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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 47. Stuttgart/Tübingen, 23. November 1856.

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[Beginn Spaltensatz] Sammt, obgleich alle von seidenem Ursprung, bezeich-
nen sich anders dem Auge, und was kann uns mehr
reizen, mehr ergötzen, mehr täuschen und bezaubern,
als wenn wir auf einem Gemälde das Bestimmte, Leb-
hafte, Jndividuelle eines Gegenstandes, wodurch er
uns allein bekannt ist, wieder erblicken? Alle Darstel-
lung der Form ohne Farbe ist symbolisch, die Farbe
allein macht das Kunstwerk wahr, nähert es der Wirk-
lichkeit."

Doch möchte ich nicht mit Vischer die auf Farbe
und Naturwahrheit gerichtete Behandlung die ächt ma-
lerische nennen und die vorzugsweise auf die Form ge-
wandte als plastische bezeichnen, noch jene für das herr-
schende, diese für das nur relativ gültige Princip er-
klären, wohl aber mit dem genannten Aesthetiker die
Wechselseitigkeit beider Style als eine Lebensbedingung
der Malerei aufstellen. Denn ohne Form ist die Farbe
nicht einmal ein Kunstmittel, und die Zeichnung ist als
durchaus nothwendig auch ächt malerisch; das specifisch
Malerische darf allerdings die Farbe im Unterschied von
der reinen Form der Plastik heißen. Wir werden besser
zum Ziele gelangen, wenn wir vom Jnnern, von der
künstlerischen Auffassung ausgehen.

Der Maler kann bei dem darzustellenden Stoffe
zunächst dessen Bedeutung, die in ihm offenbare Jdee,
seinen Werth für die Welt und das menschliche Gemüth
in's Auge fassen, und alles ausscheiden, was die Auf-
merksamkeit von dieser Bedeutung des Gegenstandes
abziehen könnte. Es wird ihm, wenn er ein Kirchen-
bild malt, nicht auf die äußeren Umstände ankommen,
unter welchen eine Begebenheit der heiligen Geschichte
sich ereignet, sondern sie wird als etwas Ewiges vor
seiner Seele stehen, und das in ihr sich verkündende
Göttliche, ihren Zusammenhang mit der Erlösung und
sittlichen Heilsbeschaffung der Menschheit wird er aus-
zudrücken streben. Eben so wird ihm in der Weltge-
schichte das Bleibende, der Ausdruck der bewegenden
Gedanken und Geisteskräfte, der allgemeinen Culturele-
mente und der historischen Jdee das Erste seyn, und
er wird der Wirklichkeit nur dasjenige entnehmen, was
seinem Zwecke dient, und es diesem gemäß ordnend ge-
stalten. Oder der Maler kann von der äußern Wirk-
lichkeit ausgehen und die realen Verhältnisse und
Bedingungen des Geschehens wiedergeben. Er wird
dann auf Porträtähnlichkeit, auf das Costüm der Zeit,
auf die Treue und Genauigkeit im Detail Gewicht le-
gen, und in der Kraft oder dem Glanze, womit er die
Naturwahrheit wiedergibt, seinen Triumph feiern. Hier
wird also die Farbe und die mit ihr zusammenhängende
Schärfe in dem Hervorheben des psychologischen Aus-
drucks, dort die Composition des Ganzen, die Zeich-
[Spaltenumbruch] nung, die das Wesenhafte groß und rein gestaltet, vor-
walten.

