Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 46. Stuttgart/Tübingen, 16. November 1856.

Bild:
<< vorherige Seite

[Beginn Spaltensatz] jede Pore seiner Haut scheint ein Auge zu seyn ) schlägt
er die Harfe mit der Kraft und Anmuth des Helden.

Das Wunderbare an diesem Buch ist der über-
wältigende Verstand darin. Vergangenheit und Gegen-
wart, alle Religionen, Staatsformen, Denkweisen lösen
sich in dieses Mannes Geist auf und schießen als Ty-
pen und Jdeen an. Und was für nagelneue Mytho-
logien ihm durch den Kopf ziehen! Die Griechen
sagten, Alexander sey bis zum Chaos vorgedrungen;
Goethe kam, erst gestern, eben so weit, ja er wagte
sich noch einen Schritt weiter, und kam wohlbehalten
zurück.

Jn seinem Gedankenzuge waltet eine herzerquickende
Freiheit. Der ungeheure Horizont, der mit uns vor-
rückt, verbreitet seine Majestät über Kleinigkeiten, über
Gegenstände des Herkommens und Bedürfnisses, wie
über feierliche und festliche Vorgänge. Er war die
Seele seines Jahrhunderts. War dieses gelehrt, war
es durch dichte Bevölkerung, compacte Organisation und
Uebung der Talente zu Einer großen Entdeckungs-
expedition geworden, welche eine solche Ueberfülle von
Thatsachen und Ergebnissen zusammenhäuft, daß sie bis
dahin kein lebender "Savant" zu classificiren vermochte,
so waren in dieses Mannes Geist Fächer genug, um
Alles unterzubringen. Jhm war es gegeben, die ge-
trennten Atome, nach dem ihnen inwohnenden Gesetz
selbst, wieder zu vereinigen. Unsere moderne Existenz
umkleidete er mit Poesie. Unter Kleinlichkeit und Zer-
splitterung entdeckte er den Genius des Lebens, den
alten listigen Proteus, der sich an unsere Fersen nestelt;
er zeigte, daß Prosa und Stumpfheit, die wir unserer
Zeit zuschreiben, nur wieder eine Maske desselben ist:

