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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 44. Stuttgart/Tübingen, 2. November 1856.

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Jn dem Gesammtleben ist das Besondere dem
Ganzen untergeordnet, das durch die Wechselergänzung
der Einzelnen sich vollendet. Wollte die Malerei darum
eine besondere Gestalt so für sich vollenden, in ihr das
Jdeal so unmittelbar darstellen, wie es die Sculptur
thut, so würde sie gleich dieser die Gestalt aus der
Umgebung herausheben. Wie sie aber die Umgebung
in ihr Werk mit hereinzieht und zur Charakteristik auch
der geistigen Jndividualität verwendet, so muß diese als
besondere Gestalt sich wieder dem Ganzen einordnen
und fügen, das andere auf sich wirken, sich in der
Beziehung auf das andere darstellen lassen; die einzelne
Gestalt ist hier nur ein Theil, der seine Stellung, sein
Licht im Ganzen empfängt und diesem dienen muß.
Protogenes tilgte das Rebhuhn auf dem Pfeiler neben
seinem ruhenden Satyr, weil es vorzugsweise die Augen
auf sich zog, obwohl es nur Beiwerk seyn sollte.

Wenn Teichlein einmal sagt: "die Plastik realisirt
das Jdeal, die Malerei idealisirt das Reale," so können
wir auch dieses Wort uns hier aneignen. Denn das
Reale existirt in der Vielheit einander ergänzender, für
und mit einander lebender Wesen, und die Malerei
zeigt die Schönheit und Einheit, welche in der Fülle
und dem Reichthum des Lebens sich offenbart, wo zwar
alles Besondere für sich ein Begrenztes und Bedingtes ist,
aber aus der gegenseitigen Ergänzung und Wechselwirkung
aller Dinge ein in sich Geschlossenes, harmonisch Vollendetes
hervorgeht. Jenes Gesammtleben kann die Malerei nur
wiedergeben, in so fern sie auf die Materialität der Dinge
verzichtet, und nicht gleich der Sculptur die volle runde
Körperlichkeit darstellt, sondern nur deren Erscheinung,
wie sie für das Auge ist. Es ist hier nicht die Macht
der Schwere, welche die Gestalt und ihre Glieder, welche
den Aufbau des Ganzen zusammenhält, sondern der be-
seelende Geist, das innere Leben, welches die äußere
Form bestimmt und in ihr sich ausdrückt. Das Selbst
des Menschen ist für uns in der christlich germanischen
Welt das Jch geworden, den Hellenen war es der
organische Leib; der Geist war nur das Jdol ( eidolon ) ,
das Schattenbild, wie es gleich am Anfang der
Jlias heißt, daß der Zorn des Achilleus die Seelen
vieler edlen Helden zum Hades hinabgesandt, sie selbst
( aytoyw ) aber zum Raub den Hunden und Vögeln da-
hingegeben, wie es in der Odyssee von Herakles heißt,
daß sein Schattenbild in der Unterwelt sey, während
er selbst ( aytow ) im Olymp mit der Göttin der Jugend
vermählt ward. So ergriff denn der Hellene die Lei-
besschönheit in ihrer Totalität und ward Plastiker,
während die neuere Zeit sich in das Seelenleben, die
Gemüthsinnerlichkeit vertiefte und sich zur Malerei
wandte.

[Spaltenumbruch]

