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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 47. Stuttgart/Tübingen, 23. November 1856.

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[Beginn Spaltensatz] als die Plastik; statt das Jdeal als solches im Einzel-
nen zu realisiren, idealisirt sie das Wirkliche von der
Fülle der Erscheinungen und ihrer Naturbestimmtheit
aus. Gerade auf die Abweichungen von der reinen
Schönheitslinie muß sie Nachdruck legen, um der Be-
sonderheit das eigene unterscheidende Gepräge zu gewäh-
ren; ja es ist ihr vergönnt, durch die Carricatur zu
ergötzen, indem sie das Charakteristische eines Gesichts
oder einer Gestalt übertreibt und zum einzig Domini-
renden macht. Sie verleiht den Dingen den schönen
Schein und die sinnliche Verklärung durch die Harmonie
der Farben.

Jn dem Reize, welchen die Farben jede für sich wie
in ihrer Zusammenstimmung dem Auge gewähren, ist
ein materielleres Wohlgefühl enthalten als in der Er-
kenntniß der Form. Alles Schöne ist als Erscheinung
der Jdee zugleich ein geistig Unendliches, zugleich ein
sinnlich Begrenztes; als solches hat es seine Ausdehnung
in Raum oder Zeit, seine Größe, und eine Form, welche
diese umschreibt, zugleich aber eine eigenthümliche Rea-
lität, einen stofflichen Jnhalt, etwas Qualitatives, das
in der Form seine quantitative Bestimmtheit empfängt.
Wirkt nun in der Architektur vorzugsweise die Größe,
spricht uns in der Sculptur hauptsächlich die reine Form
an, so legt die Malerei den Nachdruck auf die Empfin-
dung, welche die stoffliche Realität der Dinge, in ihrem
Verhalten zum Licht sich offenbarend, auf unsere Sinne
macht. Durch den sinnlichen Reiz der Farbe vermittelt
sich ihr, vermittelt sie uns das Bild der Welt.

Adolf Zeising, der in seinen ästhetischen Forschun-
gen die einzelnen Künste darnach betrachtet, wie sich die
von ihm aufgestellten Kategorien * in ihnen aussprechen,
stimmt in folgenden Bemerkungen mit unserer Entwick-
lung überein. Er sagt unter anderem: "Das Reizende
beruht auf einer entgegenkommenden Hingebung des
[Spaltenumbruch] Objekts an das Subjekt und auf einer solchen Affektion
der Sinne, daß sich das Subjekt durch die sich ihm
mittheilenden stofflich sensualen Qualitäten des Ob-
jekts in seinem Wesen ergänzt und gehoben fühlt. Hier-
aus folgt, daß eine Kunst um so mehr Befähigung zur
Darstellung des Reizenden haben muß, je näher sie von
Seiten der ihr vorschwebenden Schönheitsidee und des
ihr zu Gebot stehenden Darstellungsmaterials dem Be-
griff der Bewegung einerseits und dem der Sensualität
andererseits steht. Der Malerei stehen in dieser Hin-
sicht alle jene Effekte zu Gebot, welche durch die Mo-
difikationen des Lichts und des Dunkels, des Clairobscür
und des Colorits, durch die Zauber des Jncarnats, durch
die Nachbildung des Nackten und halb Verhüllten, durch
eine sinnlichere und bewegtere Behandlung der Formen,
durch die Wahl pikanter Situationen und Handlungen
zu erreichen sind, und sie ist in diesem Betracht na-
mentlich gegen die Architektur und Skulptur sehr im
Vortheil. Jn so fern sie die Schönheitsidee als die
lebendige Wechselbeziehung zwischen Mikrokosmos und
Makrokosmos, zwischen Mensch und Natur, zwischen
Geist und Materie faßt, ist gerade die Welt der Sinne
und Reize von wesentlicher Bedeutung, weil eben in
ihr jene Wechselbeziehung des Menschlichen und Natür-
lichen, jener zwischen Produktion und Reception, Action
und Reaction wechselnde Proceß des Lebens und der
Weltgeschichte vor sich geht. Sie kann sich daher, sofern
sie nur nicht gegen das Schöne überhaupt verstößt, die
Darstellung des Reizenden geradezu zur Hauptaufgabe
bei ihren Werken machen, ohne daß sie darüber ihrer
Jdee untreu würde; und auch in solchen Produktionen,
die der Darstellung des Reinschönen, Erhabenen, Tra-
gischen gewidmet sind, wird sie nicht umhin können,
dem Reiz neben der Form und Größe eine wichtigere
Rolle als ihre beiden Schwesterkünste einzuräumen."

