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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 44. Stuttgart/Tübingen, 2. November 1856.

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[Beginn Spaltensatz] der wir gegenwärtig häufiger begegnen, als uns lieb seyn
kann. Der sentimentale Pantheismus ist eine ganz parallele
Erscheinung zu dem ebenso landläufigen sentimentalen
Christianismus; im Einzelnen treffen auch beide oft so
genau zusammen, daß man sie, wenn man nicht den gan-
zen Zusammenhang kennt, schwer von einander unterschei-
den kann. Wenn wir z. B. bei Siebel so großes Gewicht
auf den Spruch gelegt sehen: Gott ist die Liebe, wenn
wir Stellen finden, wie diese:

Gott! du mußt dich selbst mir zeigen!
Mußt dich selbst an mir erfüllen!
Sieh'! ich geb' mich dir zu eigen,
Thu' mit mir nach deinem Willen! -- --
Nimm mir Alles hier auf Erden!
Hast du Alles mir genommen,
Laß mich wie die Kinder werden,
Und als Kindlein zu dir kommen!

so könnten wir leicht zu der Ansicht kommen, wir haben
hier einen jener zarten christlichen Sänger vor uns, wäh-
rend die Meinung doch eine ganz andere ist; gerade so
wie wenn wir S. 73 lesen:

Und hat das Herz den Glauben nicht --
Ja, wie dem Kinde geht's uns Allen.

Der Glaube, der dort gemeint wird, ist nämlich kein
anderer, als daß das Herz betrogen seyn will, daß es
etwas will, um sich darauf zu stützen, wie das Kind sich
nicht getraut zu gehen, ohne daß man ihm den Glauben
beibringt, die Mutter halte es immer noch am Gängel-
band:

Es will das Herz betrogen seyn,
Will bunten Stein und bunte Fetzen,
Will seinen Altar, seinen Stern,
Will seinen Gott und seinen Götzen.

Es wäre natürlich sehr unkritisch und sehr unästhetisch,
diesen Anschauungen gegenüber den Standpunkt des Po-
sitivismus geltend machen zu wollen. Man hat in unsern
Tagen genug zu thun, um sich der bei so vielen Dichtern
mehr und mehr auftauchenden religiösen Tendenzen zu er-
wehren. Aber das kann man sich nicht enthalten, diese
philosophischen, von nichts als Freiheit und reiner Mensch-
lichkeit träumenden Poeten zu fragen, ob sie denn gar
nicht einsehen, daß sie im Grunde nichts anderes thun,
als Dogma gegen Dogma setzen? Und zwar ist das ihrige
in der Regel ein so vages, abgeblaßtes, daß wir dem
poetischen Ausdruck eines positiven Mysticismus vielfach
werden den Vorzug geben müssen. Gibt es eine wirkliche
concrete Vorstellung, ist es ein plastisches poetisches Bild,
wenn der Dichter in seinem "Glaubensbekenntniß" von der
neuen Zeit, "in" die er hofft, sagt:

....... Jhr Arm ist Kraft!
Jhr Banner heißet Wissenschaft!
Jhr Losungswort: "Natur! Natur!"
Jhr Friedenswort: "Die Liebe nur!"
[Spaltenumbruch]

Das ist keine Poesie, es sind Tiraden, wie sie jeder phili-
sterhafte Aufklärungsheld in seiner Festrede anbringt;
Worte, nichts als Worte, die durch ihre Emphase sogar
einen komischen Eindruck machen können, sind die von dem
Dichter durch großen Druck besonders hervorgehobenen
Zeilen von dem Glauben

An jene Gottheit, die im Menschen wohnet,
An jene Gottheit, die in Palmen thronet.

Ein Druckfehler ohne Zweifel ist es, wenn es S. 62 heißt:

Ringe zur Vollendung! Bilde deinen Geist! -- --
Löse jede Bande, die ihn engt und hält,
Und er mag umfassen -- eine ganze Welt.

Ohne diese Annahme wäre der Vers hinsichtlich der Correktheit
des Verfassers in der unangenehmsten Weise präjudicirend.
Aber wenn wir auch statt Bande etwa Binde setzen, um
einen lesbaren Text herzustellen, so wird dadurch für den
Gedanken, für die Anschauung des Dichters wenig ge-
wonnen. Sein Standpunkt ist ein rein äußerlicher, po-
stulirender, und sein weltumfassendes Streben wird dadurch
keineswegs tiefer und poetisch erfüllter, daß er an diesen
von allen Banden befreiten Geist die Forderung stellt:

Doch wenn er allmächtig wie ein König thront,
So vergiß dein Herz nicht -- das im Hüttlein wohnt. -- --
Wahr' die zarte Blume -- die verborgen blüht,
Wahre deinen Frieden, wahre dein Gemüth!

