Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 46. Stuttgart/Tübingen, 16. November 1856.[Beginn Spaltensatz]
den jungen Chatterton zu finden erwartet hatte, wollte Der junge Künstler übersah mit raschem und siche- Nach dem goldenen Horn zurückgekehrt, fand er Der Plan der nächsten Thätigkeit Chattertons Man hört oft und mit Recht sagen, daß die freiste "Und," fragte William seinen Freund, als sie, [Beginn Spaltensatz]
den jungen Chatterton zu finden erwartet hatte, wollte Der junge Künstler übersah mit raschem und siche- Nach dem goldenen Horn zurückgekehrt, fand er Der Plan der nächsten Thätigkeit Chattertons Man hört oft und mit Recht sagen, daß die freiste „Und,“ fragte William seinen Freund, als sie, <TEI> <text> <body> <div xml:id="Nov2" type="jArticle" n="1"> <p><pb facs="#f0009" n="1089"/><fw type="pageNum" place="top">1089</fw><cb type="start"/> den jungen Chatterton zu finden erwartet hatte, wollte<lb/> sich, nach einigen tröstenden und beruhigenden Worten<lb/> an die betrübten Frauen, wegbegeben, als es an die<lb/> Thür klopfte und alsbald William Smith eintrat.</p><lb/> <p>Der junge Künstler übersah mit raschem und siche-<lb/> rem Blick die Anwesenden und schien sie nach Toms<lb/> Aeußerungen über die ihm nahe stehenden Personen zu er-<lb/> kennen, denn er erledigte sich sogleich und ohne Rückhalt<lb/> seines selbstgewählten Auftrags, indem er unter Anem-<lb/> pfehlung der strengsten Verschwiegenheit seines Freundes<lb/> Aufenthalt nannte. Dann wandte er sich gegen Catcott<lb/> mit Mittheilung der Zeichnung, welche den Alterthüm-<lb/> ler in hohem Grade entzückte. Auf einige Fragen der<lb/> Frauen nach Toms Beschäftigung und den Mitteln für<lb/> seinen Aufenthalt in dem goldenen Horn antwortete<lb/> Smith ausweichend mit dem Bemerken, daß jener bei<lb/> passender Gelegenheit Abends selbst in die Stadt kom-<lb/> men und das Nähere über die Gönnerschaft, die er ge-<lb/> funden, berichten werde. Dann äußerte er den Wunsch,<lb/> daß Toms Bücher und Effekten nach dessen neuem Wohnsitz<lb/> gebracht werden möchten. So betroffen die Frauen über all<lb/> die neuen und unerwarteten Wendungen in dem Schick-<lb/> sal des jungen Mannes waren, so fanden sie sich doch<lb/> nach einigem Bedenken bereit, das Gewünschte herbei-<lb/> zuschaffen, und Toms Kammer entleerte alsbald einen<lb/> staunenswerthen und umfangreichen Jnhalt von Pa-<lb/> pieren und Büchern; denn der junge Chatterton hatte<lb/> sich, theils durch billigen Ankauf bei Trödlern, theils<lb/> leihweise eine Masse archäologischer, heraldischer und<lb/> sonstiger Werke, und namentlich eine kostbare Reihe<lb/> der damals fast werthlos gehaltenen, frühen Ausgaben<lb/> altenglischer Dichter zusammengetragen, wunderliche, oft<lb/> sehr verstümmelte Bände von abenteuerlichem Einband<lb/> und Druck und meist mit Jllustrationen versehen, deren<lb/> Sonderbarkeit das vollste Erstaunen des Malers erregte.<lb/> Man verabredete die Art und Weise, wie alles nach<lb/> dem goldenen Horn geschafft werden sollte, und dann<lb/> begab sich Smith dahin zurück, das Skizzenbuch bei dem<lb/> sehr befriedigten Alterthümler und einen sichtlich günsti-<lb/> gen Eindruck bei seines Freundes Angehörigen hinter-<lb/> lassend.</p><lb/> <p>Nach dem goldenen Horn zurückgekehrt, fand er<lb/> Tom auf einer kleinen, vor dem Hause befindlichen<lb/> schattigen Terrasse im Nachsinnen über die plötzlichen<lb/> und unerwarteten Wendungen seines Schicksals, welche<lb/> von außen mit so unwiderstehlicher Macht auf ihn ein-<lb/> gedrungen waren und ihm selbst kaum Raum zur Wahl<lb/> seiner Handlungen gelassen hatten. Jetzt sah er sich in<lb/> die neue Bahn hinein gedrängt, in eine Bahn mit ei-<lb/> nem zwar unsichern, aber glänzenden Ziel, und mit dem<lb/> Muth der Jugend und aller trotzigen Selbstständigkeit<lb/><cb n="2"/> seines Charakters beschloß er, nicht zagend und zwei-<lb/> felnd, sondern rasch und mit kräftigem Selbstvertrauen<lb/> weiter zu schreiten. Jn dieser Stimmung fand ihn<lb/> Smith und erhöhte dieselbe noch durch die Mittheilung<lb/> von dem unbedingten Glauben, mit welchem der ge-<lb/> lehrte Catcott die Zeichnung als authentisch angenom-<lb/> men hatte. Die Einrichtung auf dem goldenen Horn<lb/> ward bald gemacht. Smith miethete den ganzen oberen<lb/> Stock des Hauses, welcher aus drei geräumigen Zim-<lb/> mern bestand; in dem einen sollte Tom, in dem an-<lb/> dern er selbst arbeiten, das dritte diente als gemein-<lb/> schaftliches Schlafkabinet.