Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 36. Stuttgart/Tübingen, 7. September 1856.[Beginn Spaltensatz]
Asyl geflüchtet haben. Eine Ausnahme machen der El- Ueberlassen wir den sich langweilenden Gästen in [Beginn Spaltensatz]
Asyl geflüchtet haben. Eine Ausnahme machen der El- Ueberlassen wir den sich langweilenden Gästen in <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div type="jArticle" n="2"> <p><pb facs="#f0023" n="863"/><fw type="pageNum" place="top">863</fw><cb type="start"/> Asyl geflüchtet haben. Eine Ausnahme machen der El-<lb/> binger Anzeiger und das Jntelligenzblatt für Litthauen:<lb/> beide Blätter liefern relativ Befriedigendes. </p><lb/> <p>Ueberlassen wir den sich langweilenden Gästen in<lb/> Kranz und Kuren, deren nicht beneidenswerthe Situation<lb/> uns zu der Rundschau unserer Journalistik verleitet hat, die<lb/> Lektüre dieser Zeitungen und Blätter; mögen die Herr-<lb/> schaften zusehen, wie sie sich mit Hülfe jener Organe über<lb/> die Regenstunden hinweghelfen; das ist ihre Sache. Besser<lb/> als sie befindet sich jedenfalls das in Königsberg zurück-<lb/> gebliebene Publikum, dem die Verhältnisse keine Badereise<lb/> und keine Villeggiatur gestatten. Müssen auch die gemeinen<lb/> Sommervergnügungen gar oft entbehrt werden, die Gar-<lb/> tenconcerte, Spaziergänge und Spazierfahrten, die ge-<lb/> meinsamen Landpartien, man hat doch das Theater und<lb/> in ihm ein Refugium für böse Abende. Es pflegte sonst<lb/> Sitte und Brauch zu seyn, daß unsere Bühne während<lb/> der Sommermonate geschlossen wurde, die Gesellschaft<lb/> begab sich in die Provinz und spielte dort. Jn diesem<lb/> Jahre ist die Direktion von der Regel abgewichen, eben<lb/> nicht zu ihrem Vortheil; die Ferien haben gerade unter<lb/> den regelmäßigen Theaterbesuchern eine fühlbare Lücke ge-<lb/> rissen, die durch den spärlichen Fremdenverkehr in keiner<lb/> Weise ausgefüllt wird. Wir bedauern die Thatsache im<lb/> Jnteresse des Jnstituts. Commissionsrath Woltersdorff, auf<lb/> dessen Schrift „Theatralisches“ ich jüngst die Leser hinzuweisen<lb/> mir erlaubte, verdient durchaus in seinen Bestrebungen unter-<lb/> stützt zu werden. Wenn man sieht, wie heute sogar stark sub-<lb/> ventionirte Hoftheater wenig Ersprießliches leisten, Stadt-<lb/> theater dagegen, welche Privatunternehmungen und allein auf<lb/> die Kasseneinnahme beschränkt sind, dahinsiechen, bis sie<lb/> schließlich nach dem Bankerott der Vorstände unter den<lb/> Hammer kommen, so hat man wohl Veranlassung, auf<lb/> den Zustand der Königsberger Bühne stolz zu seyn. Frei-<lb/> lich kann sie den Vergleich mit den Bühnen von Wien<lb/> und Berlin, München und Dresden nicht aushalten, aus<lb/> dem einfachen Grunde, weil ihr nicht die gleichen Geld-<lb/> mittel zu Gebot stehen; allerdings wird niemand die Kö-<lb/> nigsberger Bühne für eine vollendete Musteranstalt aus-<lb/> geben wollen; freilich darf eine unparteiische Kritik auch<lb/> hier nicht das Begehen von Mißgriffen und das Vorhan-<lb/> denseyn mancher Mängel in Abrede stellen, die Bunt-<lb/> scheckigkeit z. B. des Repertoires, die Begünstigung der<lb/> Gastspiele, den Aufwand für die Ornamentik der Oper<lb/> und des Ballets im Gegensatz zu der kargen Aus-<lb/> stattung des recitirenden Schauspiels. Jndeß es sey zu-<lb/> nächst nicht vergessen, daß die zuletzt gerügten Uebelstände,<lb/> die gegenwärtig überall bemerkt werden, wo nicht ihre<lb/> theilweise Berechtigung, so doch ihre vollständige Ent-<lb/> schuldigung im verdorbenen Geschmack und den kategori-<lb/> schen Anforderungen des Publikums finden, ein Faktor,<lb/> dem eine nicht subventionirte Direktion auch wider Willen<lb/> volle Rechnung tragen muß, weil sie nur unter dieser<lb/> Bedingung