His very flight is presence in disguise; *

daß er seine glänzende Tracht jetzt nur mit einem All-
tagsrock vertauscht hat und um kein Haar weniger
reich und lebendig ist zu Liverpool oder im Haag, als
er einst in Rom oder Antiochien gewesen. Er suchte
ihn auf öffentlichen Plätzen und Boulevards, in Haupt-
straßen und Palästen; im grobsinnlichsten Bereich des
Alltagslebens entdeckte er die lauernde dämonische Kraft;
er zeigte, wie durch das gemeinste Thun ein mythischer,
fabelhafter Faden sich fortspinnt, und all dieß, indem
er den Stammbaum jedes Brauchs, jeder Staats= und
Lebensform, jedes Geräthes hinauf bis zu seinem Ur-
sprung aus dem Wesen des Menschen verfolgte. Con-
[Spaltenumbruch] jecturen und rednerische Floskeln waren ihm höchlich
zuwider: "Jch habe an mir selbst genug zu rathen.
Wenn einer ein Buch schreibt, soll er nur geben, was
er weiß." Sein Styl ist vollkommen klar und einfach;
er verschweigt viel mehr, als er sagt, und setzt immer
eine Realität statt eines Worts. Er hat den Unter-
schied zwischen antikem und modernem Geist, antiker
und moderner Kunst durchdrungen, er hat das Wesen
der Kunst, ihren Zweck, ihre Gesetze ausgesprochen;
er hat das Beste über die Natur gesagt, was je gesagt
worden. Er faßt die Natur an, wie die alten Philosophen,
wie die sieben weisen Meister, und was auch dabei an
französischem Zergliederungs= und Classificationswesen
in die Brüche gehen mag, Poesie und Humanität sind
uns unverkümmert. Für das Ganze ist das bloße Auge
besser als Telescop und Microscop. -- Durch den seltenen
Zug seines Geistes zur Einheit und Einfachheit hat er
mehr als ein Gebiet der Natur aufgeschlossen. So ging
von Goethe der oberste Gedanke der heutigen Botanik
aus, daß das Blatt oder die Blattknospe die Grundform
des ganzen Gewächses ist, daß jeder Theil der Pflanze
nur ein umgewandeltes Blatt ist, das einer neuen Be-
dingung entspricht, und indem die Bedingungen wech-
seln, das Blatt sich in jedes andere Organ umwan-
deln und jedes andere Organ zum Blatt werden kann.
Jn der Lehre vom thierischen Bau sprach er in ähn-
licher Weise aus, daß der Wirbel als Grundform des
Skeletts zu betrachten ist; der Kopf ist nach dieser An-
schauung nur der umgestaltete oberste Wirbel. Die
Pflanze rückt fort von Knoten zu Knoten und schließt
zuletzt mit der Blüthe und dem Samen. So wächst der
Bandwurm, die Raupe von Knoten zu Knoten und
schließt mit dem Kopf ab. Der Mensch und die höheren
Thiere sind aus Wirbeln aufgebaut, und die Lebens-
kräfte strahlen im Haupte zusammen. Jn der Optik
verwarf er die künstliche Theorie der sieben Farben;
nach seinem Begriff ist jede Farbe eine Mischung von
Licht und Dunkel in wechselndem Verhältniß. -- Es
kommt wirklich wenig darauf an, über was er schreibt.
Er sieht mit jeder Pore und gravitirt gleichsam gegen
die Wahrheit. Er realisirt so zu sagen Alles. Es ist
ihm verhaßt, wenn er ein Alteweibermährchen, an das
die Menschen tausend Jahre geglaubt, wieder nachsagen
soll. Sey es was es sey, er sieht zu, ob es wahr ist,
er geht ihm zu Leibe; es ist als ob er sagte: "Jch bin
da, Maß und Richter dieser Dinge zu seyn. Warum
soll ich sie auf Treu und Glauben hinnehmen?" Darum
prägen sich auch seine Worte so tief ein; was er über
Religion, Leidenschaft, Ehe, Sitten, Eigenthum, Pa-
piergeld, Glaubensperioden, Vorbedeutungen, Glück und
so vieles sonst sagt, es bleibt uns alles unvergeßlich.

[Ende Spaltensatz]
* " Scheint er zu flieh'n, so weilt er in Verkleidung."
Aus Elisabeth Barret Brownings dramatischem Gedicht
Prometheus.
   A. d. U.

[Beginn Spaltensatz] jede Pore seiner Haut scheint ein Auge zu seyn ) schlägt
er die Harfe mit der Kraft und Anmuth des Helden.

Das Wunderbare an diesem Buch ist der über-
wältigende Verstand darin. Vergangenheit und Gegen-
wart, alle Religionen, Staatsformen, Denkweisen lösen
sich in dieses Mannes Geist auf und schießen als Ty-
pen und Jdeen an. Und was für nagelneue Mytho-
logien ihm durch den Kopf ziehen! Die Griechen
sagten, Alexander sey bis zum Chaos vorgedrungen;
Goethe kam, erst gestern, eben so weit, ja er wagte
sich noch einen Schritt weiter, und kam wohlbehalten
zurück.

Jn seinem Gedankenzuge waltet eine herzerquickende
Freiheit. Der ungeheure Horizont, der mit uns vor-
rückt, verbreitet seine Majestät über Kleinigkeiten, über
Gegenstände des Herkommens und Bedürfnisses, wie
über feierliche und festliche Vorgänge. Er war die
Seele seines Jahrhunderts. War dieses gelehrt, war
es durch dichte Bevölkerung, compacte Organisation und
Uebung der Talente zu Einer großen Entdeckungs-
expedition geworden, welche eine solche Ueberfülle von
Thatsachen und Ergebnissen zusammenhäuft, daß sie bis
dahin kein lebender „Savant“ zu classificiren vermochte,
so waren in dieses Mannes Geist Fächer genug, um
Alles unterzubringen. Jhm war es gegeben, die ge-
trennten Atome, nach dem ihnen inwohnenden Gesetz
selbst, wieder zu vereinigen. Unsere moderne Existenz
umkleidete er mit Poesie. Unter Kleinlichkeit und Zer-
splitterung entdeckte er den Genius des Lebens, den
alten listigen Proteus, der sich an unsere Fersen nestelt;
er zeigte, daß Prosa und Stumpfheit, die wir unserer
Zeit zuschreiben, nur wieder eine Maske desselben ist:

