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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 46. Stuttgart/Tübingen, 16. November 1856.

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[Beginn Spaltensatz] Meister liebt den andern, gleichviel ob er Redner ist,
oder Künstler, oder Handwerker, oder König.

Die Gesellschaft hat in der That kein ernsteres
Anliegen, als das Wohlbefinden der gebildeten, unter-
richteten Classe, und man kann auch nicht läugnen,
daß die Menschen im Allgemeinen geistigen Vorzügen
wohlwollende Anerkennung entgegen bringen. Dennoch
hat der Schriftsteller bei uns keine achtunggebietende
Stellung. Jch denke, das ist seine eigene Schuld. Ein
Pfund gilt eben ein Pfund. Es gab Zeiten, wo er
eine geheiligte Person war; da schrieb er Bibeln, die
ersten Hymnen, die Gesetzbücher, Epopöen, Tragödien,
sibyllinische Verse, chaldäische Orakel, und versah Tem-
pelmauern mit lakonischen Sinnsprüchen. Jedes seiner
Worte war eine Wahrheit und seine Stimme weckte die
Völker zu neuem Leben. Was er schrieb, war nicht
leichtfertig, und doch nicht gewählt. Jedes seiner Worte
stand in Erde und Himmel eingegraben vor seinen
Blicken, und Sonne und Sterne waren ihm nur Schrift-
zeichen vom selben Sinn, und um nichts nothwendiger.
Aber wie soll man den ehren, der sich selbst nicht ehrt?
wenn er, im großen Haufen verloren, nicht mehr der
Gesetzgeber ist, sondern der Sykophant, der sich vor der
wetterwendischen Meinung einer gedankenlosen Menge bückt;
wenn er mit schamloser Sachwalterschaft eine schlechte
Regierung stützen oder das ganze Jahr hindurch in der
Opposition bellen muß; wenn er nach der Chablone
Kritiken oder unsittliche Romane schreibt; wenn er um
jeden Preis schreibt, schreibt, ohne zu denken, ohne sich
zurückzuwenden zu den Quellen der Begeisterung Tag
und Nacht?

Wohl mögen wir eine Antwort auf diese Fragen
erhalten, wenn wir die Reihe schriftstellererischer Genien
unseres Zeitalters überblicken. Und da tritt uns kein
lehrreicherer Name entgegen als der Goethes, um die
Macht und die Pflichten des Schriftstellers zu veran-
schaulichen.

Jch habe Bonaparte geschildert als den Typus des
äußerlichen Volkslebens und Strebens des neunzehnten
Jahrhunderts. Die andere Halbscheid desselben, sein
Dichter, ist Goethe; ein Mann, so ganz zu Hause im
Jahrhundert, seine Luft athmend, seine Früchte ge-
nießend, unmöglich in jedem früheren Zeitpunkt; der
Mann, der durch seine übermächtigen Gaben seine Zeit
vom Vorwurf der Schwäche loskaufte, der ohne ihn
ihren Geisteswerken anklebte. Er tritt auf, als sich die
Bildung allgemein verbreitet und alle schroffen indivi-
duellen Züge abgeglättet hat, als in Ermanglung hel-
denhafter Charaktere geselliges Behagen und Zusammen-
wirken eingezogen ist. Da gibt es keinen Dichter mehr,
wohl aber Dutzende von poetischen Schriftstellern, kei-
[Spaltenumbruch] nen Columbus, aber hunderte von Postkapitänen mit
Passageinstrumenten, Barometern, eingekochter Suppe und
conservirtem Fleisch; keinen Demosthenes, keinen Cha-
tham, aber eine Unzahl gescheiter parlamentarischer und
forensischer Wortführer; keine Propheten oder Heiligen,
aber Fakultäten der Gottesgelehrtheit; keine gelehrten
Männer, aber dafür gelehrte Gesellschaften, eine wohl-
feile Presse, Lesezimmer, Bücherclubs ohne Zahl. Nie
hat man noch ein solches Vielerlei von Dingen bei-
sammen gesehen. Die Welt dehnt sich aus, wie der
amerikanische Handel. Das griechische und römische
Leben, das Leben des Mittelalters ist für unsern Be-
griff ein einfaches, übersichtliches, das moderne Leben
dagegen ein Wirrwarr, in dem sich keiner zurecht findet.

Goethe war der Philosoph dieser Mannigfaltigkeit;
hunderthändig, argusaugig, geschaffen, es mit solch
buntbewegtem Vielerlei von Stoffen und Wissenschaften
aufzunehmen, und vermöge seiner eigenen Versati-
lität fähig sich mit Leichtigkeit damit abzufinden;
ein männlicher Geist, der, unbeirrt durch die vielerlei
conventionellen Hüllen, mit denen das Leben sich über-
zogen hatte, sie mit der Schärfe seines Geistes geradezu
durchdrang und aus der Natur seine Kräfte zog, mit
der er in voller Gemeinschaft stand. Und wie seltsam
dabei: er lebte in einer kleinen Stadt, in einem win-
zigen, herabgekommenen Staate, und zu einer Zeit, wo
Deutschland keineswegs eine so gebietende Rolle in den
Welthändeln spielte, daß die Brust seiner Söhne sich
mit vaterlandsstolzem Bewußtseyn hätte heben können,
wie die eines Engländers oder Franzosen, oder einst
eines Griechen und Römers. Und dennoch zeigt seine
Muse keine Spur provinzieller Beschränktheit. Er ist
nicht der Schuldner seiner Stellung, er war mit einem
freien, gebietenden Geiste geboren.

