Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 47. Stuttgart/Tübingen, 23. November 1856.Korrespondenz-Nachrichten. Genf, Oktober. Die Kunstausstellung. -- Fremde. -- Verbrechen. Jn meinem letzten Brief versprach ich einige Mit- Genf ist eine kosmopolitische Stadt; die Bevölkerung, Wir konnten uns dieser Bemerkung nicht entschlagen, Das Verzeichniß führte gegen sechshundert Nummern Ueber den Zustand der helvetischen Historienmalerei Korrespondenz-Nachrichten. Genf, Oktober. Die Kunstausstellung. — Fremde. — Verbrechen. Jn meinem letzten Brief versprach ich einige Mit- Genf ist eine kosmopolitische Stadt; die Bevölkerung, Wir konnten uns dieser Bemerkung nicht entschlagen, Das Verzeichniß führte gegen sechshundert Nummern Ueber den Zustand der helvetischen Historienmalerei <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0019" n="1123"/> <fw type="pageNum" place="top">1123</fw><lb/> <div n="1"> <head> <hi rendition="#fr">Korrespondenz-Nachrichten.</hi> </head><lb/> <div type="jArticle" n="2"> <head>Genf, <date>Oktober</date>.</head><lb/> <argument> <p>Die Kunstausstellung. — Fremde. — Verbrechen.</p> </argument><lb/> <cb type="start"/> <p>Jn meinem letzten Brief versprach ich einige Mit-<lb/> theilungen über die helvetische Kunstausstellung, welche<lb/> auf ihrem Rundgang durch die Hauptstädte der Schweiz<lb/> vom 25. August bis zum 22. September in Genf weilte;<lb/> und obgleich nun bereits ein Monat seit ihrem Schluß<lb/> verflossen ist, gestatten Sie mir doch wohl, meinem Ver-<lb/> sprechen noch nachträglich mit einigen gedrängten Bemer-<lb/> kungen nachzukommen. </p><lb/> <p>Genf ist eine kosmopolitische Stadt; die Bevölkerung,<lb/> aus sehr verschiedenen Nationalitäten hervorgegangen und<lb/> seit Jahrhunderten durch eine bunte Einwanderung beson-<lb/> ders religiöser und politischer Flüchtlinge aus allen Län-<lb/> dern verstärkt, hat die engeren nationalen Schranken<lb/> überwunden und huldigt in Politik wie in Kunst und<lb/> Wissenschaft allgemeineren, ächt humanen Grundsätzen,<lb/> deren Kern sich zusammenfaßt in dem Begriff des freien<lb/> Menschenthums, in welchem nationale, politische, con-<lb/> fessionelle, sociale Beschränkungen ihre nothwendige Lösung<lb/> und Aufhebung finden. Das sind Ansichten, die im Aus-<lb/> lande seit Rousseau, seit den Revolutionen in der zweiten<lb/> Hälfte des vorigen Jahrhunderts vielfach verbreitet, na-<lb/> mentlich auch von den deutschen demokratischen Jdealpoli-<lb/> tikern seit dem Jahr 1846 häufig im Munde geführt und<lb/> von den Nationalgenfern zum großen Theil bestens accep-<lb/> tirt worden sind. Nun soll auch nicht behauptet werden,<lb/> daß dieser Ansicht nicht eine gewisse Wahrheit zu Grunde<lb/> liege, auch nicht, daß das „weltbürgerliche Bewußtseyn“<lb/> unter den Massen in Genf in neuerer Zeit nicht wirk-<lb/> lich immer größeren Eingang findet. Wie könnte dieß<lb/> auch anders seyn in einem kleinen Staate von ( nach der<lb/> Volkszählung von 1850 ) 63,932 Einwohnern, von wel-<lb/> chen nur 39,756 Eingeborene, die übrigen aber Fremde<lb/> ( darunter 15,142 Nichtschweizer ) sind? Trotz dieser Zuge-<lb/> ständnisse aber wird jedermann, der einige Jahre in Genf<lb/> weilte, mit uns dahin einverstanden seyn, daß jene An-<lb/> sichten über den kosmopolitischen Charakter des Genfer-<lb/> thums wesentlich zu modifieiren sind. Ja, er wird zuge-<lb/> ben müssen, daß noch ganz auffallende