, in welcher die Sa-
genbildung vor sich geht, eröffnet, und der Sage, wäh-
rend ihr die geschichtliche Bestätigung entzogen werden
mußte, doch vielleicht zugleich eine Anknüpfung an den
geschichtlichen Grund und Boden gerettet zu haben.

Dem Freund der Sage mag dieß freilich nicht viel
seyn. Für diesen aber gibt es keinen bessern Rath, als
sich mit dem Zäringer Löwenorden zu trösten, mit wel-
chem es noch bedenklicher steht, sofern er durch die be-
richtigende Entdeckung, daß die Zäringer den Adler
im Wappen führten, rein in die Luft geschoben wor-
den ist.

Hermann Kurz.
[Ende Spaltensatz]



Briefe über die bildende Kunst.
( Schluß. )
[Beginn Spaltensatz]

Der Belvederische Apoll tritt dem Beschauer aus
der Gewandung frei entgegen; die Chlamys ist von
großer Wichtigkeit für den Gesammteindruck und selbst
meisterhaft behandelt. Feuerbach sagt sehr gut: "Wie
treffend ist in diesem Aufstreben der Gestalt und diesem
niedersinkenden Faltenschlage der Gegensatz eines Ge-
bildes, das in lebendiger Kraft sich selbst hebt und
trägt, und eines Körpers ausgedrückt, welcher dem
blinden Gesetz der Schwere gehorcht! Schon daß durch
die sanft gewölbte Masse dieser Draperie die große
Lücke zwischen dem erhobenen Arm und dem Körper
des Gottes gefüllt, und die Schärfe des Winkels, die
durch diese Haltung sich gebildet hat, gemildert und
ausgeglichen wird, ist beachtenswerth. Der äußere Um-
riß des ganzen Kunstwerks hat dadurch bei der reich-
sten Mannigfaltigkeit mehr Einheit erhalten; er ist
mehr in sich zusammengefaßt und abgerundet. Zugleich
findet zwischen der Chlamys und dem Baumtronk eine
entfernte Wechselwirkung statt, welche dann auch wie-
der diesem zu gute kommt. Wie die Chlamys der
linken Seite und oberen Hälfte der Statue mehr
Füllung gibt, so sättigt der Baumtronk auf den ent-
gegengesetzten Punkten das Auge mit entsprechender
[Spaltenumbruch] Masse. -- Und nun die Art selbst, in welcher die
Drapirung des Vatikanischen Apolls behandelt ist! Die
einzige große Partie von der Agraffe bis zum nieder-
hangenden Ende der Chlamys hat an Schönheit und
Größe, an Wechsel in Ruhe und Bewegung kaum
ihres gleichen. Wie ein geschmeidig gediegener Schlan-
genkörper wälzt sie sich erst langsam über Brust und
Schulter, verschwindet hier dem Auge, bis sie feierlich
niedersinkend unter dem Arm wieder zum Vorschein
kommt, dann eine Weile in der Schwebe getragen, sich
von neuem in schöner Wölbung empor hebt, über den
Arm sich schlägt und nun in gerader Linie rasch in die
Tiefe stürzt. Auf dem Arme begegnet ihr in entgegen-
gesetzter Richtung und mit entgegengesetztem Charakter die
zweite Hauptlinie der Draperie. Wie ein Blitzstrahl,
möchte man sagen, fährt sie in flackerndem Zickzack nie-
der und verliert sich dann nur allmählig in sanfteren
Schwingungen. Dem Zug der Falten über Brust und
Schultern entspricht die Partie, welche den Arm
überschlägt; aber wie jene sich zur horizontalen Lage
neigen, so neigt sich diese zur senkrechten. Mit dem
frei niederhängenden Ende der Chlamys harmoniren
die Falten, welche sich von der Schulter unter die
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] werden müssen. Sollte dasselbe etwas mager befunden
werden, so war es doch vielleicht besser, auf dem ge-
schichtlichen Boden die Ehrenrettung einer mißhandelten
Frau zu unternehmen, als die Sage durch willkürliche
Erfindung müßig weiter auszuspinnen. Auch wird es
kein großer Fehler seyn, wenn durch die Gesammter-
gebnisse dieser Untersuchung die Bewunderung einer Zeit
gemäßigt wird, die einestheils in ihrer Rechtspflege so
beschaffen war, daß eine Herzogswittwe, obgleich sie
ihren Vater, einen Großen des Reichs, zum Fürspre-
cher hatte, länger als ein halbes Menschenalter hin-
durch selbst bei den obersten Reichsgewalten nicht die
Gerechtigkeit fand, die jetzt der Geringste aus dem Volke
bei der nächsten besten Gerichtsstelle zur Vollstreckung
bringen kann, anderntheils in ihrem Geschichtsbewußt-
seyn so, daß die heutige Geschichtsforschung über Er-
eignisse und Persönlichkeiten, die, wie die Sage beweist,
[Spaltenumbruch] ihre Zeit mächtig bewegt haben, nur wenige dürre, leb-
lose Chroniknachrichten zusammenstellen kann. So wird
denn der einzige Gewinn dieser Erörterung der seyn,
einen Blick in die camera obscura, in welcher die Sa-
genbildung vor sich geht, eröffnet, und der Sage, wäh-
rend ihr die geschichtliche Bestätigung entzogen werden
mußte, doch vielleicht zugleich eine Anknüpfung an den
geschichtlichen Grund und Boden gerettet zu haben.

