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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 47. Stuttgart/Tübingen, 23. November 1856.

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Morgenblatt

für

gebildete Leser.

Nr. 47. 23. November 1856.



   Der Mensch verlange nicht Gott gleich zu seyn, aber er strebe sich als Mensch zu
vollenden. Der Künstler strebe nicht ein Naturwerk, aber ein vollendetes Kunstwerk her-
vorzubringen.
Goethe.


Briefe über die bildende Kunst.
Die Malerei.
Die malerische Technik im Zusammenhang mit Jnhalt und Form der Darstellung.
[Beginn Spaltensatz]

Die Farbenharmonie ist in der Malerei eine That
des idealisirenden Künstlergeistes, die Macht des Gan-
zen über das Einzelne in der Wechselbeziehung aller
Theile; sie gewährt den Ersatz für die allseitige formale
Leibesschönheit in der Plastik. Sodann gewährt die
Farbe dem Künstler die Möglichkeit einer bestimmteren
Charakteristik der Gegenstände, einer schärferen Bezeich-
nung des Ausdrucks, den sie haben, des Eindrucks, den
sie machen. Wie verschieden spricht uns schon eine und
dieselbe Gegend an, wenn bald ein düsterer Himmel
auch die Erde trüb umschleiert, bald das Abendroth die
Höhen mit glühendem Glanze schmückt, während die
Tiefe schon in schattiger Dämmerung liegt, bald die
gleiche Klarheit des warmen Sonnenlichts alles um-
fängt! Die Formen sind dieselben geblieben, und doch
ist ihre Wirkung auf das Gemüth des Beschauers mit
anderer Beleuchtung eine andere geworden. Die Farbe
macht es möglich, das Erröthen und Erblassen des An-
gesichts, wie das unter der zarten Hülle durchschimmernde
edle Naß und die Kerne der Traube oder das Blinken
des Lichts auf dem perlenden Wein im durchsichtigen
Becher, den funkelnden Schimmer des Goldes oder den
[Spaltenumbruch] milderen Glanz des Silbers, feine Nüancen und ein
flüchtig wechselndes Spiel der Erscheinungen wiederzu-
geben. Zwei Menschen von großer Familienähnlichkeit
wird der Plastiker durch die reine Form schwer unter-
scheiden, man wird leicht ihre Büsten verwechseln. Aber
man gebe nur dem einen die blonde, dem andern die
schwärzlich dunkle Farbe des Haars und es hängt hie-
mit dort das blaue, hier das braune Auge zusammen,
dort werden bläuliche Adern die weiße Haut durch-
schimmern und ein rosiges Roth die Wange schmücken,
hier wird die Haut gelblicher erscheinen und ihre Lebens-
wärme wird von grünlichen oder violetten Tönen um-
spielt seyn: niemand wird das Bild des Einen für das
des Andern halten.

So führen die Farben als Darstellungsmittel den
Maler zu einer individuelleren Bestimmtheit, sie weisen
ihn mehr auf den Ausdruck und auch da auf das psy-
chologisch Begründete der wechselnden Stimmungen oder
Gemüthsbewegungen hin. Wenn die farblose Plastik
das Urbild des Lebens nachschuf, so gefällt sich die
Malerei in der Auffassung und Charakteristik der Ab-
bilder in ihrer Mannigfaltigkeit. Sie ist realistischer
[Ende Spaltensatz]

Morgenblatt

für

gebildete Leser.

Nr. 47. 23. November 1856.



   Der Mensch verlange nicht Gott gleich zu seyn, aber er strebe sich als Mensch zu
vollenden. Der Künstler strebe nicht ein Naturwerk, aber ein vollendetes Kunstwerk her-
vorzubringen.
Goethe.


Briefe über die bildende Kunst.
Die Malerei.
Die malerische Technik im Zusammenhang mit Jnhalt und Form der Darstellung.
[Beginn Spaltensatz]

