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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 36. Stuttgart/Tübingen, 7. September 1856.

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[Beginn Spaltensatz] der schaumwogenden Thalatta, in der Unendlichkeit der
Salzfluth die Enge und den Druck des Alltagslebens zu
vergessen, sey es, daß der Commercienrath sein Comptoir
schloß, obwohl er füglich noch recht gute Geschäfte machen
konnte, sey es, daß dieser oder jener Beamte mit karg
gemessenem Gehalt ein Anlehen kontrahirte, sey es, daß
der Student vorzeitige Ferien auf die Gefahr hin antrat,
vom hochwürdigen Senat bei der nächsten Stipendienver-
theilung wegen renitenten Unfleißes schmählich übergangen
zu werden, sey es so oder anders. Die Opfer sind um-
sonstgebracht, der Regen näßt und die Stürme toben abscheu-
lich. Die Badegäste sehen sich beschränkt auf die kahlen Wände
ihrer Bauernhütte, deren Miethe so theures Geld kostet,
auf die dürftige Medisance, welche sich beim Kaffee zwi-
schen Madame und ihrer Nachbarin entwickelt, auf die
Lektüre endlich der Hartungschen Zeitung, welches letztere
Märtyrerthum allerdings das jammervollste ist. Macaulay
erzählt in einem seiner geistvollen Essais, ein italienischer
Fürst habe im Mittelalter einem politischen Verbrecher die
Wahl gelassen, ob er als Strafe die Galeere oder das
Studium ich weiß nicht welches Buches vorzöge; der Un-
glückliche entschied sich für die Galeere. Die Bekanntschaft
mit der Hartung'schen Zeitung macht die verzweifelte Wahl
begreiflich. Man denke sich einen oder mehrere Bogen
schlechten Löschpapiers von mehr grauer als weißer Farbe,
die zu Dreivierteln mit reellen Heirathsgesuchen, Todes-
und Geburts=, Verlobungs= und Vermählungsanzeigen
gefüllt sind, mit Annoncen von Schustern und Schnei-
dern, mit Nachrichten, welche die Jnhaber von Viktualien-
buden und Höckereien interessiren; man denke sich den
knappen Rest von der Nachlese und dem schlechten Abhub
anderer Blätter, bisweilen auch von einem Originalklatsch
in dem liederlichen Deutsch der Lohnschriftsteller und im-
potenten Jnvaliden eingenommen, und man wird die
wahrheitsgetreueste Vorstellung von Jnhalt und Richtung,
von Tendenz und Haltung des verbreitetsten Organs der
Haupt= und Residenzstadt Königsberg gewonnen haben.
Man wittere in dieser Charakteristik weder Animosität
noch Hyperbel; wer im Auslande nach der Hartungschen
Zeitung die Höhe der geistigen Bildung unserer Stadt
bemißt, dem dürfte es wahrlich nicht zu verargen seyn,
wenn er zu verletzenden Schlüssen gelangte. Jn Königs-
berg selbst und in der Provinz gibt man sich in-
dessen keinen Jllusionen über den Werth des Blattes
hin; dasselbe wird gehalten, weil es für die Haushaltun-
gen seiner Annoncen wegen von gewissem Nutzen ist, dann
aber auch nach dem alten süßen Schlendrian der Gewohn-
heit. Gewohnheit, zumal im Gemeinen, ist nach Schiller
des Menschen Amme. Während eines halben Jahrhun-
derts und darüber war die Hartungsche Zeitung die ein-
zige, welche hier erschien, seit Generationen hat der Bür-
ger unserer Stadt die gute alte Bekannte als Zugabe zu
seinem Morgenkaffee genossen, er mag sich nicht zu einem
Wechsel bequemen, obschon ein solcher sonder Mühe und
Beschwerde zu bewerkstelligen wäre. Bereits seit längerer Zeit
[Spaltenumbruch] nämlich hat die conservative Partei des Herzogthums sich
in der ostpreußischen Zeitung ein eigenes Organ begrün-
det, dessen politischer Theil die allgemeinen Principien der
Partei mit Schärfe und Entschiedenheit vertritt, ohne
darüber die Wahrung der speciellen Provinzialinteressen
zu versäumen, und dessen Feuilleton überdieß der Sam-
melplatz und Vereinigungspunkt der besten einheimischen
literarischen Kräfte geworden ist, und so weit dieß mög-
lich, den Mangel eines besondern Journals für die ästhe-
tische Kritik und die Belletristik ersetzt. Das anerkennende
Urtheil über die ostpreußische Zeitung soll indeß nur auf
ihre Haltung während der letzten Jahre bezogen werden;
das Blatt hat manchen Wechsel der Redaktion und des
Titels durchmachen müssen, und es hat ihm namentlich we-
sentlichen Abbruch gethan, daß die Leitung nicht gleich
Anfangs, als es in das Leben trat, in geschickte Hände
gerieth. So hieß das conservative Organ ursprünglich