die eigene Existenz ermöglicht. Dann aber<lb/> haben wir hinzuzufügen, daß unsere Direktion sich mit<lb/><cb n="2"/> Eifer bemüht, die vorhandenen Mängel zu beseitigen und<lb/> durch gediegene Leistungen dem Rufe zu entsprechen, den<lb/> sie sich auswärts allgemein erworben. Namentlich ver-<lb/> dient es hervorgehoben zu werden, daß die Königsberger<lb/> Bühne schon seit geraumer Zeit den jungen Talenten offen<lb/> steht. Neuigkeiten sowohl in der Oper als im Schauspiel<lb/> werden rasch nach ihrem Erscheinen gegeben, und keines-<lb/> wegs erst, nachdem sie anderorts die Feuerprobe durchge-<lb/> macht. Der einheimischen Produktion hat Hr. Woltersdorff<lb/> seine besondere Theilnahme zugewandt. Während der ver-<lb/> gangenen Saison gelangten zwei große Opern hiesiger<lb/> Componisten, von R. Gervais und A. Pabst zur Auf-<lb/> führung, im Schauspiel Originalarbeiten von Fr. Tietz<lb/> und C. Schlieben; für die kommende Saison sind auf An-<lb/> rathen von Thaddäus Lau mehrere ältere, mit Unrecht in<lb/> Vergessenheit gerathene Arbeiten der romantischen Schule<lb/> auf das Repertoire gesetzt worden, ein Versuch, welchem<lb/> wir durchaus beipflichten und von dem wir uns Erfolg<lb/> versprechen. Das Heppheppgeschrei gegen die Romantik,<lb/> das lange Mode gewesen, sollte billig einer unbefangenen<lb/> Prüfung weichen; man ist auf eine sehr wohlfeile Weise<lb/> witzig, wenn man die Romantiker und ihre Gegner, die<lb/> alten nüchternen Aufklärer, wie Nicolai und Biester, da-<lb/> hin charakterisirt, man könne es zwar jenen nicht verar-<lb/> gen, daß sie sich über die deutschen Aufklärer gelangweilt,<lb/> die nichts anderes zu sagen wußten, als daß 2 × 2 == 4<lb/> ist, daß es keine Gespenster gibt, daß der Meuchelmord<lb/> ein Laster und die Dankbarkeit eine Tugend; man müsse<lb/> es aber den Romantikern gar sehr verdenken, wenn sie<lb/> in der Absicht, in die traurige Einförmigkeit Abwechslung zu<lb/> bringen, nichts Besseres zu thun vermochten, als zu be-<lb/> haupten, 2 × 2 macht nicht 4, die Gespenster sind die<lb/> Cr <hi rendition="#aq">ê</hi> me des Lebens, der Mord ist eine Tugend und der<lb/> Wahnsinn der normale Zustand des Menschen. Ein sol-<lb/> ches Urtheil, mag es sich immerhin in gewissen Literatur-<lb/> geschichten vorfinden, verräth eben so viel Uebermuth und<lb/> Leichtsinn, als Unwissenheit. Gewiß, die Romantiker<lb/> haben öfters gesündigt und öfters gelästert, die moralische<lb/> Rigorosität mag es ihnen zum Vorwurf anrechnen, daß<lb/> sie bisweilen an den zehn Geboten gezweifelt, und die<lb/> ästhetische Kritik, daß sie mitunter die Maßverhältnisse<lb/> nicht beobachtet, ohne welche kein organisches Kunstwerk<lb/> denkbar ist; man mag die Schule anklagen, daß sie auf<lb/> den sittlichen Gedankenkreis des Volks sowohl als auf die<lb/> Kunst und ihre Entwicklung verhängnißvoll eingewirkt;<lb/> aber man sollte nicht Bestrebungen, die einen unleugba-<lb/> ren Jnhalt haben, Produktionen, die neben Verirrungen<lb/> und Mängeln die deutlichsten Spuren schöner Talente,<lb/> reicher Kräfte bekunden, der Verachtung preisgeben, in-<lb/> dem man sie mit souveräner Willkür an den Pranger der<lb/> Lächerlichkeit stellt. Gerade unter den Dramen der Schule<lb/> finden sich unserer Ansicht nach Leistungen, die wohl werth<lb/> sind, der Vergessenheit entrissen zu werden; die Bühne<lb/> wird einzelne Stücke von Werner, Kleist, Raupach nur<lb/> zu ihrem eigenen Nachtheil ignoriren. </p><lb/> <cb type="end"/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [863/0023]
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Asyl geflüchtet haben. Eine Ausnahme machen der El-
binger Anzeiger und das Jntelligenzblatt für Litthauen:
beide Blätter liefern relativ Befriedigendes.