Reste jenes Kirch-<lb/> thurmpatriotismus, über welchen der Philosoph von<lb/> Ferney seinen bittern Spott so oft ergoß, vorhanden sind,<lb/> wenn er bemerkt, wie in gewissen Kreisen, und zwar in<lb/> solchen, die noch bis vor wenigen Jahren die leitenden<lb/> in öffentlichen Dingen waren, und welche auch noch jetzt,<lb/> wenn nicht in der Politik, so doch in dem literarischen<lb/> und künstlerischen Leben der Lemanischen Republik höchst<lb/> einflußreich sind — wie in solchen Kreisen, sage ich, mit<lb/> besonderer Betonung von einer » <hi rendition="#aq">Nation Genèvoise</hi>,« von<lb/> einer Genfer Literatur und von einer Genfer Kunst und<lb/><cb n="2"/> Wissenschaft die Rede ist, und diese „Nation“ den Völkern,<lb/> diese Kunst und diese Literatur mit großer Selbstgenüg-<lb/> samkeit der sprach= und geistverwandten französischen und<lb/> confessionsverwandten protestantischen deutschen Literatur<lb/> und Wissenschaft entgegen gestellt wird. Wir gestehen gern<lb/> jeder, auch der Kleinsten Bevölkerung eines eigenthümlich<lb/> ausgebildeten Gemeinwesens das Recht der Besonderheit<lb/> und die Freude an ihrer eigenen charakteristischen Eigen-<lb/> thümlichkeit zu; wir ziehen diese Eigenartigkeit sogar ent-<lb/> schieden der charakterlosen Verschwommenheit und Farb-<lb/> losigkeit vieler weit größeren Staaten und Städte vor.<lb/> Aber jedes Ding hat seine Grenzen, und auch die nationale<lb/> Selbstgenügsamkeit hat diese, in Sachen der Kunst und<lb/> Wissenschaft ganz besonders, streng einzuhalten, wenn sie<lb/> nicht in ihr komisches Extrem überschlagen will. </p><lb/> <p>Wir konnten uns dieser Bemerkung nicht entschlagen,<lb/> als wir die Bedenken hörten, welche in gewissen kunst-<lb/> freundlichen Kreisen der Lemanstadt, nicht minder wie in<lb/> einigen öffentlichen Blättern von Genf und Lausanne in<lb/> Betreff der ersten helvetischen Kunstausstellung, welche in<lb/> ihre Mauern einzog, sich vernehmen ließen. Wozu eine<lb/> helvetische Ausstellung, wozu ein Zusammenfluß aller dieser<lb/> Produktionen fremder Künstler in unsern Mauern? Haben<lb/> wir doch unsere eigene Kunst; sie hat uns bisher genügt<lb/> und wird uns auch ferner genügen, und unsere Maler<lb/> glänzen doch als erste Sterne am Himmel der europäischen<lb/> Kunst; wozu also Neues und Fremdes und Unbekanntes<lb/> nach Genf bringen? So etwa lauteten diese bald mit<lb/> größerer Offenheit, bald versteckter ausgesprochenen Beden-<lb/> ken. Schon das gemischte Comit <hi rendition="#aq">é</hi> der Ausstellung in Genf,<lb/> zusammengesetzt aus Mitgliedern des „Jnstitut Genevois.“<lb/> der „Soci <hi rendition="#aq">é</hi>t <hi rendition="#aq">é</hi> des Arts“ und des Vereins zur Förderung<lb/> der schönen Künste war als eine „Fusion verschiedener po-<lb/> litischer Elemente“ vielen eine zu ungewohnte Erscheinung,<lb/> um nicht vielfach bekrittelt zu werden. 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1123
Korrespondenz-Nachrichten.
Genf, Oktober.
Die Kunstausstellung. — Fremde. — Verbrechen.
Jn meinem letzten Brief versprach ich einige Mit-
theilungen über die helvetische Kunstausstellung, welche
auf ihrem Rundgang durch die Hauptstädte der Schweiz
vom 25. August bis zum 22. September in Genf weilte;
und obgleich nun bereits ein Monat seit ihrem Schluß
verflossen ist, gestatten Sie mir doch wohl, meinem Ver-
sprechen noch nachträglich mit einigen gedrängten Bemer-
kungen nachzukommen.
