Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 44. Stuttgart/Tübingen, 2. November 1856.[Beginn Spaltensatz]
Wolfgang Müller aus Königswinter.Traurig löst er ihn der Sünde, Die er oft und tief bereute, Sühnend für die Ewigkeiten Reicht er ihm den Leib des Herren. Marianna selber kniet Jm Gebet. Sie fleht zum Himmel, Daß er sich der armen Seele Väterlich erbarmen möge. So vertieft ist sie in Andacht, [Spaltenumbruch]
Daß sie nicht mehr sieht und höret, Wie die Sippen den Verbrecher An den nächsten Baumstamm fesseln. Schon erheben sie die Flinten, Sieben offne Röhren drohen, Da erwachet Marianna: "Haltet ein!" so ruft sie mächtig. "Tödtet nicht, Gott will die Gnade!" Und sie eilt zum Baum der Rache Und umschließet mit den Armen Weinend ihres Sohnes Mörder. "Gott befiehlt es, ich verzeihe! Hat zur unglückreichsten Mutter Er mich auch gemacht, ich schütz' ihn. Jch verzeihe, Gott befiehlt es!" Literatur. Neue Gedichte. Gedichte von Karl Siebel. Leipzig, 1856. Wie soll sich die Kritik der Masse von neuen Ge- Der erste, den wir in der Aufschrift genannt haben, [Beginn Spaltensatz]
Wolfgang Müller aus Königswinter.Traurig löst er ihn der Sünde, Die er oft und tief bereute, Sühnend für die Ewigkeiten Reicht er ihm den Leib des Herren. Marianna selber kniet Jm Gebet. Sie fleht zum Himmel, Daß er sich der armen Seele Väterlich erbarmen möge. So vertieft ist sie in Andacht, [Spaltenumbruch]
Daß sie nicht mehr sieht und höret, Wie die Sippen den Verbrecher An den nächsten Baumstamm fesseln. Schon erheben sie die Flinten, Sieben offne Röhren drohen, Da erwachet Marianna: „Haltet ein!“ so ruft sie mächtig. „Tödtet nicht, Gott will die Gnade!“ Und sie eilt zum Baum der Rache Und umschließet mit den Armen Weinend ihres Sohnes Mörder. „Gott befiehlt es, ich verzeihe! Hat zur unglückreichsten Mutter Er mich auch gemacht, ich schütz' ihn. Jch verzeihe, Gott befiehlt es!“ Literatur. Neue Gedichte. Gedichte von Karl Siebel. Leipzig, 1856. Wie soll sich die Kritik der Masse von neuen Ge- Der erste, den wir in der Aufschrift genannt haben, <TEI> <text> <body> <div type="jArticle" n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <pb facs="#f0018" n="1050"/> <fw type="pageNum" place="top">1050</fw> <cb type="start"/> <lg n="18"> <l>Traurig löst er ihn der Sünde,</l><lb/> <l>Die er oft und tief bereute,</l><lb/> <l>Sühnend für die Ewigkeiten</l><lb/> <l>Reicht er ihm den Leib des Herren.</l> </lg><lb/> <lg n="19"> <l>Marianna selber kniet</l><lb/> <l>Jm Gebet. 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Leipzig, 1856.<lb/><space dim="horizontal"/> Jesus von Nazareth. Ein Gedicht von Karl Siebel. Ebendaselbst.<lb/><space dim="horizontal"/> Triclinium. Jn drei Gesängen von Lola Milford. Weimar, 1856.</p> </argument><lb/> <cb type="start"/> <p>Wie soll sich die Kritik der Masse von neuen Ge-<lb/> dichten gegenüber verhalten, welche jedes Jahr in immer<lb/> gleicher, unerschöpflicher Fülle bringt? Ein Journal, dessen<lb/> Tendenz eine vorherrschend literarisch=kritische ist, bemüht<lb/> sich natürlich, daß ihm keine irgend erwähnenswerthe Er-<lb/> scheinung entgehe; es wird suchen ein möglichst vollständi-<lb/> ges Referat über alle neuen Bücher zu geben, deren es<lb/> habhaft werden kann und in aller Kürze ein Urtheil über<lb/> sie zu fällen, die einen in seinem Catalog schwarz, die<lb/> andern roth anzuzeichnen. Eine Zeitschrift, deren Auf-<lb/> gabe es ist, mehr eigene Beiträge zur schönen Literatur<lb/> zu geben, als fremde zu besprechen, kann eine solche<lb/> Vollständigkeit nicht anstreben; sie ist vielmehr darauf an-<lb/> gewiesen, einzelne bedeutende Erscheinungen herauszugrei-<lb/> fen und an ihnen den Gang, den die Entwicklung des<lb/> ästhetischen Geschmackes nimmt, zu verfolgen. Wenn aber<lb/> eine lange Zeit vergeht, ohne daß irgend etwas Vorzüg-<lb/> liches aufstößt — und es kann ja nicht anders seyn, als<lb/> daß manches Jahr vergeht, in welchem kein neues bedeu-<lb/> tendes Talent auftritt — was dann? 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Traurig löst er ihn der Sünde,
Die er oft und tief bereute,
Sühnend für die Ewigkeiten
Reicht er ihm den Leib des Herren.
