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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 46. Stuttgart/Tübingen, 16. November 1856.

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[Beginn Spaltensatz] scheinloseste Wort durch den Gedanken zu schmücken, überall
seinen Styl charakterisirt; in Bezug auf "Traum und Er-
wachen " aber müssen wir noch gleich bemerken, daß wie
vollkommen dieses Gedicht allen Reiz einer solchen Bega-
bung in sich versammelt, es nicht bloß durch die Eigen-
thümlichkeit derselben, sondern auch durch unläugbare
Mängel, deren Ursache wir bereits angedeutet haben, die
erwähnte Auffassung Lügen straft. Zu deutlich tragen
die Gestalten und Vorgänge, denen wir hier begegnen,
die Spuren einer dem Gewand, in das sie gekleidet, dem
Boden, auf den sie gestellt sind, widerstreitenden Herkunft
an sich, als daß nicht der unüberwundene Zwang dieser
Combination hie und da selbst bis in die äußere Hand-
habung der metrischen Form hinein störend fühlbar würde.
Neben Strophen voll des bezauberndsten Wohllauts, mit
deren sanftem Flusse unsere Phantasie durch eine Welt
lieblicher Bilder dahin gleitet, macht uns das plötzliche
unwillkürliche Ausweichen in einen prosaischen Erzählungs-
ton stutzen, der schlechterdings nicht mehr der süßen Har-
monie der südlichen Maße und kaum noch dem Gesetz der
gebundenen Rede sich fügen will. -- Das neue, in der Auf-
schrift genannte Buch beleuchtet jetzt erst mit völliger
Klarheit die Empfindung, die sich bei der Lektüre von
"Traum und Erwachen" gemeldet hatte, da wir den Ueber-
gang zu einem Genre, dessen heimlich durchblickende Züge
dort mitten im Genuß wunderbarer Schönheiten uns ver-
stimmten, so erfolgreich vollzogen sehen. Abzuschätzen was
in andern Dichtgattungen, was namentlich im Drama
Grimm noch leisten wird, sind wir nicht gemeint, wenn
wir einstweilen aussprechen, daß die hier behandelten
Stoffe einer gewissen modernen Lebenssphäre mit seinem
Naturell sichtlich im geläufigsten Einklange liegen und
demnach die "Novellen," mehr als irgend eine der zuvor
publicirten Arbeiten, ihn ganz in seinem Elemente er-
scheinen lassen.

Die wahre Theilnahme für den Poeten beginnt, wo
er den Leser in einen Kreis von Erfahrungen hineinführt,
die als sein inneres Eigenthum sich dem Gefühl durch die
rechte Form zu erkennen geben. Aeußerlich genommen ist
dieser Kreis, wie ihn die fünf hier mitgetheilten Novellen
umfassen, nicht sehr weit gezogen, desto überraschender
aber beglaubigt sich eben an der Einfachheit der ziemlich
gleichartigen Sujets das Geschick der Conception und der
Reichthum der Anschauung. Herzenserlebnisse, deren
Gang allmählig und gleichsam unvermerkt zu bedeutenden
Wendungen hinlenkt, gestalten sich in einer das Haupt-
licht fast immer auf den Frauencharakter sammelnden
Darstellung zur merkwürdigsten Art von poetischer Casuistik
weiblicher Seelenzustände. Man muß den Geist bewun-
dern, der das im Grunde wenig veränderte Thema jedes-
mal mit gesteigerter Wirkung von einer neuen Seite faßt
und mit einer Fülle zart empfundener Details den Wandel
der menschlichen Stimmungen verfolgend uns innerhalb
des Bereiches, dessen Grenze wir längst abzusehen glaub-
ten, doch immer wieder unbetretene Gegenden öffnet. Aber
[Spaltenumbruch] man kann sich zuletzt gleichwohl auch nicht verhehlen, daß
aus all dieser reizenden Mannigfaltigkeit gewisse Eindrücke
bleiben, welche nur in einem schwachen Punkte der dich-
terischen Jndividualität ihre gemeinsame Erklärung finden.
Um denselben vorläufig ganz allgemein zu bezeichnen,
dürfen wir, ohne in den Sinn jener Urtheile darum ein-
zugehen, uns der Bemerkungen erinnern, mit denen
Grimms Formtalent in der Regel hervorgehoben wird.
Wir haben den stärksten Ton darauf gelegt, wie sehr es
über die bloße Beherrschung eines gleißenden, conventio-
nellen Apparats erhaben ist; dieß hindert uns nicht ein-
zuräumen, daß die Antriebe des Gemüths, welche man
bei einem jungen Dichter am wenigsten durch andere
Motive bedingt zu sehen wünscht, bei Grimm in den mei-
sten Fällen eigenthümlich gedämpft auftreten und über-
haupt vielfache Zurücksetzung erleiden, während den An-
forderungen des Geschmacks unter allen Umständen auf
die feinste Art volles Genüge geschieht.