His very flight is presence in disguise; *

daß er seine glänzende Tracht jetzt nur mit einem All-
tagsrock vertauscht hat und um kein Haar weniger
reich und lebendig ist zu Liverpool oder im Haag, als
er einst in Rom oder Antiochien gewesen. Er suchte
ihn auf öffentlichen Plätzen und Boulevards, in Haupt-
straßen und Palästen; im grobsinnlichsten Bereich des
Alltagslebens entdeckte er die lauernde dämonische Kraft;
er zeigte, wie durch das gemeinste Thun ein mythischer,
fabelhafter Faden sich fortspinnt, und all dieß, indem
er den Stammbaum jedes Brauchs, jeder Staats= und
Lebensform, jedes Geräthes hinauf bis zu seinem Ur-
sprung aus dem Wesen des Menschen verfolgte. Con-
[Spaltenumbruch] jecturen und rednerische Floskeln waren ihm höchlich
zuwider: „Jch habe an mir selbst genug zu rathen.
Wenn einer ein Buch schreibt, soll er nur geben, was
er weiß.“ Sein Styl ist vollkommen klar und einfach;
er verschweigt viel mehr, als er sagt, und setzt immer
eine Realität statt eines Worts. Er hat den Unter-
schied zwischen antikem und modernem Geist, antiker
und moderner Kunst durchdrungen, er hat das Wesen
der Kunst, ihren Zweck, ihre Gesetze ausgesprochen;
er hat das Beste über die Natur gesagt, was je gesagt
worden. Er faßt die Natur an, wie die alten Philosophen,
wie die sieben weisen Meister, und was auch dabei an
französischem Zergliederungs= und Classificationswesen
in die Brüche gehen mag, Poesie und Humanität sind
uns unverkümmert. Für das Ganze ist das bloße Auge
besser als Telescop und Microscop. — Durch den seltenen
Zug seines Geistes zur Einheit und Einfachheit hat er
mehr als ein Gebiet der Natur aufgeschlossen. So ging
von Goethe der oberste Gedanke der heutigen Botanik
aus, daß das Blatt oder die Blattknospe die Grundform
des ganzen Gewächses ist, daß jeder Theil der Pflanze
nur ein umgewandeltes Blatt ist, das einer neuen Be-
dingung entspricht, und indem die Bedingungen wech-
seln, das Blatt sich in jedes andere Organ umwan-
deln und jedes andere Organ zum Blatt werden kann.
Jn der Lehre vom thierischen Bau sprach er in ähn-
licher Weise aus, daß der Wirbel als Grundform des
Skeletts zu betrachten ist; der Kopf ist nach dieser An-
schauung nur der umgestaltete oberste Wirbel. Die
Pflanze rückt fort von Knoten zu Knoten und schließt
zuletzt mit der Blüthe und dem Samen. So wächst der
Bandwurm, die Raupe von Knoten zu Knoten und
schließt mit dem Kopf ab. Der Mensch und die höheren
Thiere sind aus Wirbeln aufgebaut, und die Lebens-
kräfte strahlen im Haupte zusammen. Jn der Optik
verwarf er die künstliche Theorie der sieben Farben;
nach seinem Begriff ist jede Farbe eine Mischung von
Licht und Dunkel in wechselndem Verhältniß. — Es
kommt wirklich wenig darauf an, über was er schreibt.
Er sieht mit jeder Pore und gravitirt gleichsam gegen
die Wahrheit. Er realisirt so zu sagen Alles. Es ist
ihm verhaßt, wenn er ein Alteweibermährchen, an das
die Menschen tausend Jahre geglaubt, wieder nachsagen
soll. Sey es was es sey, er sieht zu, ob es wahr ist,
er geht ihm zu Leibe; es ist als ob er sagte: „Jch bin
da, Maß und Richter dieser Dinge zu seyn. Warum
soll ich sie auf Treu und Glauben hinnehmen?“ Darum
prägen sich auch seine Worte so tief ein; was er über
Religion, Leidenschaft, Ehe, Sitten, Eigenthum, Pa-
piergeld, Glaubensperioden, Vorbedeutungen, Glück und
so vieles sonst sagt, es bleibt uns alles unvergeßlich.