Genf ist eine kosmopolitische Stadt; die Bevölkerung,
aus sehr verschiedenen Nationalitäten hervorgegangen und
seit Jahrhunderten durch eine bunte Einwanderung beson-
ders religiöser und politischer Flüchtlinge aus allen Län-
dern verstärkt, hat die engeren nationalen Schranken
überwunden und huldigt in Politik wie in Kunst und
Wissenschaft allgemeineren, ächt humanen Grundsätzen,
deren Kern sich zusammenfaßt in dem Begriff des freien
Menschenthums, in welchem nationale, politische, con-
fessionelle, sociale Beschränkungen ihre nothwendige Lösung
und Aufhebung finden. Das sind Ansichten, die im Aus-
lande seit Rousseau, seit den Revolutionen in der zweiten
Hälfte des vorigen Jahrhunderts vielfach verbreitet, na-
mentlich auch von den deutschen demokratischen Jdealpoli-
tikern seit dem Jahr 1846 häufig im Munde geführt und
von den Nationalgenfern zum großen Theil bestens accep-
tirt worden sind. Nun soll auch nicht behauptet werden,
daß dieser Ansicht nicht eine gewisse Wahrheit zu Grunde
liege, auch nicht, daß das „weltbürgerliche Bewußtseyn“
unter den Massen in Genf in neuerer Zeit nicht wirk-
lich immer größeren Eingang findet. Wie könnte dieß
auch anders seyn in einem kleinen Staate von ( nach der
Volkszählung von 1850 ) 63,932 Einwohnern, von wel-
chen nur 39,756 Eingeborene, die übrigen aber Fremde
( darunter 15,142 Nichtschweizer ) sind? Trotz dieser Zuge-
ständnisse aber wird jedermann, der einige Jahre in Genf
weilte, mit uns dahin einverstanden seyn, daß jene An-
sichten über den kosmopolitischen Charakter des Genfer-
thums wesentlich zu modifieiren sind. Ja, er wird zuge-
ben müssen, daß noch ganz auffallende Reste jenes Kirch-
thurmpatriotismus, über welchen der Philosoph von
Ferney seinen bittern Spott so oft ergoß, vorhanden sind,
wenn er bemerkt, wie in gewissen Kreisen, und zwar in
solchen, die noch bis vor wenigen Jahren die leitenden
in öffentlichen Dingen waren, und welche auch noch jetzt,
wenn nicht in der Politik, so doch in dem literarischen
und künstlerischen Leben der Lemanischen Republik höchst
einflußreich sind — wie in solchen Kreisen, sage ich, mit
besonderer Betonung von einer » Nation Genèvoise,« von
einer Genfer Literatur und von einer Genfer Kunst und
Wissenschaft die Rede ist, und diese „Nation“ den Völkern,
diese Kunst und diese Literatur mit großer Selbstgenüg-
samkeit der sprach= und geistverwandten französischen und
confessionsverwandten protestantischen deutschen Literatur
und Wissenschaft entgegen gestellt wird. Wir gestehen gern
jeder, auch der Kleinsten Bevölkerung eines eigenthümlich
ausgebildeten Gemeinwesens das Recht der Besonderheit
und die Freude an ihrer eigenen charakteristischen Eigen-
thümlichkeit zu; wir ziehen diese Eigenartigkeit sogar ent-
schieden der charakterlosen Verschwommenheit und Farb-
losigkeit vieler weit größeren Staaten und Städte vor.
Aber jedes Ding hat seine Grenzen, und auch die nationale
Selbstgenügsamkeit hat diese, in Sachen der Kunst und
Wissenschaft ganz besonders, streng einzuhalten, wenn sie
nicht in ihr komisches Extrem überschlagen will.
Wir konnten uns dieser Bemerkung nicht entschlagen,
als wir die Bedenken hörten, welche in gewissen kunst-
freundlichen Kreisen der Lemanstadt, nicht minder wie in
einigen öffentlichen Blättern von Genf und Lausanne in
Betreff der ersten helvetischen Kunstausstellung, welche in
ihre Mauern einzog, sich vernehmen ließen. Wozu eine
helvetische Ausstellung, wozu ein Zusammenfluß aller dieser
Produktionen fremder Künstler in unsern Mauern? Haben
wir doch unsere eigene Kunst; sie hat uns bisher genügt
und wird uns auch ferner genügen, und unsere Maler
glänzen doch als erste Sterne am Himmel der europäischen
Kunst; wozu also Neues und Fremdes und Unbekanntes
nach Genf bringen? So etwa lauteten diese bald mit
größerer Offenheit, bald versteckter ausgesprochenen Beden-
ken. Schon das gemischte Comit é der Ausstellung in Genf,
zusammengesetzt aus Mitgliedern des „Jnstitut Genevois.“
der „Soci ét é des Arts“ und des Vereins zur Förderung
der schönen Künste war als eine „Fusion verschiedener po-
litischer Elemente“ vielen eine zu ungewohnte Erscheinung,
um nicht vielfach bekrittelt zu werden. Doch diese Bedenken,
denen übrigens die großen Massen, so weit sich diese für
Kunst interessiren, weniger ihr Ohr liehen, verstummten
zum Theil, als die Eröffnung der ersten schweizerischen
Kunstausstellung in Genf eine vollendete Thatsache war.
Das Verzeichniß führte gegen sechshundert Nummern
auf, welche in den weiten Räumen des neuen Wahlpalais
am Boulevard de Neuve aufgestellt waren. Wir können
natürlich hier nicht die Absicht haben, einen ausführlichen
Kunstbericht zu liefern, müssen uns vielmehr darauf be-
schränken, nur einige Bilder hervorzuheben, welche Kritik
und Publikum besonders anzogen.
Ueber den Zustand der helvetischen Historienmalerei
herrscht bei den französisch schweizerischen Kritikern selbst
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