Es ist dabei gar nicht zufällig oder gleichgültig,
für welche Gegenstände die ideale oder die naturalisti-
sche Behandlung angewandt wird. Wenn diese in einem
Kampf die äußere Anstrengung, die er kostet, den
Schmerz der Wunden und das Getümmel der Schlacht
in den Vordergrund stellt, und die Größe des Affekts
durch die Stärke seiner materiellen Aeußerung ausprägt,
so wird dieß für eine genremäßige Auffassung am Orte
oder gestattet seyn, und in Bildern aus der uns nahe
liegenden Geschichte, bei Dingen, die wir selber gesehen,
wo das Besondere allbekannt ist, wird die Costümtreue,
wird das Eingehen in die kleinen Besonderheiten der
Erscheinung eine berechtigte Forderung an den Künstler
seyn. Wo aber die Macht der Zeitferne bereits vieles
Einzelne zu einigen großen Massen und Gestalten ver-
schmolzen und mit ihrem idealen Schein verklärt hat,
bei mittelalterlicher oder antiker Geschichte, wird es uns
auf den Ausdruck des Geistes und der allgemeinen Cul-
turformen ankommen. Würde hier das Beiwerk mit
der Gründlichkeit und der Rücksicht auf die Wiedergabe
des Stofflichen in Gewand oder Geräth ausgeführt, die
wir auf Bildern der neueren Geschichte vertragen, so
würde es uns mehr noch als hier vom Wesentlichen
abziehen und die Beachtung des Unwesentlichen in den
Vordergrund stellen. Die naturalistische Weise würde
bei einer Gefangennehmung Christi sogleich an die
Mondnacht denken, und würde in der Doppelbeleuch-
tung durch den Mond und die Fackeln der Häscher einen
Licht= und Farbeneffekt erstreben, der das Auge gefan-
gen nähme, und den Gedanken, statt auf die geistige
Bedeutung der Sache, also zu dem Charakter Christi
und des Verräthers, zum Judaskuß und zur opferfreu-
digen Liebe hinzuführen, an optische Studien erinnern
und durch die Bewunderung künstlicher Reflexe an's
ganz Aeußerliche fesselte. Nicht der Seelenschmerz
der Jünger und durch ihn der Stimmungsausdruck jedes
christlichen Gemüths, sondern die Thätigkeit des Hal-
tens, Tragens, Herablassens, der Unterschied in der
Bewegung lebender und todter Körper wäre bei einer
Kreuzabnahme die Hauptsache. Leonardo da Vinci behan-
delt das Abendmahl, als ob es bei Tage gehalten wor-
den, die Gestalt Christi ist vom klaren blauen Him-
melslicht umflossen; es gilt dem Meister die innere
Größe des weltgeschichtlichen Moments, es gilt ihm die
Bewegung der Gemüther und den Kern der Charaktere
auf eine bedeutsame Weise zu veranschaulichen. Wir
wissen recht gut, daß sie damals nicht zu Tische saßen,
daß es Abend war; aber man denke sich die Jünger
um Christus halb liegend ausgestreckt, im orientalischen
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] Sammt, obgleich alle von seidenem Ursprung, bezeich-
nen sich anders dem Auge, und was kann uns mehr
reizen, mehr ergötzen, mehr täuschen und bezaubern,
als wenn wir auf einem Gemälde das Bestimmte, Leb-
hafte, Jndividuelle eines Gegenstandes, wodurch er
uns allein bekannt ist, wieder erblicken? Alle Darstel-
lung der Form ohne Farbe ist symbolisch, die Farbe
allein macht das Kunstwerk wahr, nähert es der Wirk-
lichkeit.“

Doch möchte ich nicht mit Vischer die auf Farbe
und Naturwahrheit gerichtete Behandlung die ächt ma-
lerische nennen und die vorzugsweise auf die Form ge-
wandte als plastische bezeichnen, noch jene für das herr-
schende, diese für das nur relativ gültige Princip er-
klären, wohl aber mit dem genannten Aesthetiker die
Wechselseitigkeit beider Style als eine Lebensbedingung
der Malerei aufstellen. Denn ohne Form ist die Farbe
nicht einmal ein Kunstmittel, und die Zeichnung ist als
durchaus nothwendig auch ächt malerisch; das specifisch
Malerische darf allerdings die Farbe im Unterschied von
der reinen Form der Plastik heißen. Wir werden besser
zum Ziele gelangen, wenn wir vom Jnnern, von der
künstlerischen Auffassung ausgehen.

Der Maler kann bei dem darzustellenden Stoffe
zunächst dessen Bedeutung, die in ihm offenbare Jdee,
seinen Werth für die Welt und das menschliche Gemüth
in's Auge fassen, und alles ausscheiden, was die Auf-
merksamkeit von dieser Bedeutung des Gegenstandes
abziehen könnte. Es wird ihm, wenn er ein Kirchen-
bild malt, nicht auf die äußeren Umstände ankommen,
unter welchen eine Begebenheit der heiligen Geschichte
sich ereignet, sondern sie wird als etwas Ewiges vor
seiner Seele stehen, und das in ihr sich verkündende
Göttliche, ihren Zusammenhang mit der Erlösung und
sittlichen Heilsbeschaffung der Menschheit wird er aus-
zudrücken streben. Eben so wird ihm in der Weltge-
schichte das Bleibende, der Ausdruck der bewegenden
Gedanken und Geisteskräfte, der allgemeinen Culturele-
mente und der historischen Jdee das Erste seyn, und
er wird der Wirklichkeit nur dasjenige entnehmen, was
seinem Zwecke dient, und es diesem gemäß ordnend ge-
stalten. Oder der Maler kann von der äußern Wirk-
lichkeit ausgehen und die realen Verhältnisse und
Bedingungen des Geschehens wiedergeben. Er wird
dann auf Porträtähnlichkeit, auf das Costüm der Zeit,
auf die Treue und Genauigkeit im Detail Gewicht le-
gen, und in der Kraft oder dem Glanze, womit er die
Naturwahrheit wiedergibt, seinen Triumph feiern. Hier
wird also die Farbe und die mit ihr zusammenhängende
Schärfe in dem Hervorheben des psychologischen Aus-
drucks, dort die Composition des Ganzen, die Zeich-
[Spaltenumbruch] nung, die das Wesenhafte groß und rein gestaltet, vor-
walten.