[Ende Spaltensatz]
* „ Scheint er zu flieh'n, so weilt er in Verkleidung.“
Aus Elisabeth Barret Brownings dramatischem Gedicht
Prometheus.
   A. d. U.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="jArticle" n="1">
        <p><pb facs="#f0005" n="1085"/><fw type="pageNum" place="top">1085</fw><cb type="start"/>
jede Pore seiner Haut scheint ein Auge zu seyn ) schlägt<lb/>
er die Harfe mit der Kraft und Anmuth des Helden.</p><lb/>
        <p>Das Wunderbare an diesem Buch ist der über-<lb/>
wältigende Verstand darin. Vergangenheit und Gegen-<lb/>
wart, alle Religionen, Staatsformen, Denkweisen lösen<lb/>
sich in dieses Mannes Geist auf und schießen als Ty-<lb/>
pen und Jdeen an. Und was für nagelneue Mytho-<lb/>
logien ihm durch den Kopf ziehen! Die Griechen<lb/>
sagten, Alexander sey bis zum Chaos vorgedrungen;<lb/>
Goethe kam, erst gestern, eben so weit, ja er wagte<lb/>
sich noch einen Schritt weiter, und kam wohlbehalten<lb/>
zurück.</p><lb/>
        <p>Jn seinem Gedankenzuge waltet eine herzerquickende<lb/>
Freiheit. Der ungeheure Horizont, der mit uns vor-<lb/>
rückt, verbreitet seine Majestät über Kleinigkeiten, über<lb/>
Gegenstände des Herkommens und Bedürfnisses, wie<lb/>
über feierliche und festliche Vorgänge. Er war die<lb/>
Seele seines Jahrhunderts. War dieses gelehrt, war<lb/>
es durch dichte Bevölkerung, compacte Organisation und<lb/>
Uebung der Talente zu Einer großen Entdeckungs-<lb/>
expedition geworden, welche eine solche Ueberfülle von<lb/>
Thatsachen und Ergebnissen zusammenhäuft, daß sie bis<lb/>
dahin kein lebender &#x201E;Savant&#x201C; zu classificiren vermochte,<lb/>
so waren in dieses Mannes Geist Fächer genug, um<lb/>
Alles unterzubringen. Jhm war es gegeben, die ge-<lb/>
trennten Atome, nach dem ihnen inwohnenden Gesetz<lb/>
selbst, wieder zu vereinigen. Unsere moderne Existenz<lb/>
umkleidete er mit Poesie. Unter Kleinlichkeit und Zer-<lb/>
splitterung entdeckte er den Genius des Lebens, den<lb/>
alten listigen Proteus, der sich an unsere Fersen nestelt;<lb/>
er zeigte, daß Prosa und Stumpfheit, die wir unserer<lb/>
Zeit zuschreiben, nur wieder eine Maske desselben ist:</p><lb/>
        <quote><hi rendition="#aq">His very flight is presence in disguise</hi>; <note place="foot" n="*">&#x201E; Scheint er zu flieh'n, so weilt er in Verkleidung.&#x201C;<lb/>
Aus Elisabeth Barret Brownings dramatischem Gedicht<lb/>
Prometheus.<lb/><space dim="horizontal"/>A. d. U.</note></quote><lb/>
        <p>daß er seine glänzende Tracht jetzt nur mit einem All-<lb/>
tagsrock vertauscht hat und um kein Haar weniger<lb/>
reich und lebendig ist zu Liverpool oder im Haag, als<lb/>
er einst in Rom oder Antiochien gewesen. Er suchte<lb/>
ihn auf öffentlichen Plätzen und Boulevards, in Haupt-<lb/>
straßen und Palästen; im grobsinnlichsten Bereich des<lb/>
Alltagslebens entdeckte er die lauernde dämonische Kraft;<lb/>
er zeigte, wie durch das gemeinste Thun ein mythischer,<lb/>
fabelhafter Faden sich fortspinnt, und all dieß, indem<lb/>
er den Stammbaum jedes Brauchs, jeder Staats= und<lb/>