Marianna selber kniet
Jm Gebet. Sie fleht zum Himmel,
Daß er sich der armen Seele
Väterlich erbarmen möge.
So vertieft ist sie in Andacht,
Daß sie nicht mehr sieht und höret,
Wie die Sippen den Verbrecher
An den nächsten Baumstamm fesseln.
Schon erheben sie die Flinten,
Sieben offne Röhren drohen,
Da erwachet Marianna:
„Haltet ein!“ so ruft sie mächtig.
„Tödtet nicht, Gott will die Gnade!“
Und sie eilt zum Baum der Rache
Und umschließet mit den Armen
Weinend ihres Sohnes Mörder.
„Gott befiehlt es, ich verzeihe!
Hat zur unglückreichsten Mutter
Er mich auch gemacht, ich schütz' ihn.
Jch verzeihe, Gott befiehlt es!“
Wolfgang Müller aus Königswinter.
Literatur.
Neue Gedichte.
Gedichte von Karl Siebel. Leipzig, 1856.
Jesus von Nazareth. Ein Gedicht von Karl Siebel. Ebendaselbst.
Triclinium. Jn drei Gesängen von Lola Milford. Weimar, 1856.
Wie soll sich die Kritik der Masse von neuen Ge-
dichten gegenüber verhalten, welche jedes Jahr in immer
gleicher, unerschöpflicher Fülle bringt? Ein Journal, dessen
Tendenz eine vorherrschend literarisch=kritische ist, bemüht
sich natürlich, daß ihm keine irgend erwähnenswerthe Er-
scheinung entgehe; es wird suchen ein möglichst vollständi-
ges Referat über alle neuen Bücher zu geben, deren es
habhaft werden kann und in aller Kürze ein Urtheil über
sie zu fällen, die einen in seinem Catalog schwarz, die
andern roth anzuzeichnen. Eine Zeitschrift, deren Auf-
gabe es ist, mehr eigene Beiträge zur schönen Literatur
zu geben, als fremde zu besprechen, kann eine solche
Vollständigkeit nicht anstreben; sie ist vielmehr darauf an-
gewiesen, einzelne bedeutende Erscheinungen herauszugrei-
fen und an ihnen den Gang, den die Entwicklung des
ästhetischen Geschmackes nimmt, zu verfolgen. Wenn aber
eine lange Zeit vergeht, ohne daß irgend etwas Vorzüg-
liches aufstößt — und es kann ja nicht anders seyn, als
daß manches Jahr vergeht, in welchem kein neues bedeu-
tendes Talent auftritt — was dann? Mit der oft wieder-
holten Klage über die allgemeine Mittelmäßigkeit, über
eine äußerliche Routine und einen damit verbundenen
Mangel an Kraft und Originalität, kann man sich nicht
begnügen; es bleibt daher nichts übrig, als das zunächst
Vorliegende zu nehmen, wie es eben ist, dieses dann aber
nicht bloß oberflächlich zu rubriciren, sondern an dem ein-
zelnen die allgemeinen Standpunkte zu zeichnen, die gerade
eine weitgreifende Bedeutung in der Literatur haben, um
so von dem einen aus eine Uebersicht über den Charakter
der ganzen Masse zu gewinnen. Jn dieser Absicht wählen
wir hier einige der neuesten Gedichte aus und wollen mit
ihnen nach den angegebenen Grundsätzen verfahren.
Der erste, den wir in der Aufschrift genannt haben,
ist Karl Siebel, von dem zwei Bücher zugleich vorlie-
gen, eine lyrische Sammlung und ein, wie man zu sagen
pflegt, episches Gedicht. Man kann nun nicht sagen, daß
diese Gedichte zu den ausgezeichnetsten gehören, so wenig
als man andererseits dem Dichter alles poetische Talent
absprechen darf, aber seinen ganzen Standpunkt, auf
den es uns vor allem ankommt, müssen wir als einen
verfehlten bezeichnen. Es ist dieß nämlich kein anderer
als der des sentimentalen Pantheismus, eine Richtung
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