Doch würde die Malerei als Kunst und die Si-
cherheit ihrer Wirkung, ihres Verständnisses völlig un-
möglich seyn, wenn ihr nicht die große Wahrheit zu
Grunde läge, daß ein und dasselbe Princip, welches
die Welt der Gedanken im Bewußtseyn erzeugt und zum
sittlichen Charakter sich gestaltet, auch als leibbildende
Lebenskraft sich den physischen Organismus bereitet,
und darum der Körper nicht bloß für die allgemeinen
geistigen Thätigkeitsweisen zweckvoll gebaut, sondern
auch den originalen Eigenthümlichkeiten der einzelnen
Seele entsprechend ist, wie z. B. das malerische Ta-
lent mit dem feinen Farbensinn des Auges, die mu-
sikalische Empfindungs= und Gestaltungskraft mit dem
genauen Unterscheidungsvermögen der Töne im Ohr zu-
sammentrifft. Darum vermögen denn auch die einzelnen
Regungen der Seele sich in Mienen und Geberden des Lei-
bes kund zu thun, und gerade hierauf kommt es der Male-
rei an, indem sie den Ausdruck des Seelenlebens vor-
wiegend sich zur Aufgabe macht. Seelenspiegel aber ist
zunächst das Antlitz, und hier wieder vor allem das
Auge. Das innere Leben, das für die Sculptur im
ganzen Leibe ergossen war, concentrirt sich für die
Malerei im Blick. Aus dem Krystall des Auges
leuchtet der persönliche Geist mit seiner bleibenden Ge-
sinnung wie mit seinen flüchtigsten Empfindungen; da
blitzt der Muth, da strahlt die Freude, da umgibt sich
Trauer und Wehmuth wie mit zartem Schleier und
bricht die Begeisterung mit zündendem Feuer hervor.
Schon Herder sagt mit Recht: "Jeder große Mann hat
einen Blick, den niemand anders als er mit seinen
Augen machen kann. Dieß Zeichen, das die Natur in
sein Angesicht legte, verdunkelt alle übrigen Vorzüge
und macht einen Sokrates zu einem schönen Mann im
besondern Verstande." Unterstützt von der Beschattung
der Augen und von der Richtung ihres Glanzes, beruht
der Blick doch wesentlich auf dem Hindurchwirken des
inneren Nervenlebens, welches das ausstrahlende Licht
eben so mit seiner Empfindungsfülle begabt, wie der
Sänger die Stimmung seiner Seele, den Gehalt seiner
Brust in den Luftstrom ergießt, den er zum Ton er-
regt und aus dem Munde hervor sendet, so daß ein
Geist dem andern hier im Laut und dort im Blick durch
Luft und Licht die Stimmung des eigenen Gefühls ver-
mittelt und durch Auge und Ohr im andern das ver-
wandte Gefühl erweckt. Dem Laut vermögen wir jetzt
nicht bloß unsere Empfindung anzuvertrauen, sondern
durch die Artikulation machen wir ihn auch fähig zum
bestimmten Gedankenausdruck im Wort: sollte es aber
einer höheren Organisation nicht vergönnt seyn, auch den
Aether auf eine ähnliche Weise zu gestalten, wie der
Mensch es jetzt durch die Sprache mit der Luft vermag?
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Jn dem Gesammtleben ist das Besondere dem
Ganzen untergeordnet, das durch die Wechselergänzung
der Einzelnen sich vollendet. Wollte die Malerei darum
eine besondere Gestalt so für sich vollenden, in ihr das
Jdeal so unmittelbar darstellen, wie es die Sculptur
thut, so würde sie gleich dieser die Gestalt aus der
Umgebung herausheben. Wie sie aber die Umgebung
in ihr Werk mit hereinzieht und zur Charakteristik auch
der geistigen Jndividualität verwendet, so muß diese als
besondere Gestalt sich wieder dem Ganzen einordnen
und fügen, das andere auf sich wirken, sich in der
Beziehung auf das andere darstellen lassen; die einzelne
Gestalt ist hier nur ein Theil, der seine Stellung, sein
Licht im Ganzen empfängt und diesem dienen muß.
Protogenes tilgte das Rebhuhn auf dem Pfeiler neben
seinem ruhenden Satyr, weil es vorzugsweise die Augen
auf sich zog, obwohl es nur Beiwerk seyn sollte.

Wenn Teichlein einmal sagt: „die Plastik realisirt
das Jdeal, die Malerei idealisirt das Reale,“ so können
wir auch dieses Wort uns hier aneignen. Denn das
Reale existirt in der Vielheit einander ergänzender, für
und mit einander lebender Wesen, und die Malerei
zeigt die Schönheit und Einheit, welche in der Fülle
und dem Reichthum des Lebens sich offenbart, wo zwar
alles Besondere für sich ein Begrenztes und Bedingtes ist,
aber aus der gegenseitigen Ergänzung und Wechselwirkung
aller Dinge ein in sich Geschlossenes, harmonisch Vollendetes
hervorgeht. Jenes Gesammtleben kann die Malerei nur
wiedergeben, in so fern sie auf die Materialität der Dinge
verzichtet, und nicht gleich der Sculptur die volle runde
Körperlichkeit darstellt, sondern nur deren Erscheinung,
wie sie für das Auge ist. Es ist hier nicht die Macht
der Schwere, welche die Gestalt und ihre Glieder, welche
den Aufbau des Ganzen zusammenhält, sondern der be-
seelende Geist, das innere Leben, welches die äußere
Form bestimmt und in ihr sich ausdrückt. Das Selbst
des Menschen ist für uns in der christlich germanischen
Welt das Jch geworden, den Hellenen war es der
organische Leib; der Geist war nur das Jdol ( eĭdώlon ) ,
das Schattenbild, wie es gleich am Anfang der
Jlias heißt, daß der Zorn des Achilleus die Seelen
vieler edlen Helden zum Hades hinabgesandt, sie selbst
( ay̆toýw ) aber zum Raub den Hunden und Vögeln da-
hingegeben, wie es in der Odyssee von Herakles heißt,
daß sein Schattenbild in der Unterwelt sey, während
er selbst ( ay̆tów ) im Olymp mit der Göttin der Jugend
vermählt ward. So ergriff denn der Hellene die Lei-
besschönheit in ihrer Totalität und ward Plastiker,
während die neuere Zeit sich in das Seelenleben, die
Gemüthsinnerlichkeit vertiefte und sich zur Malerei
wandte.