Hier ist ja beides in seiner ganzen unvermittelten Un-
mittelbarkeit neben einander: der selbstgewisse Pantheis-
mus und die demüthige Sentimentalität, der krankhafte
Dualismus von Verstand und Gemüth.

Man wird sagen dürfen, daß es überhaupt und na-
mentlich heutzutage nicht wohl einen wahren Dichter geben
kann, der nicht dogmatisch frei wäre; die Weltanschauung
der besseren Dichter der Gegenwart ist wohl durchgängig
die des Pantheismus. Was nun aber den Dichter macht,
ist gerade das, daß er diese Anschauung nicht bloß als
eine äußerlich reflektirte, in doktrinären Worten und
Sätzen hat, sondern daß sie ihm, nach dem technischen
Ausdruck, flüssig geworden ist, daß er mit ihr die Gegen-
stände durchdringt, sie in concreten Jdeen, in kühnen Bil-
dern auszusprechen weiß. Die theoretische Erkenntniß muß
sich dem Dichter in einen allgemeinen Jdealismus auflösen,
damit aus diesem reinen Medium dann wieder lebendige,
erfüllte Gestalten bervorgehen können. Mit den bloßen
Worten bleibt Alles beim Alten. Da wird "der junge
Sohn, die neue Zeit," nicht geboren; es geht vielmehr
buchstäblich so, wie Siebel selbst in dem Gedicht "Dogmen"
sagt: das Kind baut sein Kartenhaus mit eines Meisters
wichtiger Geberde; schwer wird's ihm um's Herz, sieht es
sein herrlich großes Werk vernichten; aber bald tröstet es
sich, indem es ein neues Häuslein aufrichtet:

" Thörichtes Herz! und bau'st auf's neu'
Du wiederum auch hoch Gebäu',
Baust aus denselben Karten wieder."
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] der wir gegenwärtig häufiger begegnen, als uns lieb seyn
kann. Der sentimentale Pantheismus ist eine ganz parallele
Erscheinung zu dem ebenso landläufigen sentimentalen
Christianismus; im Einzelnen treffen auch beide oft so
genau zusammen, daß man sie, wenn man nicht den gan-
zen Zusammenhang kennt, schwer von einander unterschei-
den kann. Wenn wir z. B. bei Siebel so großes Gewicht
auf den Spruch gelegt sehen: Gott ist die Liebe, wenn
wir Stellen finden, wie diese:

Gott! du mußt dich selbst mir zeigen!
Mußt dich selbst an mir erfüllen!
Sieh'! ich geb' mich dir zu eigen,
Thu' mit mir nach deinem Willen! — —
Nimm mir Alles hier auf Erden!
Hast du Alles mir genommen,
Laß mich wie die Kinder werden,
Und als Kindlein zu dir kommen!

so könnten wir leicht zu der Ansicht kommen, wir haben
hier einen jener zarten christlichen Sänger vor uns, wäh-
rend die Meinung doch eine ganz andere ist; gerade so
wie wenn wir S. 73 lesen:

Und hat das Herz den Glauben nicht —
Ja, wie dem Kinde geht's uns Allen.

Der Glaube, der dort gemeint wird, ist nämlich kein
anderer, als daß das Herz betrogen seyn will, daß es
etwas will, um sich darauf zu stützen, wie das Kind sich
nicht getraut zu gehen, ohne daß man ihm den Glauben
beibringt, die Mutter halte es immer noch am Gängel-
band:

Es will das Herz betrogen seyn,
Will bunten Stein und bunte Fetzen,
Will seinen Altar, seinen Stern,
Will seinen Gott und seinen Götzen.

Es wäre natürlich sehr unkritisch und sehr unästhetisch,
diesen Anschauungen gegenüber den Standpunkt des Po-
sitivismus geltend machen zu wollen. Man hat in unsern
Tagen genug zu thun, um sich der bei so vielen Dichtern
mehr und mehr auftauchenden religiösen Tendenzen zu er-
wehren. Aber das kann man sich nicht enthalten, diese
philosophischen, von nichts als Freiheit und reiner Mensch-
lichkeit träumenden Poeten zu fragen, ob sie denn gar
nicht einsehen, daß sie im Grunde nichts anderes thun,
als Dogma gegen Dogma setzen? Und zwar ist das ihrige
in der Regel ein so vages, abgeblaßtes, daß wir dem
poetischen Ausdruck eines positiven Mysticismus vielfach
werden den Vorzug geben müssen. Gibt es eine wirkliche
concrete Vorstellung, ist es ein plastisches poetisches Bild,
wenn der Dichter in seinem „Glaubensbekenntniß“ von der
neuen Zeit, „in“ die er hofft, sagt:

....... Jhr Arm ist Kraft!
Jhr Banner heißet Wissenschaft!
Jhr Losungswort: „Natur! Natur!“
Jhr Friedenswort: „Die Liebe nur!“
[Spaltenumbruch]

Das ist keine Poesie, es sind Tiraden, wie sie jeder phili-
sterhafte Aufklärungsheld in seiner Festrede anbringt;
Worte, nichts als Worte, die durch ihre Emphase sogar
einen komischen Eindruck machen können, sind die von dem
Dichter durch großen Druck besonders hervorgehobenen
Zeilen von dem Glauben

An jene Gottheit, die im Menschen wohnet,
An jene Gottheit, die in Palmen thronet.