[Ende Spaltensatz]
* Wie man in einem Farbenkreuze die sich zur Totalität ergänzenden Farben als Gegensätze einander gegenüber
stellt, so hat Zeising sechs Grundbegriffe in Bezug auf die Jdee des Schönen und ihre Verwirklichung angenommen, die
in ähnlicher Weise einander begrenzen, in einander überleiten und als Gegensätze einander entsprechen. Sein gründ-
liches und geistreiches Buch sollte kein Freund der Betrachtung des Schönen und der Kunst unstudirt lassen. Sein Schema
ist folgendes:
[Abbildung]

[Beginn Spaltensatz] als die Plastik; statt das Jdeal als solches im Einzel-
nen zu realisiren, idealisirt sie das Wirkliche von der
Fülle der Erscheinungen und ihrer Naturbestimmtheit
aus. Gerade auf die Abweichungen von der reinen
Schönheitslinie muß sie Nachdruck legen, um der Be-
sonderheit das eigene unterscheidende Gepräge zu gewäh-
ren; ja es ist ihr vergönnt, durch die Carricatur zu
ergötzen, indem sie das Charakteristische eines Gesichts
oder einer Gestalt übertreibt und zum einzig Domini-
renden macht. Sie verleiht den Dingen den schönen
Schein und die sinnliche Verklärung durch die Harmonie
der Farben.

Jn dem Reize, welchen die Farben jede für sich wie
in ihrer Zusammenstimmung dem Auge gewähren, ist
ein materielleres Wohlgefühl enthalten als in der Er-
kenntniß der Form. Alles Schöne ist als Erscheinung
der Jdee zugleich ein geistig Unendliches, zugleich ein
sinnlich Begrenztes; als solches hat es seine Ausdehnung
in Raum oder Zeit, seine Größe, und eine Form, welche
diese umschreibt, zugleich aber eine eigenthümliche Rea-
lität, einen stofflichen Jnhalt, etwas Qualitatives, das
in der Form seine quantitative Bestimmtheit empfängt.
Wirkt nun in der Architektur vorzugsweise die Größe,
spricht uns in der Sculptur hauptsächlich die reine Form
an, so legt die Malerei den Nachdruck auf die Empfin-
dung, welche die stoffliche Realität der Dinge, in ihrem
Verhalten zum Licht sich offenbarend, auf unsere Sinne
macht. Durch den sinnlichen Reiz der Farbe vermittelt
sich ihr, vermittelt sie uns das Bild der Welt.

Adolf Zeising, der in seinen ästhetischen Forschun-
gen die einzelnen Künste darnach betrachtet, wie sich die
von ihm aufgestellten Kategorien * in ihnen aussprechen,
stimmt in folgenden Bemerkungen mit unserer Entwick-
lung überein. Er sagt unter anderem: „Das Reizende
beruht auf einer entgegenkommenden Hingebung des
[Spaltenumbruch] Objekts an das Subjekt und auf einer solchen Affektion
der Sinne, daß sich das Subjekt durch die sich ihm
mittheilenden stofflich sensualen Qualitäten des Ob-
jekts in seinem Wesen ergänzt und gehoben fühlt. Hier-
aus folgt, daß eine Kunst um so mehr Befähigung zur
Darstellung des Reizenden haben muß, je näher sie von
Seiten der ihr vorschwebenden Schönheitsidee und des
ihr zu Gebot stehenden Darstellungsmaterials dem Be-
griff der Bewegung einerseits und dem der Sensualität
andererseits steht. Der Malerei stehen in dieser Hin-
sicht alle jene Effekte zu Gebot, welche durch die Mo-
difikationen des Lichts und des Dunkels, des Clairobscür
und des Colorits, durch die Zauber des Jncarnats, durch
die Nachbildung des Nackten und halb Verhüllten, durch
eine sinnlichere und bewegtere Behandlung der Formen,
durch die Wahl pikanter Situationen und Handlungen
zu erreichen sind, und sie ist in diesem Betracht na-
mentlich gegen die Architektur und Skulptur sehr im
Vortheil. Jn so fern sie die Schönheitsidee als die
lebendige Wechselbeziehung zwischen Mikrokosmos und
Makrokosmos, zwischen Mensch und Natur, zwischen
Geist und Materie faßt, ist gerade die Welt der Sinne
und Reize von wesentlicher Bedeutung, weil eben in
ihr jene Wechselbeziehung des Menschlichen und Natür-
lichen, jener zwischen Produktion und Reception, Action
und Reaction wechselnde Proceß des Lebens und der
Weltgeschichte vor sich geht. Sie kann sich daher, sofern
sie nur nicht gegen das Schöne überhaupt verstößt, die
Darstellung des Reizenden geradezu zur Hauptaufgabe
bei ihren Werken machen, ohne daß sie darüber ihrer
Jdee untreu würde; und auch in solchen Produktionen,
die der Darstellung des Reinschönen, Erhabenen, Tra-
gischen gewidmet sind, wird sie nicht umhin können,
dem Reiz neben der Form und Größe eine wichtigere
Rolle als ihre beiden Schwesterkünste einzuräumen.“

[Ende Spaltensatz]
* Wie man in einem Farbenkreuze die sich zur Totalität ergänzenden Farben als Gegensätze einander gegenüber
stellt, so hat Zeising sechs Grundbegriffe in Bezug auf die Jdee des Schönen und ihre Verwirklichung angenommen, die
in ähnlicher Weise einander begrenzen, in einander überleiten und als Gegensätze einander entsprechen. Sein gründ-
liches und geistreiches Buch sollte kein Freund der Betrachtung des Schönen und der Kunst unstudirt lassen. Sein Schema
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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 47. Stuttgart/Tübingen, 23. November 1856, S. 1106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt47_1856/2>, abgerufen am 23.11.2024.