Es ist dabei gar nicht zufällig oder gleichgültig,
für welche Gegenstände die ideale oder die naturalisti-
sche Behandlung angewandt wird. Wenn diese in einem
Kampf die äußere Anstrengung, die er kostet, den
Schmerz der Wunden und das Getümmel der Schlacht
in den Vordergrund stellt, und die Größe des Affekts
durch die Stärke seiner materiellen Aeußerung ausprägt,
so wird dieß für eine genremäßige Auffassung am Orte
oder gestattet seyn, und in Bildern aus der uns nahe
liegenden Geschichte, bei Dingen, die wir selber gesehen,
wo das Besondere allbekannt ist, wird die Costümtreue,
wird das Eingehen in die kleinen Besonderheiten der
Erscheinung eine berechtigte Forderung an den Künstler
seyn. Wo aber die Macht der Zeitferne bereits vieles
Einzelne zu einigen großen Massen und Gestalten ver-
schmolzen und mit ihrem idealen Schein verklärt hat,
bei mittelalterlicher oder antiker Geschichte, wird es uns
auf den Ausdruck des Geistes und der allgemeinen Cul-
turformen ankommen. Würde hier das Beiwerk mit
der Gründlichkeit und der Rücksicht auf die Wiedergabe
des Stofflichen in Gewand oder Geräth ausgeführt, die
wir auf Bildern der neueren Geschichte vertragen, so
würde es uns mehr noch als hier vom Wesentlichen
abziehen und die Beachtung des Unwesentlichen in den
Vordergrund stellen. Die naturalistische Weise würde
bei einer Gefangennehmung Christi sogleich an die
Mondnacht denken, und würde in der Doppelbeleuch-
tung durch den Mond und die Fackeln der Häscher einen
Licht= und Farbeneffekt erstreben, der das Auge gefan-
gen nähme, und den Gedanken, statt auf die geistige
Bedeutung der Sache, also zu dem Charakter Christi
und des Verräthers, zum Judaskuß und zur opferfreu-
digen Liebe hinzuführen, an optische Studien erinnern
und durch die Bewunderung künstlicher Reflexe an's
ganz Aeußerliche fesselte. Nicht der Seelenschmerz
der Jünger und durch ihn der Stimmungsausdruck jedes
christlichen Gemüths, sondern die Thätigkeit des Hal-
tens, Tragens, Herablassens, der Unterschied in der
Bewegung lebender und todter Körper wäre bei einer
Kreuzabnahme die Hauptsache. Leonardo da Vinci behan-
delt das Abendmahl, als ob es bei Tage gehalten wor-
den, die Gestalt Christi ist vom klaren blauen Him-
melslicht umflossen; es gilt dem Meister die innere
Größe des weltgeschichtlichen Moments, es gilt ihm die
Bewegung der Gemüther und den Kern der Charaktere
auf eine bedeutsame Weise zu veranschaulichen. Wir
wissen recht gut, daß sie damals nicht zu Tische saßen,
daß es Abend war; aber man denke sich die Jünger
um Christus halb liegend ausgestreckt, im orientalischen
[Ende Spaltensatz]