Ueberlassen wir den sich langweilenden Gästen in
Kranz und Kuren, deren nicht beneidenswerthe Situation
uns zu der Rundschau unserer Journalistik verleitet hat, die
Lektüre dieser Zeitungen und Blätter; mögen die Herr-
schaften zusehen, wie sie sich mit Hülfe jener Organe über
die Regenstunden hinweghelfen; das ist ihre Sache. Besser
als sie befindet sich jedenfalls das in Königsberg zurück-
gebliebene Publikum, dem die Verhältnisse keine Badereise
und keine Villeggiatur gestatten. Müssen auch die gemeinen
Sommervergnügungen gar oft entbehrt werden, die Gar-
tenconcerte, Spaziergänge und Spazierfahrten, die ge-
meinsamen Landpartien, man hat doch das Theater und
in ihm ein Refugium für böse Abende. Es pflegte sonst
Sitte und Brauch zu seyn, daß unsere Bühne während
der Sommermonate geschlossen wurde, die Gesellschaft
begab sich in die Provinz und spielte dort. Jn diesem
Jahre ist die Direktion von der Regel abgewichen, eben
nicht zu ihrem Vortheil; die Ferien haben gerade unter
den regelmäßigen Theaterbesuchern eine fühlbare Lücke ge-
rissen, die durch den spärlichen Fremdenverkehr in keiner
Weise ausgefüllt wird. Wir bedauern die Thatsache im
Jnteresse des Jnstituts. Commissionsrath Woltersdorff, auf
dessen Schrift „Theatralisches“ ich jüngst die Leser hinzuweisen
mir erlaubte, verdient durchaus in seinen Bestrebungen unter-
stützt zu werden. Wenn man sieht, wie heute sogar stark sub-
ventionirte Hoftheater wenig Ersprießliches leisten, Stadt-
theater dagegen, welche Privatunternehmungen und allein auf
die Kasseneinnahme beschränkt sind, dahinsiechen, bis sie
schließlich nach dem Bankerott der Vorstände unter den
Hammer kommen, so hat man wohl Veranlassung, auf
den Zustand der Königsberger Bühne stolz zu seyn. Frei-
lich kann sie den Vergleich mit den Bühnen von Wien
und Berlin, München und Dresden nicht aushalten, aus
dem einfachen Grunde, weil ihr nicht die gleichen Geld-
mittel zu Gebot stehen; allerdings wird niemand die Kö-
nigsberger Bühne für eine vollendete Musteranstalt aus-
geben wollen; freilich darf eine unparteiische Kritik auch
hier nicht das Begehen von Mißgriffen und das Vorhan-
denseyn mancher Mängel in Abrede stellen, die Bunt-
scheckigkeit z. B. des Repertoires, die Begünstigung der
Gastspiele, den Aufwand für die Ornamentik der Oper
und des Ballets im Gegensatz zu der kargen Aus-
stattung des recitirenden Schauspiels. Jndeß es sey zu-
nächst nicht vergessen, daß die zuletzt gerügten Uebelstände,
die gegenwärtig überall bemerkt werden, wo nicht ihre
theilweise Berechtigung, so doch ihre vollständige Ent-
schuldigung im verdorbenen Geschmack und den kategori-
schen Anforderungen des Publikums finden, ein Faktor,
dem eine nicht subventionirte Direktion auch wider Willen
volle Rechnung tragen muß, weil sie nur unter dieser
Bedingung die eigene Existenz ermöglicht. Dann aber
haben wir hinzuzufügen, daß unsere Direktion sich mit
Eifer bemüht, die vorhandenen Mängel zu beseitigen und
durch gediegene Leistungen dem Rufe zu entsprechen, den
sie sich auswärts allgemein erworben. Namentlich ver-