[Spaltenumbruch]

Doch würde die Malerei als Kunst und die Si-
cherheit ihrer Wirkung, ihres Verständnisses völlig un-
möglich seyn, wenn ihr nicht die große Wahrheit zu
Grunde läge, daß ein und dasselbe Princip, welches
die Welt der Gedanken im Bewußtseyn erzeugt und zum
sittlichen Charakter sich gestaltet, auch als leibbildende
Lebenskraft sich den physischen Organismus bereitet,
und darum der Körper nicht bloß für die allgemeinen
geistigen Thätigkeitsweisen zweckvoll gebaut, sondern
auch den originalen Eigenthümlichkeiten der einzelnen
Seele entsprechend ist, wie z. B. das malerische Ta-
lent mit dem feinen Farbensinn des Auges, die mu-
sikalische Empfindungs= und Gestaltungskraft mit dem
genauen Unterscheidungsvermögen der Töne im Ohr zu-
sammentrifft. Darum vermögen denn auch die einzelnen
Regungen der Seele sich in Mienen und Geberden des Lei-
bes kund zu thun, und gerade hierauf kommt es der Male-
rei an, indem sie den Ausdruck des Seelenlebens vor-
wiegend sich zur Aufgabe macht. Seelenspiegel aber ist
zunächst das Antlitz, und hier wieder vor allem das
Auge. Das innere Leben, das für die Sculptur im
ganzen Leibe ergossen war, concentrirt sich für die
Malerei im Blick. Aus dem Krystall des Auges
leuchtet der persönliche Geist mit seiner bleibenden Ge-
sinnung wie mit seinen flüchtigsten Empfindungen; da
blitzt der Muth, da strahlt die Freude, da umgibt sich
Trauer und Wehmuth wie mit zartem Schleier und
bricht die Begeisterung mit zündendem Feuer hervor.
Schon Herder sagt mit Recht: „Jeder große Mann hat
einen Blick, den niemand anders als er mit seinen
Augen machen kann. Dieß Zeichen, das die Natur in
sein Angesicht legte, verdunkelt alle übrigen Vorzüge
und macht einen Sokrates zu einem schönen Mann im
besondern Verstande.“ Unterstützt von der Beschattung
der Augen und von der Richtung ihres Glanzes, beruht
der Blick doch wesentlich auf dem Hindurchwirken des
inneren Nervenlebens, welches das ausstrahlende Licht
eben so mit seiner Empfindungsfülle begabt, wie der
Sänger die Stimmung seiner Seele, den Gehalt seiner
Brust in den Luftstrom ergießt, den er zum Ton er-
regt und aus dem Munde hervor sendet, so daß ein
Geist dem andern hier im Laut und dort im Blick durch
Luft und Licht die Stimmung des eigenen Gefühls ver-
mittelt und durch Auge und Ohr im andern das ver-
wandte Gefühl erweckt. Dem Laut vermögen wir jetzt
nicht bloß unsere Empfindung anzuvertrauen, sondern
durch die Artikulation machen wir ihn auch fähig zum
bestimmten Gedankenausdruck im Wort: sollte es aber
einer höheren Organisation nicht vergönnt seyn, auch den
Aether auf eine ähnliche Weise zu gestalten, wie der
Mensch es jetzt durch die Sprache mit der Luft vermag?
[Ende Spaltensatz]