Auffallend wirkt die wunderlich verkühlte Herzens-
temperatur, die wir in den "Novellen" allenthalben her-
auswittern, keineswegs dadurch, daß Grimm mit einer
gewissen pretiösen Aengstlichkeit, wie sie etwa bei Adalbert
Stifter und Theodor Storm in diesen Dingen waltet,
der offenen Schilderung leidenschaftlicher Gefühle aus dem
Wege ginge, sondern daß er vielmehr dieselben aufsuchend
im gelassensten Tone ihr vergebliches Streben nach Sätti-
gung malt und dem Bilde solcher Erregung das eines
halb nur sich hinneigenden, innerlich unberührten We-
sens, in dessen Charakteristik er eine wahrhaft erstaunliche
Meisterschaft an den Tag legt, mit entschiedener Vorliebe
gegenüber stellt. Gleich das erste Stück der Sammlung,
"die Sängerin" * betitelt, gibt ein scharf ausgeprägtes
Beispiel dieser Behandlungsweise. Neben der tiefen, ver-
zehrenden Glut des Marquis -- die Sängerin, die in der
ewigen neckenden Heiterkeit ihrer kühlen Freundschaft, un-
bekümmert um die Qualen ihres Opfers, recht den Typus
jener gefährlichen Frauennaturen wiederspiegelt, welche
mit Zaubergewalt alles, was ihnen naht, in ihre At-
mosphäre bannen und durch die scheinbare Unschuld ihrer
innerlich doch frivolen Existenz auch den ernsteren Mann
zu fesseln wissen, derweil sie selbst wie gefeit im lächeln-
den Genusse der sie umdrängenden Huldigungen dahin-
leben. Mit den Worten des Freundes, dem der Dichter
[Ende Spaltensatz]

* Grimm gibt der Heldin seiner auf dem Boden der Pa-
riser geistreichen Societät -- offenbar des achtzehnten Jahrhun-
derts -- sich bewegenden Geschichte den Namen: Manon de
Gaussin. Jst es nun auch für das poetische Jnteresse immer-
hin gleichgültig, so sieht man doch nicht recht ein, wozu gerade
unter diesem aus der galanten Theaterchronik jener Zeit so be-
kannten Namen eine Gestalt eingeführt wird, deren ganze Zeich-
nung von dem Verhalten und dem Schicksale der wirklichen
Trägerin desselben, wie man es in dem unterhaltenden Büchlein
von Ars e ne Houssaye, dem gegenwärtigen Direktor des Theatre
srancais: "Les comediennes d'autresois
, 1855," nachlesen
kann, das direkteste Gegentheil enthält.