</p><lb/> <p>Der Plan der nächsten Thätigkeit Chattertons<lb/> wurde noch an demselben Abend besprochen. Er sollte<lb/> zunächst, auf die in seinen Händen befindlichen Notizen<lb/> und Andeutungen gestützt, die Tragödie Ella und die<lb/> epische Beschreibung der Hastingsschlacht neu zu bilden<lb/> versuchen, und zwar in Sprache und Styl der alteng-<lb/> lischen Dichter. Sogleich nach Vollendung eines vor-<lb/> zeigbaren Manuscripts sollte sich Smith damit zu Sir<lb/> Horaz Walpole auf dessen bei Richmond gelegene Villa<lb/> begeben, dasselbe als eine aus alten Manuscripten ge-<lb/> zogene Abschrift bezeichnen und versuchen, die Protek-<lb/> tion dieses einflußreichen Mannes zum Zweck einer Ver-<lb/> öffentlichung der sogenannten Rowley'schen Gedichte zu<lb/> gewinnen. Tom selbst hätte indessen nachträglich auf altem<lb/> Pergament Manuscripte in der Schreibweise des fünf-<lb/> zehnten Jahrhunderts anzufertigen, welche, auf Ver-<lb/> langen nach der Originalhandschrift jener Gedichte, als<lb/> solche vorzulegen wären.</p><lb/> <p>Man hört oft und mit Recht sagen, daß die freiste<lb/> Willkür der erfindenden Phantasie von der Unwahr-<lb/> scheinlichkeit wirklicher Begebenheiten weit überboten<lb/> werde. Die Geschichte der literarischen Fälschungen,<lb/> welche immer und überall, namentlich aber in England<lb/> im vorigen Jahrhundert häufig waren, liefert dafür die<lb/> schlagendsten Belege. Wir sehen dort Chattertons Versuche<lb/> durch andere, an Unwahrscheinlichkeit, Ausdehnung und<lb/> bösem Willen viel bedeutendere weit übertroffen, und so<lb/> darf es uns nicht wundern, einen bartlosen Jüngling<lb/> ein Werk unternehmen zu sehen von so kolossalen Vor-<lb/> aussetzungen an Gelehrsamkeit und Fertigkeit aller Art —<lb/> eine Aufgabe, deren Lösung, wenn sie möglich war,<lb/> allerdings nur durch den gewaltigen Genius eines<lb/> Chatterton gelöst werden konnte.</p><lb/> <p>„Und,“ fragte William seinen Freund, als sie,<lb/> von den Anstrengungen des Tages übermüdet, zeitig<lb/> ihre Schlafstellen suchten, „wird dich die Erinnerung<lb/> an die schönen Freundinnen deiner Schwester nicht<lb/> manchmal von deinen bevorstehenden Arbeiten abziehen?“<lb/> — „Gewiß nicht,“ erwiderte Tom bestimmt. „Das<lb/><cb type="end"/> </p> </div> </body> </text> </TEI> [1089/0009]
1089
den jungen Chatterton zu finden erwartet hatte, wollte
sich, nach einigen tröstenden und beruhigenden Worten
an die betrübten Frauen, wegbegeben, als es an die
Thür klopfte und alsbald William Smith eintrat.
Der junge Künstler übersah mit raschem und siche-
rem Blick die Anwesenden und schien sie nach Toms
Aeußerungen über die ihm nahe stehenden Personen zu er-
kennen, denn er erledigte sich sogleich und ohne Rückhalt
seines selbstgewählten Auftrags, indem er unter Anem-
pfehlung der strengsten Verschwiegenheit seines Freundes
Aufenthalt nannte. Dann wandte er sich gegen Catcott
mit Mittheilung der Zeichnung, welche den Alterthüm-
ler in hohem Grade entzückte. Auf einige Fragen der
Frauen nach Toms Beschäftigung und den Mitteln für
seinen Aufenthalt in dem goldenen Horn antwortete
Smith ausweichend mit dem Bemerken, daß jener bei
passender Gelegenheit Abends selbst in die Stadt kom-
men und das Nähere über die Gönnerschaft, die er ge-
funden, berichten werde. Dann äußerte er den Wunsch,
daß Toms Bücher und Effekten nach dessen neuem Wohnsitz
gebracht werden möchten. So betroffen die Frauen über all
die neuen und unerwarteten Wendungen in dem Schick-
sal des jungen Mannes waren, so fanden sie sich doch
nach einigem Bedenken bereit, das Gewünschte herbei-
zuschaffen, und Toms Kammer entleerte alsbald einen
staunenswerthen und umfangreichen Jnhalt von Pa-
pieren und Büchern; denn der junge Chatterton hatte
sich, theils durch billigen Ankauf bei Trödlern, theils
leihweise eine Masse archäologischer, heraldischer und
sonstiger Werke, und namentlich eine kostbare Reihe
der damals fast werthlos gehaltenen, frühen Ausgaben
altenglischer Dichter zusammengetragen, wunderliche, oft
sehr verstümmelte Bände von abenteuerlichem Einband
und Druck und meist mit Jllustrationen versehen, deren
Sonderbarkeit das vollste Erstaunen des Malers erregte.