Dem Freund der Sage mag dieß freilich nicht viel
seyn. Für diesen aber gibt es keinen bessern Rath, als
sich mit dem Zäringer Löwenorden zu trösten, mit wel-
chem es noch bedenklicher steht, sofern er durch die be-
richtigende Entdeckung, daß die Zäringer den Adler
im Wappen führten, rein in die Luft geschoben wor-
den ist.

Hermann Kurz.
[Ende Spaltensatz]



Briefe über die bildende Kunst.
( Schluß. )
[Beginn Spaltensatz]

Der Belvederische Apoll tritt dem Beschauer aus
der Gewandung frei entgegen; die Chlamys ist von
großer Wichtigkeit für den Gesammteindruck und selbst
meisterhaft behandelt. Feuerbach sagt sehr gut: „Wie
treffend ist in diesem Aufstreben der Gestalt und diesem
niedersinkenden Faltenschlage der Gegensatz eines Ge-
bildes, das in lebendiger Kraft sich selbst hebt und
trägt, und eines Körpers ausgedrückt, welcher dem
blinden Gesetz der Schwere gehorcht! Schon daß durch
die sanft gewölbte Masse dieser Draperie die große
Lücke zwischen dem erhobenen Arm und dem Körper
des Gottes gefüllt, und die Schärfe des Winkels, die
durch diese Haltung sich gebildet hat, gemildert und
ausgeglichen wird, ist beachtenswerth. Der äußere Um-
riß des ganzen Kunstwerks hat dadurch bei der reich-
sten Mannigfaltigkeit mehr Einheit erhalten; er ist
mehr in sich zusammengefaßt und abgerundet. Zugleich
findet zwischen der Chlamys und dem Baumtronk eine
entfernte Wechselwirkung statt, welche dann auch wie-
der diesem zu gute kommt. Wie die Chlamys der
linken Seite und oberen Hälfte der Statue mehr
Füllung gibt, so sättigt der Baumtronk auf den ent-
gegengesetzten Punkten das Auge mit entsprechender
[Spaltenumbruch] Masse. — Und nun die Art selbst, in welcher die
Drapirung des Vatikanischen Apolls behandelt ist! Die
einzige große Partie von der Agraffe bis zum nieder-
hangenden Ende der Chlamys hat an Schönheit und
Größe, an Wechsel in Ruhe und Bewegung kaum
ihres gleichen. Wie ein geschmeidig gediegener Schlan-
genkörper wälzt sie sich erst langsam über Brust und
Schulter, verschwindet hier dem Auge, bis sie feierlich
niedersinkend unter dem Arm wieder zum Vorschein
kommt, dann eine Weile in der Schwebe getragen, sich
von neuem in schöner Wölbung empor hebt, über den
Arm sich schlägt und nun in gerader Linie rasch in die
Tiefe stürzt. Auf dem Arme begegnet ihr in entgegen-
gesetzter Richtung und mit entgegengesetztem Charakter die
zweite Hauptlinie der Draperie. Wie ein Blitzstrahl,
möchte man sagen, fährt sie in flackerndem Zickzack nie-
der und verliert sich dann nur allmählig in sanfteren
Schwingungen. Dem Zug der Falten über Brust und
Schultern entspricht die Partie, welche den Arm
überschlägt; aber wie jene sich zur horizontalen Lage
neigen, so neigt sich diese zur senkrechten. Mit dem
frei niederhängenden Ende der Chlamys harmoniren
die Falten, welche sich von der Schulter unter die
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[853/0013] 853 werden müssen. Sollte dasselbe etwas mager befunden werden, so war es doch vielleicht besser, auf dem ge- schichtlichen Boden die Ehrenrettung einer mißhandelten Frau zu unternehmen, als die Sage durch willkürliche Erfindung müßig weiter auszuspinnen. Auch wird es kein großer Fehler seyn, wenn durch die Gesammter- gebnisse dieser Untersuchung die Bewunderung einer Zeit gemäßigt wird, die einestheils in ihrer Rechtspflege so beschaffen war, daß eine Herzogswittwe, obgleich sie ihren Vater, einen Großen des Reichs, zum Fürspre- cher hatte, länger als ein halbes Menschenalter hin- durch selbst bei den obersten Reichsgewalten nicht die Gerechtigkeit fand, die jetzt der Geringste aus dem Volke bei der nächsten besten Gerichtsstelle