Lebensform, jedes Geräthes hinauf bis zu seinem Ur-<lb/>
sprung aus dem Wesen des Menschen verfolgte. Con-<lb/><cb n="2"/>
jecturen und rednerische Floskeln waren ihm höchlich<lb/>
zuwider: &#x201E;Jch habe an mir selbst genug zu rathen.<lb/>
Wenn einer ein Buch schreibt, soll er nur geben, was<lb/>
er weiß.&#x201C; Sein Styl ist vollkommen klar und einfach;<lb/>
er verschweigt viel mehr, als er sagt, und setzt immer<lb/>
eine Realität statt eines Worts. Er hat den Unter-<lb/>
schied zwischen antikem und modernem Geist, antiker<lb/>
und moderner Kunst durchdrungen, er hat das Wesen<lb/>
der Kunst, ihren Zweck, ihre Gesetze ausgesprochen;<lb/>
er hat das Beste über die Natur gesagt, was je gesagt<lb/>
worden. Er faßt die Natur an, wie die alten Philosophen,<lb/>
wie die sieben weisen Meister, und was auch dabei an<lb/>
französischem Zergliederungs= und Classificationswesen<lb/>
in die Brüche gehen mag, Poesie und Humanität sind<lb/>
uns unverkümmert. Für das Ganze ist das bloße Auge<lb/>
besser als Telescop und Microscop. &#x2014; Durch den seltenen<lb/>
Zug seines Geistes zur Einheit und Einfachheit hat er<lb/>
mehr als ein Gebiet der Natur aufgeschlossen. So ging<lb/>
von Goethe der oberste Gedanke der heutigen Botanik<lb/>
aus, daß das Blatt oder die Blattknospe die Grundform<lb/>
des ganzen Gewächses ist, daß jeder Theil der Pflanze<lb/>
nur ein umgewandeltes Blatt ist, das einer neuen Be-<lb/>
dingung entspricht, und indem die Bedingungen wech-<lb/>
seln, das Blatt sich in jedes andere Organ umwan-<lb/>
deln und jedes andere Organ zum Blatt werden kann.<lb/>
Jn der Lehre vom thierischen Bau sprach er in ähn-<lb/>
licher Weise aus, daß der Wirbel als Grundform des<lb/>
Skeletts zu betrachten ist; der Kopf ist nach dieser An-<lb/>
schauung nur der umgestaltete oberste Wirbel. Die<lb/>
Pflanze rückt fort von Knoten zu Knoten und schließt<lb/>
zuletzt mit der Blüthe und dem Samen. So wächst der<lb/>
Bandwurm, die Raupe von Knoten zu Knoten und<lb/>
schließt mit dem Kopf ab. Der Mensch und die höheren<lb/>
Thiere sind aus Wirbeln aufgebaut, und die Lebens-<lb/>
kräfte strahlen im Haupte zusammen. Jn der Optik<lb/>
verwarf er die künstliche Theorie der sieben Farben;<lb/>
nach seinem Begriff ist jede Farbe eine Mischung von<lb/>
Licht und Dunkel in wechselndem Verhältniß. &#x2014; Es<lb/>
kommt wirklich wenig darauf an, über was er schreibt.<lb/>
Er sieht mit jeder Pore und gravitirt gleichsam gegen<lb/>
die Wahrheit. Er realisirt so zu sagen Alles. Es ist<lb/>
ihm verhaßt, wenn er ein Alteweibermährchen, an das<lb/>
die Menschen tausend Jahre geglaubt, wieder nachsagen<lb/>
soll. Sey es was es sey, er sieht zu, ob es wahr ist,<lb/>
er geht ihm zu Leibe; es ist als ob er sagte: &#x201E;Jch bin<lb/>
da, Maß und Richter dieser Dinge zu seyn. Warum<lb/>
soll ich sie auf Treu und Glauben hinnehmen?&#x201C; Darum<lb/>
prägen sich auch seine Worte so tief ein; was er über<lb/>
Religion, Leidenschaft, Ehe, Sitten, Eigenthum, Pa-<lb/>
piergeld, Glaubensperioden, Vorbedeutungen, Glück und<lb/>