"Zeitung für Preußen" und wurde von dem Professor Schu-
bert redigirt, einem Manne, dessen schriftstellerische Lei-
stungen in keinem Verhältniß zu dem Tone stehen, in
welchem er selber davon zu sprechen liebt. Jn den par-
lamentarischen Versammlungen zu Frankfurt, Erfurt und
Berlin, zu denen er Mandate erhalten, ist Professor Schu-
bert in das oppositionelle Lager übergegangen. Bis zur
Promulgirung des jetzt in Preußen geltenden Preßgesetzes
gab es noch ein drittes politisches Tageblatt, die Neue
Königsberger Zeitung, das Organ des demokratischen Ra-
dikalismus; der Verleger mochte die angedeutete Gelegen-
heit benutzen, um unter dem Scheine, als sey er durch
jene Maßregel zu dem Schritte genöthigt worden, durch
das Eingehen des Blattes weiteren pekuniären Verlusten
vorzubeugen. Von eben so kurzer Dauer war das Leben
zweier andern Unternehmungen, zu denen die Strömung
des Jahres 1848 veranlaßt hatte; sowohl die Dorfzeitung
als die Fliegenden Blätter entschliefen, weil ihre stark
socialistische Tendenz sich kein Terrain erobern konnte.
Gegenwärtig erscheinen bei uns außer den beiden politi-
schen Zeitungen das Evangelische Gemeindeblatt unter der
gewandten Redaktion des Consistorialraths Dr. Weiß,
ferner ein Volksfreund, der in populärer Sprache gehal-
ten, auf die weniger gebildeten Klassen rechnet, endlich
die Provinzialblätter, welche ungefähr das seyn möch-
ten, was ein englisches Review ist, und die Sonntags-
post des Dr. Rupp, in welcher die Anschauungen der frei-
gemeindlichen Sekte niedergelegt sind. -- Sehr unbedeutend
ist die Provinzialpresse. Jede Kreisstadt hat ihr Kreis-
blatt, das zur Bekanntmachung amtlicher Mittheilungen
dient; der übrig bleibende Raum wird mit nachgedruckten
Novellen, Anekdoten, Privatinseraten und dergleichen ge-
füllt. Jn den größeren Orten Elbing, Tilsit, Memel
u. s. w. bestehen daneben Wochen = und Unterhaltungs-
blätter, welche die Politik gar nicht oder doch nur in
zweiter Linie berücksichtigen; ihre Mitarbeiter rekrutiren
sich durchschnittlich aus jener Sorte Schreiber, welche sich,
nachdem sie allwärts gescheitert, in die Publicistik als letztes
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] der schaumwogenden Thalatta, in der Unendlichkeit der
Salzfluth die Enge und den Druck des Alltagslebens zu
vergessen, sey es, daß der Commercienrath sein Comptoir
schloß, obwohl er füglich noch recht gute Geschäfte machen
konnte, sey es, daß dieser oder jener Beamte mit karg
gemessenem Gehalt ein Anlehen kontrahirte, sey es, daß
der Student vorzeitige Ferien auf die Gefahr hin antrat,
vom hochwürdigen Senat bei der nächsten Stipendienver-
theilung wegen renitenten Unfleißes schmählich übergangen
zu werden, sey es so oder anders. Die Opfer sind um-
sonstgebracht, der Regen näßt und die Stürme toben abscheu-
lich. Die Badegäste sehen sich beschränkt auf die kahlen Wände
ihrer Bauernhütte, deren Miethe so theures Geld kostet,
auf die dürftige Medisance, welche sich beim Kaffee zwi-
schen Madame und ihrer Nachbarin entwickelt, auf die
Lektüre endlich der Hartungschen Zeitung, welches letztere
Märtyrerthum allerdings das jammervollste ist. Macaulay
erzählt in einem seiner geistvollen Essais, ein italienischer
Fürst habe im Mittelalter einem politischen Verbrecher die
Wahl gelassen, ob er als Strafe die Galeere oder das
Studium ich weiß nicht welches Buches vorzöge; der Un-
glückliche entschied sich für die Galeere. Die Bekanntschaft
mit der Hartung'schen Zeitung macht die verzweifelte Wahl
begreiflich. Man denke sich einen oder mehrere Bogen
schlechten Löschpapiers von mehr grauer als weißer Farbe,
die zu Dreivierteln mit reellen Heirathsgesuchen, Todes-
und Geburts=, Verlobungs= und Vermählungsanzeigen
gefüllt sind, mit Annoncen von Schustern und Schnei-
dern, mit Nachrichten, welche die Jnhaber von Viktualien-
buden und Höckereien interessiren; man denke sich den
knappen Rest von der Nachlese und dem schlechten Abhub
anderer Blätter, bisweilen auch von einem Originalklatsch
in dem liederlichen Deutsch der Lohnschriftsteller und im-
potenten Jnvaliden eingenommen, und man wird die
wahrheitsgetreueste Vorstellung von Jnhalt und Richtung,
von Tendenz und Haltung des verbreitetsten Organs der
Haupt= und Residenzstadt Königsberg gewonnen haben.