zur Vollstreckung bringen kann, anderntheils in ihrem Geschichtsbewußt- seyn so, daß die heutige Geschichtsforschung über Er- eignisse und Persönlichkeiten, die, wie die Sage beweist, ihre Zeit mächtig bewegt haben, nur wenige dürre, leb- lose Chroniknachrichten zusammenstellen kann. So wird denn der einzige Gewinn dieser Erörterung der seyn, einen Blick in die camera obscura, in welcher die Sa- genbildung vor sich geht, eröffnet, und der Sage, wäh- rend ihr die geschichtliche Bestätigung entzogen werden mußte, doch vielleicht zugleich eine Anknüpfung an den geschichtlichen Grund und Boden gerettet zu haben. Dem Freund der Sage mag dieß freilich nicht viel seyn. Für diesen aber gibt es keinen bessern Rath, als sich mit dem Zäringer Löwenorden zu trösten, mit wel- chem es noch bedenklicher steht, sofern er durch die be- richtigende Entdeckung, daß die Zäringer den Adler im Wappen führten, rein in die Luft geschoben wor- den ist. Hermann Kurz. Briefe über die bildende Kunst. ( Schluß. ) Der Belvederische Apoll tritt dem Beschauer aus der Gewandung frei entgegen; die Chlamys ist von großer Wichtigkeit für den Gesammteindruck und selbst meisterhaft behandelt. Feuerbach sagt sehr gut: „Wie treffend ist in diesem Aufstreben der Gestalt und diesem niedersinkenden Faltenschlage der Gegensatz eines Ge- bildes, das in lebendiger Kraft sich selbst hebt und trägt, und eines Körpers ausgedrückt, welcher dem blinden Gesetz der Schwere gehorcht! Schon daß durch die sanft gewölbte Masse dieser Draperie die große Lücke zwischen dem erhobenen Arm und dem Körper des Gottes gefüllt, und die Schärfe des Winkels, die durch diese Haltung sich gebildet hat, gemildert und ausgeglichen wird, ist beachtenswerth. Der äußere Um- riß des ganzen Kunstwerks hat dadurch bei der reich- sten Mannigfaltigkeit mehr Einheit erhalten; er ist mehr in sich zusammengefaßt und abgerundet. Zugleich findet zwischen der Chlamys und dem Baumtronk eine entfernte Wechselwirkung statt, welche dann auch wie- der diesem zu gute kommt. Wie die Chlamys der linken Seite und oberen Hälfte der Statue mehr Füllung gibt, so sättigt der Baumtronk auf den ent- gegengesetzten Punkten das Auge mit entsprechender Masse. — Und nun die Art selbst, in welcher die Drapirung des Vatikanischen Apolls behandelt ist! Die einzige große Partie von der Agraffe bis zum nieder- hangenden Ende der Chlamys hat an Schönheit und Größe, an Wechsel in Ruhe und Bewegung kaum ihres gleichen. Wie ein geschmeidig gediegener Schlan- genkörper wälzt sie sich erst langsam über Brust und Schulter, verschwindet hier dem Auge, bis sie feierlich niedersinkend unter dem Arm wieder zum Vorschein kommt, dann eine Weile in der Schwebe getragen, sich von neuem in schöner Wölbung empor hebt, über den Arm sich schlägt und nun in gerader Linie rasch in die Tiefe stürzt. Auf dem Arme begegnet ihr in entgegen- gesetzter Richtung und mit entgegengesetztem Charakter die zweite Hauptlinie der Draperie. Wie ein Blitzstrahl, möchte man sagen, fährt sie in flackerndem Zickzack nie- der und verliert sich dann nur allmählig in sanfteren Schwingungen. Dem Zug der Falten über Brust und Schultern entspricht die Partie, welche den Arm überschlägt; aber wie jene sich zur horizontalen Lage neigen, so neigt sich diese zur senkrechten. Mit dem frei niederhängenden Ende der Chlamys harmoniren die Falten, welche sich von der Schulter unter die

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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 36. Stuttgart/Tübingen, 7. September 1856, S. 853. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt36_1856/13>, abgerufen am 21.11.2024.