so vieles sonst sagt, es bleibt uns alles unvergeßlich.</p><lb/>
        <cb type="end"/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1085/0005] 1085 jede Pore seiner Haut scheint ein Auge zu seyn ) schlägt er die Harfe mit der Kraft und Anmuth des Helden. Das Wunderbare an diesem Buch ist der über- wältigende Verstand darin. Vergangenheit und Gegen- wart, alle Religionen, Staatsformen, Denkweisen lösen sich in dieses Mannes Geist auf und schießen als Ty- pen und Jdeen an. Und was für nagelneue Mytho- logien ihm durch den Kopf ziehen! Die Griechen sagten, Alexander sey bis zum Chaos vorgedrungen; Goethe kam, erst gestern, eben so weit, ja er wagte sich noch einen Schritt weiter, und kam wohlbehalten zurück. Jn seinem Gedankenzuge waltet eine herzerquickende Freiheit. Der ungeheure Horizont, der mit uns vor- rückt, verbreitet seine Majestät über Kleinigkeiten, über Gegenstände des Herkommens und Bedürfnisses, wie über feierliche und festliche Vorgänge. Er war die Seele seines Jahrhunderts. War dieses gelehrt, war es durch dichte Bevölkerung, compacte Organisation und Uebung der Talente zu Einer großen Entdeckungs- expedition geworden, welche eine solche Ueberfülle von Thatsachen und Ergebnissen zusammenhäuft, daß sie bis dahin kein lebender „Savant“ zu classificiren vermochte, so waren in dieses Mannes Geist Fächer genug, um Alles unterzubringen. Jhm war es gegeben, die ge- trennten Atome, nach dem ihnen inwohnenden Gesetz selbst, wieder zu vereinigen. Unsere moderne Existenz umkleidete er mit Poesie. Unter Kleinlichkeit und Zer- splitterung entdeckte er den Genius des Lebens, den alten listigen Proteus, der sich an unsere Fersen nestelt; er zeigte, daß Prosa und Stumpfheit, die wir unserer Zeit zuschreiben, nur wieder eine Maske desselben ist: His very flight is presence in disguise; * daß er seine glänzende Tracht jetzt nur mit einem All- tagsrock vertauscht hat und um kein Haar weniger reich und lebendig ist zu Liverpool oder im Haag, als er einst in Rom oder Antiochien gewesen. Er suchte ihn auf öffentlichen Plätzen und Boulevards, in Haupt- straßen und Palästen; im grobsinnlichsten Bereich des Alltagslebens entdeckte er die lauernde dämonische Kraft; er zeigte, wie durch das gemeinste Thun ein mythischer, fabelhafter Faden sich fortspinnt, und all dieß, indem er den Stammbaum jedes Brauchs, jeder Staats= und Lebensform, jedes Geräthes hinauf bis zu seinem Ur- sprung aus dem Wesen des Menschen verfolgte. Con- jecturen und rednerische Floskeln waren ihm höchlich zuwider: „Jch habe an mir selbst genug zu rathen. Wenn einer ein Buch schreibt, soll er nur geben, was er weiß.“ Sein Styl ist vollkommen klar und einfach; er verschweigt viel mehr, als er sagt, und setzt immer eine Realität statt eines Worts. Er hat den Unter- schied zwischen antikem und modernem Geist, antiker und moderner Kunst durchdrungen, er hat das Wesen der Kunst, ihren Zweck, ihre Gesetze ausgesprochen; er hat das Beste über die Natur gesagt, was je gesagt worden. Er faßt die Natur an, wie die alten Philosophen, wie die sieben weisen Meister, und was auch dabei