Man wittere in dieser Charakteristik weder Animosität
noch Hyperbel; wer im Auslande nach der Hartungschen
Zeitung die Höhe der geistigen Bildung unserer Stadt
bemißt, dem dürfte es wahrlich nicht zu verargen seyn,
wenn er zu verletzenden Schlüssen gelangte. Jn Königs-
berg selbst und in der Provinz gibt man sich in-
dessen keinen Jllusionen über den Werth des Blattes
hin; dasselbe wird gehalten, weil es für die Haushaltun-
gen seiner Annoncen wegen von gewissem Nutzen ist, dann
aber auch nach dem alten süßen Schlendrian der Gewohn-
heit. Gewohnheit, zumal im Gemeinen, ist nach Schiller
des Menschen Amme. Während eines halben Jahrhun-
derts und darüber war die Hartungsche Zeitung die ein-
zige, welche hier erschien, seit Generationen hat der Bür-
ger unserer Stadt die gute alte Bekannte als Zugabe zu
seinem Morgenkaffee genossen, er mag sich nicht zu einem
Wechsel bequemen, obschon ein solcher sonder Mühe und
Beschwerde zu bewerkstelligen wäre. Bereits seit längerer Zeit
[Spaltenumbruch] nämlich hat die conservative Partei des Herzogthums sich
in der ostpreußischen Zeitung ein eigenes Organ begrün-
det, dessen politischer Theil die allgemeinen Principien der
Partei mit Schärfe und Entschiedenheit vertritt, ohne
darüber die Wahrung der speciellen Provinzialinteressen
zu versäumen, und dessen Feuilleton überdieß der Sam-
melplatz und Vereinigungspunkt der besten einheimischen
literarischen Kräfte geworden ist, und so weit dieß mög-
lich, den Mangel eines besondern Journals für die ästhe-
tische Kritik und die Belletristik ersetzt. Das anerkennende
Urtheil über die ostpreußische Zeitung soll indeß nur auf
ihre Haltung während der letzten Jahre bezogen werden;
das Blatt hat manchen Wechsel der Redaktion und des
Titels durchmachen müssen, und es hat ihm namentlich we-
sentlichen Abbruch gethan, daß die Leitung nicht gleich
Anfangs, als es in das Leben trat, in geschickte Hände
gerieth. So hieß das conservative Organ ursprünglich
„Zeitung für Preußen“ und wurde von dem Professor Schu-
bert redigirt, einem Manne, dessen schriftstellerische Lei-
stungen in keinem Verhältniß zu dem Tone stehen, in
welchem er selber davon zu sprechen liebt. Jn den par-
lamentarischen Versammlungen zu Frankfurt, Erfurt und
Berlin, zu denen er Mandate erhalten, ist Professor Schu-
bert in das oppositionelle Lager übergegangen. Bis zur
Promulgirung des jetzt in Preußen geltenden Preßgesetzes
gab es noch ein drittes politisches Tageblatt, die Neue
Königsberger Zeitung, das Organ des demokratischen Ra-
dikalismus; der Verleger mochte die angedeutete Gelegen-
heit benutzen, um unter dem Scheine, als sey er durch
jene Maßregel zu dem Schritte genöthigt worden, durch
das Eingehen des Blattes weiteren pekuniären Verlusten
vorzubeugen. Von eben so kurzer Dauer war das Leben
zweier andern Unternehmungen, zu denen die Strömung
des Jahres 1848 veranlaßt hatte; sowohl die Dorfzeitung
als die Fliegenden Blätter entschliefen, weil ihre stark
socialistische Tendenz sich kein Terrain erobern konnte.