Die Helena oder der zweite Theil des Faust ist
eine in Poesie gesetzte Philosophie der Literatur. Es
ist das Werk eines Mannes, der sich in Geschichte,
Mythologie, Philosophie, in allen Wissenschaften und
Nationalliteraturen völlig heimisch fühlte, der durch-
drungen war von jener allumfassenden modernen Bil-
dung, welche alle Zeiten und Völker in ihr Bereich zieht
und indische, hetrurische und was alles für cyclopische
Kunst, Geologie, Chemie, Astronomie studirt. Es sind
aber keine phantastischen, mährchenhaften Gesänge, es sind
scharf umrissene Gestalten, die Früchte achtzigjähriger
Beobachtung des Dichters. Diese reflektirende, kritische
Weisheit macht das Werk recht eigentlich zur Blüthe
des Zeitalters. Es trägt sein Datum an der Stirne.
Und dennoch ist Goethe ein Dichter -- ein Dichter
von stolzerem Lorbeer als irgend einer seiner Zeitge-
nossen, und bei all dieser leidigen Mikroscopie ( denn
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] Meister liebt den andern, gleichviel ob er Redner ist,
oder Künstler, oder Handwerker, oder König.

Die Gesellschaft hat in der That kein ernsteres
Anliegen, als das Wohlbefinden der gebildeten, unter-
richteten Classe, und man kann auch nicht läugnen,
daß die Menschen im Allgemeinen geistigen Vorzügen
wohlwollende Anerkennung entgegen bringen. Dennoch
hat der Schriftsteller bei uns keine achtunggebietende
Stellung. Jch denke, das ist seine eigene Schuld. Ein
Pfund gilt eben ein Pfund. Es gab Zeiten, wo er
eine geheiligte Person war; da schrieb er Bibeln, die
ersten Hymnen, die Gesetzbücher, Epopöen, Tragödien,
sibyllinische Verse, chaldäische Orakel, und versah Tem-
pelmauern mit lakonischen Sinnsprüchen. Jedes seiner
Worte war eine Wahrheit und seine Stimme weckte die
Völker zu neuem Leben. Was er schrieb, war nicht
leichtfertig, und doch nicht gewählt. Jedes seiner Worte
stand in Erde und Himmel eingegraben vor seinen
Blicken, und Sonne und Sterne waren ihm nur Schrift-
zeichen vom selben Sinn, und um nichts nothwendiger.
Aber wie soll man den ehren, der sich selbst nicht ehrt?
wenn er, im großen Haufen verloren, nicht mehr der
Gesetzgeber ist, sondern der Sykophant, der sich vor der
wetterwendischen Meinung einer gedankenlosen Menge bückt;
wenn er mit schamloser Sachwalterschaft eine schlechte
Regierung stützen oder das ganze Jahr hindurch in der
Opposition bellen muß; wenn er nach der Chablone
Kritiken oder unsittliche Romane schreibt; wenn er um
jeden Preis schreibt, schreibt, ohne zu denken, ohne sich
zurückzuwenden zu den Quellen der Begeisterung Tag
und Nacht?

Wohl mögen wir eine Antwort auf diese Fragen
erhalten, wenn wir die Reihe schriftstellererischer Genien
unseres Zeitalters überblicken. Und da tritt uns kein
lehrreicherer Name entgegen als der Goethes, um die
Macht und die Pflichten des Schriftstellers zu veran-
schaulichen.

Jch habe Bonaparte geschildert als den Typus des
äußerlichen Volkslebens und Strebens des neunzehnten
Jahrhunderts. Die andere Halbscheid desselben, sein
Dichter, ist Goethe; ein Mann, so ganz zu Hause im
Jahrhundert, seine Luft athmend, seine Früchte ge-
nießend, unmöglich in jedem früheren Zeitpunkt; der
Mann, der durch seine übermächtigen Gaben seine Zeit
vom Vorwurf der Schwäche loskaufte, der ohne ihn
ihren Geisteswerken anklebte. Er tritt auf, als sich die
Bildung allgemein verbreitet und alle schroffen indivi-
duellen Züge abgeglättet hat, als in Ermanglung hel-
denhafter Charaktere geselliges Behagen und Zusammen-
wirken eingezogen ist. Da gibt es keinen Dichter mehr,
wohl aber Dutzende von poetischen Schriftstellern, kei-
[Spaltenumbruch] nen Columbus, aber hunderte von Postkapitänen mit
Passageinstrumenten, Barometern, eingekochter Suppe und
conservirtem Fleisch; keinen Demosthenes, keinen Cha-
tham, aber eine Unzahl gescheiter parlamentarischer und
forensischer Wortführer; keine Propheten oder Heiligen,
aber Fakultäten der Gottesgelehrtheit; keine gelehrten
Männer, aber dafür gelehrte Gesellschaften, eine wohl-
feile Presse, Lesezimmer, Bücherclubs ohne Zahl. Nie
hat man noch ein solches Vielerlei von Dingen bei-
sammen gesehen. Die Welt dehnt sich aus, wie der
amerikanische Handel. Das griechische und römische
Leben, das Leben des Mittelalters ist für unsern Be-
griff ein einfaches, übersichtliches, das moderne Leben
dagegen ein Wirrwarr, in dem sich keiner zurecht findet.