[Beginn Spaltensatz] scheinloseste Wort durch den Gedanken zu schmücken, überall
seinen Styl charakterisirt; in Bezug auf „Traum und Er-
wachen “ aber müssen wir noch gleich bemerken, daß wie
vollkommen dieses Gedicht allen Reiz einer solchen Bega-
bung in sich versammelt, es nicht bloß durch die Eigen-
thümlichkeit derselben, sondern auch durch unläugbare
Mängel, deren Ursache wir bereits angedeutet haben, die
erwähnte Auffassung Lügen straft. Zu deutlich tragen
die Gestalten und Vorgänge, denen wir hier begegnen,
die Spuren einer dem Gewand, in das sie gekleidet, dem
Boden, auf den sie gestellt sind, widerstreitenden Herkunft
an sich, als daß nicht der unüberwundene Zwang dieser
Combination hie und da selbst bis in die äußere Hand-
habung der metrischen Form hinein störend fühlbar würde.
Neben Strophen voll des bezauberndsten Wohllauts, mit
deren sanftem Flusse unsere Phantasie durch eine Welt
lieblicher Bilder dahin gleitet, macht uns das plötzliche
unwillkürliche Ausweichen in einen prosaischen Erzählungs-
ton stutzen, der schlechterdings nicht mehr der süßen Har-
monie der südlichen Maße und kaum noch dem Gesetz der
gebundenen Rede sich fügen will. — Das neue, in der Auf-
schrift genannte Buch beleuchtet jetzt erst mit völliger
Klarheit die Empfindung, die sich bei der Lektüre von
„Traum und Erwachen“ gemeldet hatte, da wir den Ueber-
gang zu einem Genre, dessen heimlich durchblickende Züge
dort mitten im Genuß wunderbarer Schönheiten uns ver-
stimmten, so erfolgreich vollzogen sehen. Abzuschätzen was
in andern Dichtgattungen, was namentlich im Drama
Grimm noch leisten wird, sind wir nicht gemeint, wenn
wir einstweilen aussprechen, daß die hier behandelten
Stoffe einer gewissen modernen Lebenssphäre mit seinem
Naturell sichtlich im geläufigsten Einklange liegen und
demnach die „Novellen,“ mehr als irgend eine der zuvor
publicirten Arbeiten, ihn ganz in seinem Elemente er-
scheinen lassen.

Die wahre Theilnahme für den Poeten beginnt, wo
er den Leser in einen Kreis von Erfahrungen hineinführt,
die als sein inneres Eigenthum sich dem Gefühl durch die
rechte Form zu erkennen geben. Aeußerlich genommen ist
dieser Kreis, wie ihn die fünf hier mitgetheilten Novellen
umfassen, nicht sehr weit gezogen, desto überraschender
aber beglaubigt sich eben an der Einfachheit der ziemlich
gleichartigen Sujets das Geschick der Conception und der
Reichthum der Anschauung. Herzenserlebnisse, deren
Gang allmählig und gleichsam unvermerkt zu bedeutenden
Wendungen hinlenkt, gestalten sich in einer das Haupt-
licht fast immer auf den Frauencharakter sammelnden
Darstellung zur merkwürdigsten Art von poetischer Casuistik
weiblicher Seelenzustände. Man muß den Geist bewun-
dern, der das im Grunde wenig veränderte Thema jedes-
mal mit gesteigerter Wirkung von einer neuen Seite faßt
und mit einer Fülle zart empfundener Details den Wandel
der menschlichen Stimmungen verfolgend uns innerhalb
des Bereiches, dessen Grenze wir längst abzusehen glaub-
ten, doch immer wieder unbetretene Gegenden öffnet. Aber
[Spaltenumbruch] man kann sich zuletzt gleichwohl auch nicht verhehlen, daß
aus all dieser reizenden Mannigfaltigkeit gewisse Eindrücke
bleiben, welche nur in einem schwachen Punkte der dich-
terischen Jndividualität ihre gemeinsame Erklärung finden.
Um denselben vorläufig ganz allgemein zu bezeichnen,
dürfen wir, ohne in den Sinn jener Urtheile darum ein-
zugehen, uns der Bemerkungen erinnern, mit denen
Grimms Formtalent in der Regel hervorgehoben wird.
Wir haben den stärksten Ton darauf gelegt, wie sehr es
über die bloße Beherrschung eines gleißenden, conventio-
nellen Apparats erhaben ist; dieß hindert uns nicht ein-
zuräumen, daß die Antriebe des Gemüths, welche man
bei einem jungen Dichter am wenigsten durch andere
Motive bedingt zu sehen wünscht, bei Grimm in den mei-
sten Fällen eigenthümlich gedämpft auftreten und über-
haupt vielfache Zurücksetzung erleiden, während den An-
forderungen des Geschmacks unter allen Umständen auf
die feinste Art volles Genüge geschieht.

