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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 47. Stuttgart/Tübingen, 23. November 1856.

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[Beginn Spaltensatz] Höhe erstiegen, die der Geist verkündet. Jhm fehlt
der Glaube an die höchste Einheit, und der Selbstent-
äußerung in sittlichem Gefühl ist er unfähig. Es
gibt edlere Klänge in der Poesie, als die er angeschla-
gen; es gibt Schriftsteller, schwächer an Begabung, deren
Ton reiner ist und mehr zum Herzen dringt. Goethe
kann den Menschen eigentlich niemals lieb werden. Sein
Cultus galt nicht einmal der Wahrheit an sich, nur
der Wahrheit um der Bildung willen. Sein Ziel ist
kein geringeres, als die Wahrheit zu erringen -- für sich,
ein Mann zu seyn, den nichts bestechen, nichts täu-
schen, nichts blenden kann, voll stoischer Selbstbeherr-
schung und Selbstverläugnung, ein Mann, dem alle
Menschen nur so viel gelten, als sie Antwort wissen
auf die Frage: "Was könnt ihr mich lehren?" Nur
darnach bestimmen sich ihm in ihrem Werthe alle Güter
der Welt, Rang, Vorrechte, Gesundheit, Zeit und das
Daseyn selbst.

Goethe ist der wahre Typus der Geistescultur,
Dilettant in allen Künsten, Wissenschaften und Kennt-
nissen, künstlerisch, und doch kein Künstler, voll Geist, und
doch kein Geistgläubiger. Es ist nichts in der Welt,
das zu wissen er nicht ein Recht gehabt; es gibt keine
Waffe in der Rüstkammer des Geistes, die er nicht zur
Hand genommen hätte, aber nie, ohne auf's entschie-
denste darauf zu achten, daß ihn seine Werkzeuge nicht
zu einem vorschnellen Urtheil fortrissen. Auf jegliches
Ding läßt er einen Lichtstrahl fallen, ja läßt ihn zwi-
schen sich und sein liebstes Eigenthum dringen. Jhm
war nichts verborgen, nichts vorenthalten. Die lauern-
den Dämonen saßen ihm, und der Heilige, der die
Dämonen gesehen, und das Uebersinnliche verkörperte
sich ihm. "Die Gottesfurcht ist an sich kein Ziel, sondern
nur das Mittel, wodurch man bei dem reinsten innern
Frieden die höchste Cultur erreichen kann." Wo er
liebt, da muß ihm die Neigung dienen, wie dem Cicero
die Weiber, die für ihn den Verschworenen ihr Ge-
heimniß ablockten. Feindschaften -- solche hat er gar
nicht. Sein Feind magst du immerhin seyn, wenn du
ihn als solcher etwas lehrst, was dein guter Wille ihm
nicht böte, und wäre es nichts als die Erfahrung, die
er macht, wenn du zu Schanden wirst. Willkommen
Feind, aber Feind in hohem Sinne! Er kann nie-
mand hassen, seine Zeit ist ihm zu kostbar dazu. Geg-
nerschaften aus Temperament mag er sich gefallen lassen,
aber er nimmt sie wie der Kaiser die Fehden, die er
im Reich mit Würde ausficht.

Seiner Selbstbiographie unter dem Titel: " Dich-
tung und Wahrheit aus meinem Leben," liegt der Ge-
danke zu Grunde, mit dem wir jetzt durch den deut-
schen Geist vertraut sind, der aber, als das Buch er-
[Spaltenumbruch] schien, für Alt= und Neuengland neu war, der Gedanke,
daß der Mensch um der Cultur willen da ist, nicht
um dessen willen, was er alles thun und erreichen, son-
dern um dessen willen, was in ihm entwickelt werden
kann. Was die Außendinge im Menschen wirken, nur
das ist der Aufzeichnung werth. So mag sich denn
der begabte Mensch als eine dritte Person ansehen, und
so sind ihm seine Fehler und Jrrungen so interessant,
wie seine erfolgreichen Schritte. Jmmerhin wünscht er sich
selbst Wohlergehen, aber Erkenntniß des Wesens und
Geschicks des Menschen ist ihm noch wünschenswerther,
während die selbstsüchtige Menge um ihn her nur nach
ärmlichen Erfolgen jagt.