Die Farbenharmonie ist in der Malerei eine That
des idealisirenden Künstlergeistes, die Macht des Gan-
zen über das Einzelne in der Wechselbeziehung aller
Theile; sie gewährt den Ersatz für die allseitige formale
Leibesschönheit in der Plastik. Sodann gewährt die
Farbe dem Künstler die Möglichkeit einer bestimmteren
Charakteristik der Gegenstände, einer schärferen Bezeich-
nung des Ausdrucks, den sie haben, des Eindrucks, den
sie machen. Wie verschieden spricht uns schon eine und
dieselbe Gegend an, wenn bald ein düsterer Himmel
auch die Erde trüb umschleiert, bald das Abendroth die
Höhen mit glühendem Glanze schmückt, während die
Tiefe schon in schattiger Dämmerung liegt, bald die
gleiche Klarheit des warmen Sonnenlichts alles um-
fängt! Die Formen sind dieselben geblieben, und doch
ist ihre Wirkung auf das Gemüth des Beschauers mit
anderer Beleuchtung eine andere geworden. Die Farbe
macht es möglich, das Erröthen und Erblassen des An-
gesichts, wie das unter der zarten Hülle durchschimmernde
edle Naß und die Kerne der Traube oder das Blinken
des Lichts auf dem perlenden Wein im durchsichtigen
Becher, den funkelnden Schimmer des Goldes oder den
[Spaltenumbruch] milderen Glanz des Silbers, feine Nüancen und ein
flüchtig wechselndes Spiel der Erscheinungen wiederzu-
geben. Zwei Menschen von großer Familienähnlichkeit
wird der Plastiker durch die reine Form schwer unter-
scheiden, man wird leicht ihre Büsten verwechseln. Aber
man gebe nur dem einen die blonde, dem andern die
schwärzlich dunkle Farbe des Haars und es hängt hie-
mit dort das blaue, hier das braune Auge zusammen,
dort werden bläuliche Adern die weiße Haut durch-
schimmern und ein rosiges Roth die Wange schmücken,
hier wird die Haut gelblicher erscheinen und ihre Lebens-
wärme wird von grünlichen oder violetten Tönen um-
spielt seyn: niemand wird das Bild des Einen für das
des Andern halten.

So führen die Farben als Darstellungsmittel den
Maler zu einer individuelleren Bestimmtheit, sie weisen
ihn mehr auf den Ausdruck und auch da auf das psy-
chologisch Begründete der wechselnden Stimmungen oder
Gemüthsbewegungen hin. Wenn die farblose Plastik
das Urbild des Lebens nachschuf, so gefällt sich die
Malerei in der Auffassung und Charakteristik der Ab-
bilder in ihrer Mannigfaltigkeit. Sie ist realistischer
[Ende Spaltensatz]

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[[1105]/0001] Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 47. 23. November 1856. Der Mensch verlange nicht Gott gleich zu seyn, aber er strebe sich als Mensch zu vollenden. Der Künstler strebe nicht ein Naturwerk, aber ein vollendetes Kunstwerk her- vorzubringen. Goethe. Briefe über die bildende Kunst. Die Malerei. Die malerische Technik im Zusammenhang mit Jnhalt und Form der Darstellung. Die Farbenharmonie ist in der Malerei eine That des idealisirenden Künstlergeistes, die Macht des Gan- zen über das Einzelne in der Wechselbeziehung aller Theile; sie gewährt den Ersatz für die allseitige formale Leibesschönheit in der Plastik. Sodann gewährt die Farbe dem Künstler die Möglichkeit einer bestimmteren Charakteristik der Gegenstände, einer schärferen Bezeich- nung des Ausdrucks, den sie haben, des Eindrucks, den sie machen. Wie verschieden spricht uns schon eine und dieselbe Gegend an, wenn bald ein düsterer Himmel auch die Erde trüb umschleiert, bald das Abendroth die Höhen mit glühendem Glanze schmückt, während die Tiefe schon in schattiger Dämmerung liegt, bald die gleiche Klarheit des warmen Sonnenlichts alles um- fängt! Die Formen sind dieselben geblieben, und doch ist ihre Wirkung auf das Gemüth des Beschauers mit anderer Beleuchtung eine andere geworden. Die Farbe macht es möglich, das Erröthen und Erblassen des An- gesichts, wie das unter der zarten Hülle durchschimmernde edle Naß und die Kerne der Traube oder das Blinken des Lichts auf dem perlenden Wein im durchsichtigen Becher, den funkelnden Schimmer des Goldes oder den milderen Glanz des Silbers, feine Nüancen und ein flüchtig wechselndes Spiel der Erscheinungen wiederzu- geben. Zwei Menschen von großer Familienähnlichkeit wird der Plastiker durch die reine Form schwer unter- scheiden, man wird leicht ihre Büsten verwechseln. Aber man gebe nur dem einen die blonde, dem andern die schwärzlich dunkle Farbe des Haars und es hängt hie- mit dort das blaue, hier das braune Auge zusammen, dort werden bläuliche Adern die weiße Haut durch- schimmern und ein rosiges Roth die Wange schmücken, hier wird die Haut gelblicher erscheinen und ihre Lebens- wärme wird von grünlichen oder violetten Tönen um- spielt seyn: niemand wird das Bild des Einen für das des Andern halten. So führen die Farben als Darstellungsmittel den Maler zu einer individuelleren Bestimmtheit, sie weisen ihn mehr auf den Ausdruck und auch da auf das psy- chologisch Begründete der wechselnden Stimmungen oder Gemüthsbewegungen hin. Wenn die farblose Plastik das Urbild des Lebens nachschuf, so gefällt sich die Malerei in der Auffassung und Charakteristik der Ab- bilder in ihrer Mannigfaltigkeit. Sie ist realistischer

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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 47. Stuttgart/Tübingen, 23. November 1856, S. [1105]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt47_1856/1>, abgerufen am 15.05.2024.