Auffallend wirkt die wunderlich verkühlte Herzens-
temperatur, die wir in den „Novellen“ allenthalben her-
auswittern, keineswegs dadurch, daß Grimm mit einer
gewissen pretiösen Aengstlichkeit, wie sie etwa bei Adalbert
Stifter und Theodor Storm in diesen Dingen waltet,
der offenen Schilderung leidenschaftlicher Gefühle aus dem
Wege ginge, sondern daß er vielmehr dieselben aufsuchend
im gelassensten Tone ihr vergebliches Streben nach Sätti-
gung malt und dem Bilde solcher Erregung das eines
halb nur sich hinneigenden, innerlich unberührten We-
sens, in dessen Charakteristik er eine wahrhaft erstaunliche
Meisterschaft an den Tag legt, mit entschiedener Vorliebe
gegenüber stellt. Gleich das erste Stück der Sammlung,
„die Sängerin“ * betitelt, gibt ein scharf ausgeprägtes
Beispiel dieser Behandlungsweise. Neben der tiefen, ver-
zehrenden Glut des Marquis — die Sängerin, die in der
ewigen neckenden Heiterkeit ihrer kühlen Freundschaft, un-
bekümmert um die Qualen ihres Opfers, recht den Typus
jener gefährlichen Frauennaturen wiederspiegelt, welche
mit Zaubergewalt alles, was ihnen naht, in ihre At-
mosphäre bannen und durch die scheinbare Unschuld ihrer
innerlich doch frivolen Existenz auch den ernsteren Mann
zu fesseln wissen, derweil sie selbst wie gefeit im lächeln-
den Genusse der sie umdrängenden Huldigungen dahin-
leben. Mit den Worten des Freundes, dem der Dichter
[Ende Spaltensatz]

* Grimm gibt der Heldin seiner auf dem Boden der Pa-
riser geistreichen Societät — offenbar des achtzehnten Jahrhun-
derts — sich bewegenden Geschichte den Namen: Manon de
Gaussin. Jst es nun auch für das poetische Jnteresse immer-
hin gleichgültig, so sieht man doch nicht recht ein, wozu gerade
unter diesem aus der galanten Theaterchronik jener Zeit so be-
kannten Namen eine Gestalt eingeführt wird, deren ganze Zeich-
nung von dem Verhalten und dem Schicksale der wirklichen
Trägerin desselben, wie man es in dem unterhaltenden Büchlein
von Ars è ne Houssaye, dem gegenwärtigen Direktor des Théàtre
ſrançais: »Les comédiennes d'autreſois
, 1855,« nachlesen
kann, das direkteste Gegentheil enthält.
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Neben der tiefen, ver- zehrenden Glut des Marquis — die Sängerin, die in der ewigen neckenden Heiterkeit ihrer kühlen Freundschaft, un- bekümmert um die Qualen ihres Opfers, recht den Typus jener gefährlichen Frauennaturen wiederspiegelt, welche mit Zaubergewalt alles, was ihnen naht, in ihre At- mosphäre bannen und durch die scheinbare Unschuld ihrer innerlich doch frivolen Existenz auch den ernsteren Mann zu fesseln wissen, derweil sie selbst wie gefeit im lächeln- den Genusse der sie umdrängenden Huldigungen dahin- leben. Mit den Worten des Freundes, dem der Dichter * Grimm gibt der Heldin seiner auf dem Boden der Pa- riser geistreichen Societät — offenbar des achtzehnten Jahrhun- derts — sich bewegenden Geschichte den Namen: Manon de Gaussin. 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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 46. Stuttgart/Tübingen, 16. November 1856, S. 1100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt46_1856/20>, abgerufen am 21.11.2024.