Diese Jdee herrscht in Dichtung und Wahrheit,
und nach ihr bestimmt sich die Wahl der erzählten Be-
gebnisse, keineswegs nach der äußern Bedeutung des
Geschehens oder nach Rang und Vermögen der auftre-
tenden Personen. Natürlich bietet damit das Buch
nur wenig Material zu einem "Leben Goethes," wie
wir uns ein solches vorstellen, wenig eigentliche Daten,
keine Correspondenz, keine Angabe über Amt und Ge-
schäft, keinen Aufschluß über sein eheliches Verhältniß,
und ein Abschnitt von zehn Jahren, gerade der reichste
an äußerer Thätigkeit, die Zeit nach seiner Uebersiede-
lung nach Weimar, ist ganz mit Stillschweigen über-
gangen. Statt dessen legt er auf etliche Liebeshändel,
die, wie man zu sagen pflegt, zu nichts geführt haben,
den absonderlichsten Werth, und hier malter in's Einzelnste.
Gewisse wunderliche Ansichten, Cosmogonien und Glau-
bensformen eigener Erfindung, zumal aber sein Ver-
hältniß zu bedeutenden Köpfen und zu neuen Geistes-
strömungen -- in alle dem ist er sehr ausführlich.
Seine Tag = und Jahrbücher, seine italienische Reise,
sein Feldzug in Frankreich und der historische Theil seiner
Farbenlehre sind im selben Geist gehalten. Jn der letzteren
schildert er mit kurzen Worten Männer wie Roger Baco,
Kepler, Galilei, Newton, Voltaire u. s. w., und der
Reiz dieses Abschnitts des Buchs besteht einfach darin,
daß gezeigt wird, wie sich diese Größen in der Geschichte
der Wissenschaft zu ihm selbst verhalten, daß er von
Goethe zu Baco, von Goethe zu Kepler, von Goethe
zu Newton Linien zieht. Mit diesem Linienziehen löst
er für seine Zeit und für sich ein sehr ernstes Problem,
und unterhält sich dabei, wenn ihn Faust und Jphi-
genie eben nicht anziehen, und mit unendlich weniger
geistigem Aufwand als bei Faust und Jphigenie.

Dieser Gesetzgeber der Kunst ist nicht Künstler.
Vielleicht daß er dazu zu viel wußte, daß sein Blick
zu mikroscopisch war, als daß er für die richtige Per-
spective und das Total ein Auge haben konnte. Er ist
fragmentarisch; er schreibt Gelegenheitsgedichte, und er
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] Höhe erstiegen, die der Geist verkündet. Jhm fehlt
der Glaube an die höchste Einheit, und der Selbstent-
äußerung in sittlichem Gefühl ist er unfähig. Es
gibt edlere Klänge in der Poesie, als die er angeschla-
gen; es gibt Schriftsteller, schwächer an Begabung, deren
Ton reiner ist und mehr zum Herzen dringt. Goethe
kann den Menschen eigentlich niemals lieb werden. Sein
Cultus galt nicht einmal der Wahrheit an sich, nur
der Wahrheit um der Bildung willen. Sein Ziel ist
kein geringeres, als die Wahrheit zu erringen — für sich,
ein Mann zu seyn, den nichts bestechen, nichts täu-
schen, nichts blenden kann, voll stoischer Selbstbeherr-
schung und Selbstverläugnung, ein Mann, dem alle
Menschen nur so viel gelten, als sie Antwort wissen
auf die Frage: „Was könnt ihr mich lehren?“ Nur
darnach bestimmen sich ihm in ihrem Werthe alle Güter
der Welt, Rang, Vorrechte, Gesundheit, Zeit und das
Daseyn selbst.

Goethe ist der wahre Typus der Geistescultur,
Dilettant in allen Künsten, Wissenschaften und Kennt-
nissen, künstlerisch, und doch kein Künstler, voll Geist, und
doch kein Geistgläubiger. Es ist nichts in der Welt,
das zu wissen er nicht ein Recht gehabt; es gibt keine
Waffe in der Rüstkammer des Geistes, die er nicht zur
Hand genommen hätte, aber nie, ohne auf's entschie-
denste darauf zu achten, daß ihn seine Werkzeuge nicht
zu einem vorschnellen Urtheil fortrissen. Auf jegliches
Ding läßt er einen Lichtstrahl fallen, ja läßt ihn zwi-
schen sich und sein liebstes Eigenthum dringen. Jhm
war nichts verborgen, nichts vorenthalten. Die lauern-
den Dämonen saßen ihm, und der Heilige, der die
Dämonen gesehen, und das Uebersinnliche verkörperte
sich ihm. „Die Gottesfurcht ist an sich kein Ziel, sondern
nur das Mittel, wodurch man bei dem reinsten innern
Frieden die höchste Cultur erreichen kann.“ Wo er
liebt, da muß ihm die Neigung dienen, wie dem Cicero
die Weiber, die für ihn den Verschworenen ihr Ge-
heimniß ablockten. Feindschaften — solche hat er gar
nicht. Sein Feind magst du immerhin seyn, wenn du
ihn als solcher etwas lehrst, was dein guter Wille ihm
nicht böte, und wäre es nichts als die Erfahrung, die
er macht, wenn du zu Schanden wirst. Willkommen
Feind, aber Feind in hohem Sinne! Er kann nie-
mand hassen, seine Zeit ist ihm zu kostbar dazu. Geg-
nerschaften aus Temperament mag er sich gefallen lassen,
aber er nimmt sie wie der Kaiser die Fehden, die er
im Reich mit Würde ausficht.