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[1045/0013] 1045 Jn dem Gesammtleben ist das Besondere dem Ganzen untergeordnet, das durch die Wechselergänzung der Einzelnen sich vollendet. Wollte die Malerei darum eine besondere Gestalt so für sich vollenden, in ihr das Jdeal so unmittelbar darstellen, wie es die Sculptur thut, so würde sie gleich dieser die Gestalt aus der Umgebung herausheben. Wie sie aber die Umgebung in ihr Werk mit hereinzieht und zur Charakteristik auch der geistigen Jndividualität verwendet, so muß diese als besondere Gestalt sich wieder dem Ganzen einordnen und fügen, das andere auf sich wirken, sich in der Beziehung auf das andere darstellen lassen; die einzelne Gestalt ist hier nur ein Theil, der seine Stellung, sein Licht im Ganzen empfängt und diesem dienen muß. Protogenes tilgte das Rebhuhn auf dem Pfeiler neben seinem ruhenden Satyr, weil es vorzugsweise die Augen auf sich zog, obwohl es nur Beiwerk seyn sollte. 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Es ist hier nicht die Macht der Schwere, welche die Gestalt und ihre Glieder, welche den Aufbau des Ganzen zusammenhält, sondern der be- seelende Geist, das innere Leben, welches die äußere Form bestimmt und in ihr sich ausdrückt. Das Selbst des Menschen ist für uns in der christlich germanischen Welt das Jch geworden, den Hellenen war es der organische Leib; der Geist war nur das Jdol ( eĭdώlon ) , das Schattenbild, wie es gleich am Anfang der Jlias heißt, daß der Zorn des Achilleus die Seelen vieler edlen Helden zum Hades hinabgesandt, sie selbst ( ay̆toýw ) aber zum Raub den Hunden und Vögeln da- hingegeben, wie es in der Odyssee von Herakles heißt, daß sein Schattenbild in der Unterwelt sey, während er selbst ( ay̆tów ) im Olymp mit der Göttin der Jugend vermählt ward. So ergriff denn der Hellene die Lei- besschönheit in ihrer Totalität und ward Plastiker, während die neuere Zeit sich in das Seelenleben, die Gemüthsinnerlichkeit vertiefte und sich zur Malerei wandte. Doch würde die Malerei als Kunst und die Si- cherheit ihrer Wirkung, ihres Verständnisses völlig un- möglich seyn, wenn ihr nicht die große Wahrheit zu Grunde läge, daß ein und dasselbe Princip, welches die Welt der Gedanken im Bewußtseyn erzeugt und zum sittlichen Charakter sich gestaltet, auch als leibbildende Lebenskraft sich den physischen Organismus bereitet, und darum der Körper nicht bloß für die allgemeinen geistigen Thätigkeitsweisen zweckvoll gebaut, sondern auch den originalen Eigenthümlichkeiten der einzelnen Seele entsprechend ist, wie z. B. das malerische Ta- lent mit dem feinen Farbensinn des Auges, die mu- sikalische Empfindungs= und Gestaltungskraft mit dem genauen Unterscheidungsvermögen der Töne im Ohr zu- sammentrifft. Darum vermögen denn auch die einzelnen Regungen der Seele sich in Mienen und Geberden des Lei- bes kund zu thun, und gerade hierauf kommt es der Male- rei an, indem sie den Ausdruck des Seelenlebens vor- wiegend sich zur Aufgabe macht. 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Dieß Zeichen, das die Natur in sein Angesicht legte, verdunkelt alle übrigen Vorzüge und macht einen Sokrates zu einem schönen Mann im besondern Verstande.“ Unterstützt von der Beschattung der Augen und von der Richtung ihres Glanzes, beruht der Blick doch wesentlich auf dem Hindurchwirken des inneren Nervenlebens, welches das ausstrahlende Licht eben so mit seiner Empfindungsfülle begabt, wie der Sänger die Stimmung seiner Seele, den Gehalt seiner Brust in den Luftstrom ergießt, den er zum Ton er- regt und aus dem Munde hervor sendet, so daß ein Geist dem andern hier im Laut und dort im Blick durch Luft und Licht die Stimmung des eigenen Gefühls ver- mittelt und durch Auge und Ohr im andern das ver- wandte Gefühl erweckt. Dem Laut vermögen wir jetzt nicht bloß unsere Empfindung anzuvertrauen, sondern durch die Artikulation machen wir ihn auch fähig zum bestimmten Gedankenausdruck im Wort: sollte es aber einer höheren Organisation nicht vergönnt seyn, auch den Aether auf eine ähnliche Weise zu gestalten, wie der Mensch es jetzt durch die Sprache mit der Luft vermag?

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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 44. Stuttgart/Tübingen, 2. November 1856, S. 1045. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt44_1856/13>, abgerufen am 29.05.2024.