Man verabredete die Art und Weise, wie alles nach
dem goldenen Horn geschafft werden sollte, und dann
begab sich Smith dahin zurück, das Skizzenbuch bei dem
sehr befriedigten Alterthümler und einen sichtlich günsti-
gen Eindruck bei seines Freundes Angehörigen hinter-
lassend.
Nach dem goldenen Horn zurückgekehrt, fand er
Tom auf einer kleinen, vor dem Hause befindlichen
schattigen Terrasse im Nachsinnen über die plötzlichen
und unerwarteten Wendungen seines Schicksals, welche
von außen mit so unwiderstehlicher Macht auf ihn ein-
gedrungen waren und ihm selbst kaum Raum zur Wahl
seiner Handlungen gelassen hatten. Jetzt sah er sich in
die neue Bahn hinein gedrängt, in eine Bahn mit ei-
nem zwar unsichern, aber glänzenden Ziel, und mit dem
Muth der Jugend und aller trotzigen Selbstständigkeit
seines Charakters beschloß er, nicht zagend und zwei-
felnd, sondern rasch und mit kräftigem Selbstvertrauen
weiter zu schreiten. Jn dieser Stimmung fand ihn
Smith und erhöhte dieselbe noch durch die Mittheilung
von dem unbedingten Glauben, mit welchem der ge-
lehrte Catcott die Zeichnung als authentisch angenom-
men hatte. Die Einrichtung auf dem goldenen Horn
ward bald gemacht. Smith miethete den ganzen oberen
Stock des Hauses, welcher aus drei geräumigen Zim-
mern bestand; in dem einen sollte Tom, in dem an-
dern er selbst arbeiten, das dritte diente als gemein-
schaftliches Schlafkabinet.
Der Plan der nächsten Thätigkeit Chattertons
wurde noch an demselben Abend besprochen. Er sollte
zunächst, auf die in seinen Händen befindlichen Notizen
und Andeutungen gestützt, die Tragödie Ella und die
epische Beschreibung der Hastingsschlacht neu zu bilden
versuchen, und zwar in Sprache und Styl der alteng-
lischen Dichter. Sogleich nach Vollendung eines vor-
zeigbaren Manuscripts sollte sich Smith damit zu Sir
Horaz Walpole auf dessen bei Richmond gelegene Villa
begeben, dasselbe als eine aus alten Manuscripten ge-
zogene Abschrift bezeichnen und versuchen, die Protek-
tion dieses einflußreichen Mannes zum Zweck einer Ver-
öffentlichung der sogenannten Rowley'schen Gedichte zu
gewinnen. Tom selbst hätte indessen nachträglich auf altem
Pergament Manuscripte in der Schreibweise des fünf-
zehnten Jahrhunderts anzufertigen, welche, auf Ver-
langen nach der Originalhandschrift jener Gedichte, als
solche vorzulegen wären.
Man hört oft und mit Recht sagen, daß die freiste
Willkür der erfindenden Phantasie von der Unwahr-
scheinlichkeit wirklicher Begebenheiten weit überboten
werde. Die Geschichte der literarischen Fälschungen,
welche immer und überall, namentlich aber in England
im vorigen Jahrhundert häufig waren, liefert dafür die
schlagendsten Belege. Wir sehen dort Chattertons Versuche
durch andere, an Unwahrscheinlichkeit, Ausdehnung und
bösem Willen viel bedeutendere weit übertroffen, und so
darf es uns nicht wundern, einen bartlosen Jüngling
ein Werk unternehmen zu sehen von so kolossalen Vor-
aussetzungen an Gelehrsamkeit und Fertigkeit aller Art —
eine Aufgabe, deren Lösung, wenn sie möglich war,
allerdings nur durch den gewaltigen Genius eines
Chatterton gelöst werden konnte.
„Und,“ fragte William seinen Freund, als sie,
von den Anstrengungen des Tages übermüdet, zeitig
ihre Schlafstellen suchten, „wird dich die Erinnerung
an die schönen Freundinnen deiner Schwester nicht
manchmal von deinen bevorstehenden Arbeiten abziehen?“
— „Gewiß nicht,“ erwiderte Tom bestimmt. „Das
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