an französischem Zergliederungs= und Classificationswesen in die Brüche gehen mag, Poesie und Humanität sind uns unverkümmert. Für das Ganze ist das bloße Auge besser als Telescop und Microscop. — Durch den seltenen Zug seines Geistes zur Einheit und Einfachheit hat er mehr als ein Gebiet der Natur aufgeschlossen. So ging von Goethe der oberste Gedanke der heutigen Botanik aus, daß das Blatt oder die Blattknospe die Grundform des ganzen Gewächses ist, daß jeder Theil der Pflanze nur ein umgewandeltes Blatt ist, das einer neuen Be- dingung entspricht, und indem die Bedingungen wech- seln, das Blatt sich in jedes andere Organ umwan- deln und jedes andere Organ zum Blatt werden kann. Jn der Lehre vom thierischen Bau sprach er in ähn- licher Weise aus, daß der Wirbel als Grundform des Skeletts zu betrachten ist; der Kopf ist nach dieser An- schauung nur der umgestaltete oberste Wirbel. Die Pflanze rückt fort von Knoten zu Knoten und schließt zuletzt mit der Blüthe und dem Samen. So wächst der Bandwurm, die Raupe von Knoten zu Knoten und schließt mit dem Kopf ab. Der Mensch und die höheren Thiere sind aus Wirbeln aufgebaut, und die Lebens- kräfte strahlen im Haupte zusammen. Jn der Optik verwarf er die künstliche Theorie der sieben Farben; nach seinem Begriff ist jede Farbe eine Mischung von Licht und Dunkel in wechselndem Verhältniß. — Es kommt wirklich wenig darauf an, über was er schreibt. Er sieht mit jeder Pore und gravitirt gleichsam gegen die Wahrheit. Er realisirt so zu sagen Alles. Es ist ihm verhaßt, wenn er ein Alteweibermährchen, an das die Menschen tausend Jahre geglaubt, wieder nachsagen soll. Sey es was es sey, er sieht zu, ob es wahr ist, er geht ihm zu Leibe; es ist als ob er sagte: „Jch bin da, Maß und Richter dieser Dinge zu seyn. Warum soll ich sie auf Treu und Glauben hinnehmen?“ Darum prägen sich auch seine Worte so tief ein; was er über Religion, Leidenschaft, Ehe, Sitten, Eigenthum, Pa- piergeld, Glaubensperioden, Vorbedeutungen, Glück und so vieles sonst sagt, es bleibt uns alles unvergeßlich. * „ Scheint er zu flieh'n, so weilt er in Verkleidung.“ Aus Elisabeth Barret Brownings dramatischem Gedicht Prometheus. A. d. U.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Peter Fankhauser: Automatische Transformation von TUSTEP nach TEI P5 (DTA-Basisformat).
Deutsches Textarchiv: Metadatenerfassung
Institut für Deutsche Sprache, Mannheim: Bereitstellung der Bilddigitalisate und Volltext-Transkription
Susanne Haaf, Rahel Hartz, Nicole Postelt: Nachkorrektur und Vervollständigung der TEI/DTABf-Annotation
Rahel Hartz: Artikelstrukturierung

Weitere Informationen:

Dieser Text wurde aus dem TUSTEP-Format nach TEI-P5 konvertiert und anschließend in das DTA-Basisformat überführt.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt46_1856
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt46_1856/5
Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 46. Stuttgart/Tübingen, 16. November 1856, S. 1085. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt46_1856/5>, abgerufen am 21.11.2024.