Ein Druckfehler ohne Zweifel ist es, wenn es S. 62 heißt:

Ringe zur Vollendung! Bilde deinen Geist! — —
Löse jede Bande, die ihn engt und hält,
Und er mag umfassen — eine ganze Welt.

Ohne diese Annahme wäre der Vers hinsichtlich der Correktheit
des Verfassers in der unangenehmsten Weise präjudicirend.
Aber wenn wir auch statt Bande etwa Binde setzen, um
einen lesbaren Text herzustellen, so wird dadurch für den
Gedanken, für die Anschauung des Dichters wenig ge-
wonnen. Sein Standpunkt ist ein rein äußerlicher, po-
stulirender, und sein weltumfassendes Streben wird dadurch
keineswegs tiefer und poetisch erfüllter, daß er an diesen
von allen Banden befreiten Geist die Forderung stellt:

Doch wenn er allmächtig wie ein König thront,
So vergiß dein Herz nicht — das im Hüttlein wohnt. — —
Wahr' die zarte Blume — die verborgen blüht,
Wahre deinen Frieden, wahre dein Gemüth!

Hier ist ja beides in seiner ganzen unvermittelten Un-
mittelbarkeit neben einander: der selbstgewisse Pantheis-
mus und die demüthige Sentimentalität, der krankhafte
Dualismus von Verstand und Gemüth.

Man wird sagen dürfen, daß es überhaupt und na-
mentlich heutzutage nicht wohl einen wahren Dichter geben
kann, der nicht dogmatisch frei wäre; die Weltanschauung
der besseren Dichter der Gegenwart ist wohl durchgängig
die des Pantheismus. Was nun aber den Dichter macht,
ist gerade das, daß er diese Anschauung nicht bloß als
eine äußerlich reflektirte, in doktrinären Worten und
Sätzen hat, sondern daß sie ihm, nach dem technischen
Ausdruck, flüssig geworden ist, daß er mit ihr die Gegen-
stände durchdringt, sie in concreten Jdeen, in kühnen Bil-
dern auszusprechen weiß. Die theoretische Erkenntniß muß
sich dem Dichter in einen allgemeinen Jdealismus auflösen,
damit aus diesem reinen Medium dann wieder lebendige,
erfüllte Gestalten bervorgehen können. Mit den bloßen
Worten bleibt Alles beim Alten. Da wird „der junge
Sohn, die neue Zeit,“ nicht geboren; es geht vielmehr
buchstäblich so, wie Siebel selbst in dem Gedicht „Dogmen“
sagt: das Kind baut sein Kartenhaus mit eines Meisters
wichtiger Geberde; schwer wird's ihm um's Herz, sieht es
sein herrlich großes Werk vernichten; aber bald tröstet es
sich, indem es ein neues Häuslein aufrichtet:

„ Thörichtes Herz! und bau'st auf's neu'
Du wiederum auch hoch Gebäu',
Baust aus denselben Karten wieder.“
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Sein Standpunkt ist ein rein äußerlicher, po- stulirender, und sein weltumfassendes Streben wird dadurch keineswegs tiefer und poetisch erfüllter, daß er an diesen von allen Banden befreiten Geist die Forderung stellt: Doch wenn er allmächtig wie ein König thront, So vergiß dein Herz nicht — das im Hüttlein wohnt. — — Wahr' die zarte Blume — die verborgen blüht, Wahre deinen Frieden, wahre dein Gemüth! Hier ist ja beides in seiner ganzen unvermittelten Un- mittelbarkeit neben einander: der selbstgewisse Pantheis- mus und die demüthige Sentimentalität, der krankhafte Dualismus von Verstand und Gemüth. Man wird sagen dürfen, daß es überhaupt und na- mentlich heutzutage nicht wohl einen wahren Dichter geben kann, der nicht dogmatisch frei wäre; die Weltanschauung der besseren Dichter der Gegenwart ist wohl durchgängig die des Pantheismus. 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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 44. Stuttgart/Tübingen, 2. November 1856, S. 1051. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt44_1856/19>, abgerufen am 03.12.2024.