dient es hervorgehoben zu werden, daß die Königsberger
Bühne schon seit geraumer Zeit den jungen Talenten offen
steht. Neuigkeiten sowohl in der Oper als im Schauspiel
werden rasch nach ihrem Erscheinen gegeben, und keines-
wegs erst, nachdem sie anderorts die Feuerprobe durchge-
macht. Der einheimischen Produktion hat Hr. Woltersdorff
seine besondere Theilnahme zugewandt. Während der ver-
gangenen Saison gelangten zwei große Opern hiesiger
Componisten, von R. Gervais und A. Pabst zur Auf-
führung, im Schauspiel Originalarbeiten von Fr. Tietz
und C. Schlieben; für die kommende Saison sind auf An-
rathen von Thaddäus Lau mehrere ältere, mit Unrecht in
Vergessenheit gerathene Arbeiten der romantischen Schule
auf das Repertoire gesetzt worden, ein Versuch, welchem
wir durchaus beipflichten und von dem wir uns Erfolg
versprechen. Das Heppheppgeschrei gegen die Romantik,
das lange Mode gewesen, sollte billig einer unbefangenen
Prüfung weichen; man ist auf eine sehr wohlfeile Weise
witzig, wenn man die Romantiker und ihre Gegner, die
alten nüchternen Aufklärer, wie Nicolai und Biester, da-
hin charakterisirt, man könne es zwar jenen nicht verar-
gen, daß sie sich über die deutschen Aufklärer gelangweilt,
die nichts anderes zu sagen wußten, als daß 2 × 2 == 4
ist, daß es keine Gespenster gibt, daß der Meuchelmord
ein Laster und die Dankbarkeit eine Tugend; man müsse
es aber den Romantikern gar sehr verdenken, wenn sie
in der Absicht, in die traurige Einförmigkeit Abwechslung zu
bringen, nichts Besseres zu thun vermochten, als zu be-
haupten, 2 × 2 macht nicht 4, die Gespenster sind die
Cr ê me des Lebens, der Mord ist eine Tugend und der
Wahnsinn der normale Zustand des Menschen. Ein sol-
ches Urtheil, mag es sich immerhin in gewissen Literatur-
geschichten vorfinden, verräth eben so viel Uebermuth und
Leichtsinn, als Unwissenheit. Gewiß, die Romantiker
haben öfters gesündigt und öfters gelästert, die moralische
Rigorosität mag es ihnen zum Vorwurf anrechnen, daß
sie bisweilen an den zehn Geboten gezweifelt, und die
ästhetische Kritik, daß sie mitunter die Maßverhältnisse
nicht beobachtet, ohne welche kein organisches Kunstwerk
denkbar ist; man mag die Schule anklagen, daß sie auf
den sittlichen Gedankenkreis des Volks sowohl als auf die
Kunst und ihre Entwicklung verhängnißvoll eingewirkt;
aber man sollte nicht Bestrebungen, die einen unleugba-
ren Jnhalt haben, Produktionen, die neben Verirrungen
und Mängeln die deutlichsten Spuren schöner Talente,
reicher Kräfte bekunden, der Verachtung preisgeben, in-
dem man sie mit souveräner Willkür an den Pranger der
Lächerlichkeit stellt. Gerade unter den Dramen der Schule
finden sich unserer Ansicht nach Leistungen, die wohl werth
sind, der Vergessenheit entrissen zu werden; die Bühne
wird einzelne Stücke von Werner, Kleist, Raupach nur
zu ihrem eigenen Nachtheil ignoriren.
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Susanne Haaf, Rahel Hartz, Nicole Postelt: Nachkorrektur und Vervollständigung der TEI/DTABf-Annotation
Rahel Hartz: Artikelstrukturierung
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