Gegenwärtig erscheinen bei uns außer den beiden politi-
schen Zeitungen das Evangelische Gemeindeblatt unter der
gewandten Redaktion des Consistorialraths Dr. Weiß,
ferner ein Volksfreund, der in populärer Sprache gehal-
ten, auf die weniger gebildeten Klassen rechnet, endlich
die Provinzialblätter, welche ungefähr das seyn möch-
ten, was ein englisches Review ist, und die Sonntags-
post des Dr. Rupp, in welcher die Anschauungen der frei-
gemeindlichen Sekte niedergelegt sind. — Sehr unbedeutend
ist die Provinzialpresse. Jede Kreisstadt hat ihr Kreis-
blatt, das zur Bekanntmachung amtlicher Mittheilungen
dient; der übrig bleibende Raum wird mit nachgedruckten
Novellen, Anekdoten, Privatinseraten und dergleichen ge-
füllt. Jn den größeren Orten Elbing, Tilsit, Memel
u. s. w. bestehen daneben Wochen = und Unterhaltungs-
blätter, welche die Politik gar nicht oder doch nur in
zweiter Linie berücksichtigen; ihre Mitarbeiter rekrutiren
sich durchschnittlich aus jener Sorte Schreiber, welche sich,
nachdem sie allwärts gescheitert, in die Publicistik als letztes
[Ende Spaltensatz]

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[862/0022] 862 der schaumwogenden Thalatta, in der Unendlichkeit der Salzfluth die Enge und den Druck des Alltagslebens zu vergessen, sey es, daß der Commercienrath sein Comptoir schloß, obwohl er füglich noch recht gute Geschäfte machen konnte, sey es, daß dieser oder jener Beamte mit karg gemessenem Gehalt ein Anlehen kontrahirte, sey es, daß der Student vorzeitige Ferien auf die Gefahr hin antrat, vom hochwürdigen Senat bei der nächsten Stipendienver- theilung wegen renitenten Unfleißes schmählich übergangen zu werden, sey es so oder anders. Die Opfer sind um- sonstgebracht, der Regen näßt und die Stürme toben abscheu- lich. Die Badegäste sehen sich beschränkt auf die kahlen Wände ihrer Bauernhütte, deren Miethe so theures Geld kostet, auf die dürftige Medisance, welche sich beim Kaffee zwi- schen Madame und ihrer Nachbarin entwickelt, auf die Lektüre endlich der Hartungschen Zeitung, welches letztere Märtyrerthum allerdings das jammervollste ist. 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So hieß das conservative Organ ursprünglich „Zeitung für Preußen“ und wurde von dem Professor Schu- bert redigirt, einem Manne, dessen schriftstellerische Lei- stungen in keinem Verhältniß zu dem Tone stehen, in welchem er selber davon zu sprechen liebt. Jn den par- lamentarischen Versammlungen zu Frankfurt, Erfurt und Berlin, zu denen er Mandate erhalten, ist Professor Schu- bert in das oppositionelle Lager übergegangen. Bis zur Promulgirung des jetzt in Preußen geltenden Preßgesetzes gab es noch ein drittes politisches Tageblatt, die Neue Königsberger Zeitung, das Organ des demokratischen Ra- dikalismus; der Verleger mochte die angedeutete Gelegen- heit benutzen, um unter dem Scheine, als sey er durch jene Maßregel zu dem Schritte genöthigt worden, durch das Eingehen des Blattes weiteren pekuniären Verlusten vorzubeugen. Von eben so kurzer Dauer war das Leben zweier andern Unternehmungen, zu denen die Strömung des Jahres 1848 veranlaßt hatte; sowohl die Dorfzeitung als die Fliegenden Blätter entschliefen, weil ihre stark socialistische Tendenz sich kein Terrain erobern konnte. Gegenwärtig erscheinen bei uns außer den beiden politi- schen Zeitungen das Evangelische Gemeindeblatt unter der gewandten Redaktion des Consistorialraths Dr. Weiß, ferner ein Volksfreund, der in populärer Sprache gehal- ten, auf die weniger gebildeten Klassen rechnet, endlich die Provinzialblätter, welche ungefähr das seyn möch- ten, was ein englisches Review ist, und die Sonntags- post des Dr. Rupp, in welcher die Anschauungen der frei- gemeindlichen Sekte niedergelegt sind. — Sehr unbedeutend ist die Provinzialpresse. Jede Kreisstadt hat ihr Kreis- blatt, das zur Bekanntmachung amtlicher Mittheilungen dient; der übrig bleibende Raum wird mit nachgedruckten Novellen, Anekdoten, Privatinseraten und dergleichen ge- füllt. 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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 36. Stuttgart/Tübingen, 7. September 1856, S. 862. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt36_1856/22>, abgerufen am 29.05.2024.