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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 46. Stuttgart/Tübingen, 16. November 1856.

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[Beginn Spaltensatz] so sind Sie wohl gekommen, um mir die Summe zu-
rück zu erstatten, welche ich bei seinem Eintritt erlegt
habe, da das erste Probejahr noch lange nicht zu
Ende ist."

Gerade um dieses voraussichtliche Verlangen im
Keime zu erdrücken, war der Advokat gekommen, denn
abgesehen von diesem Zweck, konnte es ihm sehr gleich-
gültig seyn, ob, wann und wie die Wittwe die Ent-
lassung ihres Sohnes erfuhr. Nun begann er von
neuem das Sündenregister seines Lehrlings aufzuzählen,
und verweigerte darauf, als auf einen Vertragsbruch
von Chattertons Seite gestützt, die Rückzahlung. --
"Also," fuhr die kleine Frau auf, "wollen Sie der Wittwe
und ihren Waisen einen Theil ihres geringen Gutes
vorenthalten -- dazu an einem Sonntag!" -- "Jch bin
nicht gekommen, um mich auf Diskussionen einzulassen,"
versetzte Lambert spitz, "sondern nur um eine unver-
meidlich gewordene Maßregel zu berichten. Jch rede
nicht gern von Dingen wie nächtliche Ausschweifun-
gen --" -- "Für welche," unterbrach ihn Frau Edkins,
"Sie nur Vermuthungen, keine Beweise haben!" -- "Es
kann seyn," sagte Lambert, "daß Sie, Madame, über
die Verwendung der nächtlichen Stunden des Herrn
Chatterton besser unterrichtet sind als ich."

Die kleine Frau wurde hochroth im Gesicht, sie
versuchte zu reden, allein ihre Worte stockten und sehr
rechtzeitig übernahm Frau Chatterton die Antwort. --
"Wir werden dem Gericht die Entscheidung über meinen
Anspruch überlassen müssen," sagte sie. "Sie haben
meinen Sohn heute nicht gesehen, Herr Lambert?" --
"Jch nicht!" war die kurze Antwort. Die Wittwe und
Frau Edkins wechselten einen unruhigen Blick. -- "Mit
Anrufung des Gerichtes," bemerkte dann Lambert nach
einer Pause, "dürften Sie schwerlich weit kommen, denn
ein Lehrling, welcher droht, seinen Dienstherrn durch
den schändlichen Schritt des Selbstmordes zu verlassen,
wird wohl alle Stimmen gegen sich haben."

"Um Gottes Willen!" riefen die Frauen durchein-
ander. "Was ist's mit Tom? Sie wollen uns ein Un-
glück ankündigen! Sie reden von Selbstmord!" -- " Be-
ruhigen Sie sich, meine Damen," sagte Lambert kalt.
"Jemand, der sich umbringen will, führt diese Thorheit
stillschweigend aus, ohne erst davon zu reden und zu
schreiben." -- "Aber ich bin überzeugt," warf die kleine
Frau ein, "daß Tom nichts der Art gesagt hat!" --
"Gesagt nicht, nein! aber geschrieben!" versetzte der
Advokat. "Der Beleg dafür steht der schönen Beschützerin
des jungen Mannes zur Einsicht offen. Hier ist ein
Testament von ihm, welches ausführlich von der Ab-
sicht des Selbstmords redet. Allein machen Sie sich
keine Sorge darob, denn Herr Chatterton dürfte
[Spaltenumbruch] eher der Mann seyn, einen andern, als sich selbst um-
zubringen."

Mit diesen Worten überreichte der Advokat der
kleinen Frau ein Schriftstück. -- "Die Gefahr scheint
nicht groß zu seyn," rief diese sogleich, nachdem sie einen
Blick darauf geworfen, "denn das ist allerdings ein Te-
stament, allein aus dem vorigen Jahr datirt." -- "Es
ist ein Gemisch von Undank und Unverstand, worin der
junge Mann seine Mitbürger und seine Wohlthäter ver-
höhnt." -- "Nicht so schlimm;" rief Frau Edkins la-
chend, "aber sehr komisch! Man höre nur!" Und sie
begann zu lesen:

"Da mir die besten Menschenkenner in Bristol den
Namen des tollen Genies gegeben haben, und also die
närrische Handlung, welche ich jetzt zu begehen im Be-
griff bin, mit meinem übrigen Leben übereinstimmend
ist, so hinterlasse ich folgende Vermächtnisse: Jch ver-
ordne der Stadt Bristol allen Geist und alle Uneigen-
nützigkeit, welche seit den Tagen Canyngs und Rowleys
in ihr unbekannt geworden sind; ferner meine Groß-
muth unserem derzeitigen Maire, Ritter Thomas Harris;
ferner meine Enthaltsamkeit den Stadtverordneten bei
ihrem jährlichen Festessen; ferner denselben meine sämmt-
lichen Schulden, in allem fünf Pfund, zur Bezahlung,
im Verweigerungsfall bei Strafe des Erscheinens mei-
nes Geistes, welcher jedes Mitglied an einem guten
Mittagessen verhindern wird; ferner meine Mäßigung
den beiden politischen Parteien, und meine Religion und
Sprachgewandtheit dem hochwürdigen Oberpfarrer Herrn
Weston, so wie seinem Sakristan Schnecke die Erlaub-
niß, den Oberpfarrer an's Ohr zu schlagen, wenn er
vor oder nach der Predigt in der Kirche schläft. Herrn
Catcott vermache ich mein Jugendfeuer und Herrn Bur-
gum meine prosodischen und grammatikalischen Kennt-
nisse nebst der Hälfte meiner Bescheidenheit, während
die andere Hälfte dieser Tugend einer gewissen jungen
Dame zufallen soll, welche, ohne zu erröthen, behaup-
ten darf, daß sie dieses schätzbare Gut nicht besitzt. Den
jungen Freundinnen meiner Schwester vermache ich alle
Briefe, die sie von mir besitzen, mit dem Bemerken,
daß sie das Erscheinen meines Geistes nicht zu fürchten
haben, da ich für Keine unter ihnen sterbe."

"Diese Stellen genügen," unterbrach der Advokat,
indem er das Papier zurück nahm. "Man wird be-
greifen, daß, einem solchen Selbstzeugniß des jungen
Mannes gegenüber, vor den städtischen Gerichten zu
seinen Gunsten wenig auszurichten seyn wird."

Die Frauen seufzten und machten zustimmende Be-
wegungen, der Advokat aber, der seinen nächsten Zweck
erreicht sah, verließ mit einer kurzen Verbeugung die
Wohnung der Wittwe. Auch der Alterthümler, welcher
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] so sind Sie wohl gekommen, um mir die Summe zu-
rück zu erstatten, welche ich bei seinem Eintritt erlegt
habe, da das erste Probejahr noch lange nicht zu
Ende ist.“

Gerade um dieses voraussichtliche Verlangen im
Keime zu erdrücken, war der Advokat gekommen, denn
abgesehen von diesem Zweck, konnte es ihm sehr gleich-
gültig seyn, ob, wann und wie die Wittwe die Ent-
lassung ihres Sohnes erfuhr. Nun begann er von
neuem das Sündenregister seines Lehrlings aufzuzählen,
und verweigerte darauf, als auf einen Vertragsbruch
von Chattertons Seite gestützt, die Rückzahlung. —
„Also,“ fuhr die kleine Frau auf, „wollen Sie der Wittwe
und ihren Waisen einen Theil ihres geringen Gutes
vorenthalten — dazu an einem Sonntag!“ — „Jch bin
nicht gekommen, um mich auf Diskussionen einzulassen,“
versetzte Lambert spitz, „sondern nur um eine unver-
meidlich gewordene Maßregel zu berichten. Jch rede
nicht gern von Dingen wie nächtliche Ausschweifun-
gen —“ — „Für welche,“ unterbrach ihn Frau Edkins,
„Sie nur Vermuthungen, keine Beweise haben!“ — „Es
kann seyn,“ sagte Lambert, „daß Sie, Madame, über
die Verwendung der nächtlichen Stunden des Herrn
Chatterton besser unterrichtet sind als ich.“

Die kleine Frau wurde hochroth im Gesicht, sie
versuchte zu reden, allein ihre Worte stockten und sehr
rechtzeitig übernahm Frau Chatterton die Antwort. —
„Wir werden dem Gericht die Entscheidung über meinen
Anspruch überlassen müssen,“ sagte sie. „Sie haben
meinen Sohn heute nicht gesehen, Herr Lambert?“ —
„Jch nicht!“ war die kurze Antwort. Die Wittwe und
Frau Edkins wechselten einen unruhigen Blick. — „Mit
Anrufung des Gerichtes,“ bemerkte dann Lambert nach
einer Pause, „dürften Sie schwerlich weit kommen, denn
ein Lehrling, welcher droht, seinen Dienstherrn durch
den schändlichen Schritt des Selbstmordes zu verlassen,
wird wohl alle Stimmen gegen sich haben.“

„Um Gottes Willen!“ riefen die Frauen durchein-
ander. „Was ist's mit Tom? Sie wollen uns ein Un-
glück ankündigen! Sie reden von Selbstmord!“ — „ Be-
ruhigen Sie sich, meine Damen,“ sagte Lambert kalt.
„Jemand, der sich umbringen will, führt diese Thorheit
stillschweigend aus, ohne erst davon zu reden und zu
schreiben.“ — „Aber ich bin überzeugt,“ warf die kleine
Frau ein, „daß Tom nichts der Art gesagt hat!“ —
„Gesagt nicht, nein! aber geschrieben!“ versetzte der
Advokat. „Der Beleg dafür steht der schönen Beschützerin
des jungen Mannes zur Einsicht offen. Hier ist ein
Testament von ihm, welches ausführlich von der Ab-
sicht des Selbstmords redet. Allein machen Sie sich
keine Sorge darob, denn Herr Chatterton dürfte
[Spaltenumbruch] eher der Mann seyn, einen andern, als sich selbst um-
zubringen.“