Seiner Selbstbiographie unter dem Titel: „ Dich-
tung und Wahrheit aus meinem Leben,“ liegt der Ge-
danke zu Grunde, mit dem wir jetzt durch den deut-
schen Geist vertraut sind, der aber, als das Buch er-
[Spaltenumbruch] schien, für Alt= und Neuengland neu war, der Gedanke,
daß der Mensch um der Cultur willen da ist, nicht
um dessen willen, was er alles thun und erreichen, son-
dern um dessen willen, was in ihm entwickelt werden
kann. Was die Außendinge im Menschen wirken, nur
das ist der Aufzeichnung werth. So mag sich denn
der begabte Mensch als eine dritte Person ansehen, und
so sind ihm seine Fehler und Jrrungen so interessant,
wie seine erfolgreichen Schritte. Jmmerhin wünscht er sich
selbst Wohlergehen, aber Erkenntniß des Wesens und
Geschicks des Menschen ist ihm noch wünschenswerther,
während die selbstsüchtige Menge um ihn her nur nach
ärmlichen Erfolgen jagt.

Diese Jdee herrscht in Dichtung und Wahrheit,
und nach ihr bestimmt sich die Wahl der erzählten Be-
gebnisse, keineswegs nach der äußern Bedeutung des
Geschehens oder nach Rang und Vermögen der auftre-
tenden Personen. Natürlich bietet damit das Buch
nur wenig Material zu einem „Leben Goethes,“ wie
wir uns ein solches vorstellen, wenig eigentliche Daten,
keine Correspondenz, keine Angabe über Amt und Ge-
schäft, keinen Aufschluß über sein eheliches Verhältniß,
und ein Abschnitt von zehn Jahren, gerade der reichste
an äußerer Thätigkeit, die Zeit nach seiner Uebersiede-
lung nach Weimar, ist ganz mit Stillschweigen über-
gangen. Statt dessen legt er auf etliche Liebeshändel,
die, wie man zu sagen pflegt, zu nichts geführt haben,
den absonderlichsten Werth, und hier malter in's Einzelnste.
Gewisse wunderliche Ansichten, Cosmogonien und Glau-
bensformen eigener Erfindung, zumal aber sein Ver-
hältniß zu bedeutenden Köpfen und zu neuen Geistes-
strömungen — in alle dem ist er sehr ausführlich.
Seine Tag = und Jahrbücher, seine italienische Reise,
sein Feldzug in Frankreich und der historische Theil seiner
Farbenlehre sind im selben Geist gehalten. Jn der letzteren
schildert er mit kurzen Worten Männer wie Roger Baco,
Kepler, Galilei, Newton, Voltaire u. s. w., und der
Reiz dieses Abschnitts des Buchs besteht einfach darin,
daß gezeigt wird, wie sich diese Größen in der Geschichte
der Wissenschaft zu ihm selbst verhalten, daß er von
Goethe zu Baco, von Goethe zu Kepler, von Goethe
zu Newton Linien zieht. Mit diesem Linienziehen löst
er für seine Zeit und für sich ein sehr ernstes Problem,
und unterhält sich dabei, wenn ihn Faust und Jphi-
genie eben nicht anziehen, und mit unendlich weniger
geistigem Aufwand als bei Faust und Jphigenie.

Dieser Gesetzgeber der Kunst ist nicht Künstler.
Vielleicht daß er dazu zu viel wußte, daß sein Blick
zu mikroscopisch war, als daß er für die richtige Per-
spective und das Total ein Auge haben konnte. Er ist
fragmentarisch; er schreibt Gelegenheitsgedichte, und er
[Ende Spaltensatz]

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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 47. Stuttgart/Tübingen, 23. November 1856, S. 1119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt47_1856/15>, abgerufen am 21.11.2024.