Goethe war der Philosoph dieser Mannigfaltigkeit;
hunderthändig, argusaugig, geschaffen, es mit solch
buntbewegtem Vielerlei von Stoffen und Wissenschaften
aufzunehmen, und vermöge seiner eigenen Versati-
lität fähig sich mit Leichtigkeit damit abzufinden;
ein männlicher Geist, der, unbeirrt durch die vielerlei
conventionellen Hüllen, mit denen das Leben sich über-
zogen hatte, sie mit der Schärfe seines Geistes geradezu
durchdrang und aus der Natur seine Kräfte zog, mit
der er in voller Gemeinschaft stand. Und wie seltsam
dabei: er lebte in einer kleinen Stadt, in einem win-
zigen, herabgekommenen Staate, und zu einer Zeit, wo
Deutschland keineswegs eine so gebietende Rolle in den
Welthändeln spielte, daß die Brust seiner Söhne sich
mit vaterlandsstolzem Bewußtseyn hätte heben können,
wie die eines Engländers oder Franzosen, oder einst
eines Griechen und Römers. Und dennoch zeigt seine
Muse keine Spur provinzieller Beschränktheit. Er ist
nicht der Schuldner seiner Stellung, er war mit einem
freien, gebietenden Geiste geboren.

Die Helena oder der zweite Theil des Faust ist
eine in Poesie gesetzte Philosophie der Literatur. Es
ist das Werk eines Mannes, der sich in Geschichte,
Mythologie, Philosophie, in allen Wissenschaften und
Nationalliteraturen völlig heimisch fühlte, der durch-
drungen war von jener allumfassenden modernen Bil-
dung, welche alle Zeiten und Völker in ihr Bereich zieht
und indische, hetrurische und was alles für cyclopische
Kunst, Geologie, Chemie, Astronomie studirt. Es sind
aber keine phantastischen, mährchenhaften Gesänge, es sind
scharf umrissene Gestalten, die Früchte achtzigjähriger
Beobachtung des Dichters. Diese reflektirende, kritische
Weisheit macht das Werk recht eigentlich zur Blüthe
des Zeitalters. Es trägt sein Datum an der Stirne.
Und dennoch ist Goethe ein Dichter — ein Dichter
von stolzerem Lorbeer als irgend einer seiner Zeitge-
nossen, und bei all dieser leidigen Mikroscopie ( denn
[Ende Spaltensatz]

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Da gibt es keinen Dichter mehr, wohl aber Dutzende von poetischen Schriftstellern, kei- nen Columbus, aber hunderte von Postkapitänen mit Passageinstrumenten, Barometern, eingekochter Suppe und conservirtem Fleisch; keinen Demosthenes, keinen Cha- tham, aber eine Unzahl gescheiter parlamentarischer und forensischer Wortführer; keine Propheten oder Heiligen, aber Fakultäten der Gottesgelehrtheit; keine gelehrten Männer, aber dafür gelehrte Gesellschaften, eine wohl- feile Presse, Lesezimmer, Bücherclubs ohne Zahl. Nie hat man noch ein solches Vielerlei von Dingen bei- sammen gesehen. Die Welt dehnt sich aus, wie der amerikanische Handel. Das griechische und römische Leben, das Leben des Mittelalters ist für unsern Be- griff ein einfaches, übersichtliches, das moderne Leben dagegen ein Wirrwarr, in dem sich keiner zurecht findet. 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Er ist nicht der Schuldner seiner Stellung, er war mit einem freien, gebietenden Geiste geboren. Die Helena oder der zweite Theil des Faust ist eine in Poesie gesetzte Philosophie der Literatur. Es ist das Werk eines Mannes, der sich in Geschichte, Mythologie, Philosophie, in allen Wissenschaften und Nationalliteraturen völlig heimisch fühlte, der durch- drungen war von jener allumfassenden modernen Bil- dung, welche alle Zeiten und Völker in ihr Bereich zieht und indische, hetrurische und was alles für cyclopische Kunst, Geologie, Chemie, Astronomie studirt. Es sind aber keine phantastischen, mährchenhaften Gesänge, es sind scharf umrissene Gestalten, die Früchte achtzigjähriger Beobachtung des Dichters. Diese reflektirende, kritische Weisheit macht das Werk recht eigentlich zur Blüthe des Zeitalters. Es trägt sein Datum an der Stirne. 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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 46. Stuttgart/Tübingen, 16. November 1856, S. 1084. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt46_1856/4>, abgerufen am 21.11.2024.