Mit diesen Worten überreichte der Advokat der
kleinen Frau ein Schriftstück. — „Die Gefahr scheint
nicht groß zu seyn,“ rief diese sogleich, nachdem sie einen
Blick darauf geworfen, „denn das ist allerdings ein Te-
stament, allein aus dem vorigen Jahr datirt.“ — „Es
ist ein Gemisch von Undank und Unverstand, worin der
junge Mann seine Mitbürger und seine Wohlthäter ver-
höhnt.“ — „Nicht so schlimm;“ rief Frau Edkins la-
chend, „aber sehr komisch! Man höre nur!“ Und sie
begann zu lesen:

„Da mir die besten Menschenkenner in Bristol den
Namen des tollen Genies gegeben haben, und also die
närrische Handlung, welche ich jetzt zu begehen im Be-
griff bin, mit meinem übrigen Leben übereinstimmend
ist, so hinterlasse ich folgende Vermächtnisse: Jch ver-
ordne der Stadt Bristol allen Geist und alle Uneigen-
nützigkeit, welche seit den Tagen Canyngs und Rowleys
in ihr unbekannt geworden sind; ferner meine Groß-
muth unserem derzeitigen Maire, Ritter Thomas Harris;
ferner meine Enthaltsamkeit den Stadtverordneten bei
ihrem jährlichen Festessen; ferner denselben meine sämmt-
lichen Schulden, in allem fünf Pfund, zur Bezahlung,
im Verweigerungsfall bei Strafe des Erscheinens mei-
nes Geistes, welcher jedes Mitglied an einem guten
Mittagessen verhindern wird; ferner meine Mäßigung
den beiden politischen Parteien, und meine Religion und
Sprachgewandtheit dem hochwürdigen Oberpfarrer Herrn
Weston, so wie seinem Sakristan Schnecke die Erlaub-
niß, den Oberpfarrer an's Ohr zu schlagen, wenn er
vor oder nach der Predigt in der Kirche schläft. Herrn
Catcott vermache ich mein Jugendfeuer und Herrn Bur-
gum meine prosodischen und grammatikalischen Kennt-
nisse nebst der Hälfte meiner Bescheidenheit, während
die andere Hälfte dieser Tugend einer gewissen jungen
Dame zufallen soll, welche, ohne zu erröthen, behaup-
ten darf, daß sie dieses schätzbare Gut nicht besitzt. Den
jungen Freundinnen meiner Schwester vermache ich alle
Briefe, die sie von mir besitzen, mit dem Bemerken,
daß sie das Erscheinen meines Geistes nicht zu fürchten
haben, da ich für Keine unter ihnen sterbe.“

„Diese Stellen genügen,“ unterbrach der Advokat,
indem er das Papier zurück nahm. „Man wird be-
greifen, daß, einem solchen Selbstzeugniß des jungen
Mannes gegenüber, vor den städtischen Gerichten zu
seinen Gunsten wenig auszurichten seyn wird.“

Die Frauen seufzten und machten zustimmende Be-
wegungen, der Advokat aber, der seinen nächsten Zweck
erreicht sah, verließ mit einer kurzen Verbeugung die
Wohnung der Wittwe. Auch der Alterthümler, welcher
[Ende Spaltensatz]

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Die Wittwe und Frau Edkins wechselten einen unruhigen Blick. — „Mit Anrufung des Gerichtes,“ bemerkte dann Lambert nach einer Pause, „dürften Sie schwerlich weit kommen, denn ein Lehrling, welcher droht, seinen Dienstherrn durch den schändlichen Schritt des Selbstmordes zu verlassen, wird wohl alle Stimmen gegen sich haben.“ „Um Gottes Willen!“ riefen die Frauen durchein- ander. „Was ist's mit Tom? Sie wollen uns ein Un- glück ankündigen! Sie reden von Selbstmord!“ — „ Be- ruhigen Sie sich, meine Damen,“ sagte Lambert kalt. „Jemand, der sich umbringen will, führt diese Thorheit stillschweigend aus, ohne erst davon zu reden und zu schreiben.“ — „Aber ich bin überzeugt,“ warf die kleine Frau ein, „daß Tom nichts der Art gesagt hat!“ — „Gesagt nicht, nein! aber geschrieben!“ versetzte der Advokat. „Der Beleg dafür steht der schönen Beschützerin des jungen Mannes zur Einsicht offen. Hier ist ein Testament von ihm, welches ausführlich von der Ab- sicht des Selbstmords redet. 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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 46. Stuttgart/Tübingen, 16. November 1856, S. 1088. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt46_1856/8>, abgerufen am 31.10.2024.