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[1108/0004] 1108 Sammt, obgleich alle von seidenem Ursprung, bezeich- nen sich anders dem Auge, und was kann uns mehr reizen, mehr ergötzen, mehr täuschen und bezaubern, als wenn wir auf einem Gemälde das Bestimmte, Leb- hafte, Jndividuelle eines Gegenstandes, wodurch er uns allein bekannt ist, wieder erblicken? Alle Darstel- lung der Form ohne Farbe ist symbolisch, die Farbe allein macht das Kunstwerk wahr, nähert es der Wirk- lichkeit.“ Doch möchte ich nicht mit Vischer die auf Farbe und Naturwahrheit gerichtete Behandlung die ächt ma- lerische nennen und die vorzugsweise auf die Form ge- wandte als plastische bezeichnen, noch jene für das herr- schende, diese für das nur relativ gültige Princip er- klären, wohl aber mit dem genannten Aesthetiker die Wechselseitigkeit beider Style als eine Lebensbedingung der Malerei aufstellen. Denn ohne Form ist die Farbe nicht einmal ein Kunstmittel, und die Zeichnung ist als durchaus nothwendig auch ächt malerisch; das specifisch Malerische darf allerdings die Farbe im Unterschied von der reinen Form der Plastik heißen. Wir werden besser zum Ziele gelangen, wenn wir vom Jnnern, von der künstlerischen Auffassung ausgehen. Der Maler kann bei dem darzustellenden Stoffe zunächst dessen Bedeutung, die in ihm offenbare Jdee, seinen Werth für die Welt und das menschliche Gemüth in's Auge fassen, und alles ausscheiden, was die Auf- merksamkeit von dieser Bedeutung des Gegenstandes abziehen könnte. Es wird ihm, wenn er ein Kirchen- bild malt, nicht auf die äußeren Umstände ankommen, unter welchen eine Begebenheit der heiligen Geschichte sich ereignet, sondern sie wird als etwas Ewiges vor seiner Seele stehen, und das in ihr sich verkündende Göttliche, ihren Zusammenhang mit der Erlösung und sittlichen Heilsbeschaffung der Menschheit wird er aus- zudrücken streben. Eben so wird ihm in der Weltge- schichte das Bleibende, der Ausdruck der bewegenden Gedanken und Geisteskräfte, der allgemeinen Culturele- mente und der historischen Jdee das Erste seyn, und er wird der Wirklichkeit nur dasjenige entnehmen, was seinem Zwecke dient, und es diesem gemäß ordnend ge- stalten. Oder der Maler kann von der äußern Wirk- lichkeit ausgehen und die realen Verhältnisse und Bedingungen des Geschehens wiedergeben. Er wird dann auf Porträtähnlichkeit, auf das Costüm der Zeit, auf die Treue und Genauigkeit im Detail Gewicht le- gen, und in der Kraft oder dem Glanze, womit er die Naturwahrheit wiedergibt, seinen Triumph feiern. Hier wird also die Farbe und die mit ihr zusammenhängende Schärfe in dem Hervorheben des psychologischen Aus- drucks, dort die Composition des Ganzen, die Zeich- nung, die das Wesenhafte groß und rein gestaltet, vor- walten. Es ist dabei gar nicht zufällig oder gleichgültig, für welche Gegenstände die ideale oder die naturalisti- sche Behandlung angewandt wird. Wenn diese in einem Kampf die äußere Anstrengung, die er kostet, den Schmerz der Wunden und das Getümmel der Schlacht in den Vordergrund stellt, und die Größe des Affekts durch die Stärke seiner materiellen Aeußerung ausprägt, so wird dieß für eine genremäßige Auffassung am Orte oder gestattet seyn, und in Bildern aus der uns nahe liegenden Geschichte, bei Dingen, die wir selber gesehen, wo das Besondere allbekannt ist, wird die Costümtreue, wird das Eingehen in die kleinen Besonderheiten der Erscheinung eine berechtigte Forderung an den Künstler seyn. Wo aber die Macht der Zeitferne bereits vieles Einzelne zu einigen großen Massen und Gestalten ver- schmolzen und mit ihrem idealen Schein verklärt hat, bei mittelalterlicher oder antiker Geschichte, wird es uns auf den Ausdruck des Geistes und der allgemeinen Cul- turformen ankommen. Würde hier das Beiwerk mit der Gründlichkeit und der Rücksicht auf die Wiedergabe des Stofflichen in Gewand oder Geräth ausgeführt, die wir auf Bildern der neueren Geschichte vertragen, so würde es uns mehr noch als hier vom Wesentlichen abziehen und die Beachtung des Unwesentlichen in den Vordergrund stellen. Die naturalistische Weise würde bei einer Gefangennehmung Christi sogleich an die Mondnacht denken, und würde in der Doppelbeleuch- tung durch den Mond und die Fackeln der Häscher einen Licht= und Farbeneffekt erstreben, der das Auge gefan- gen nähme, und den Gedanken, statt auf die geistige Bedeutung der Sache, also zu dem Charakter Christi und des Verräthers, zum Judaskuß und zur opferfreu- digen Liebe hinzuführen, an optische Studien erinnern und durch die Bewunderung künstlicher Reflexe an's ganz Aeußerliche fesselte. Nicht der Seelenschmerz der Jünger und durch ihn der Stimmungsausdruck jedes christlichen Gemüths, sondern die Thätigkeit des Hal- tens, Tragens, Herablassens, der Unterschied in der Bewegung lebender und todter Körper wäre bei einer Kreuzabnahme die Hauptsache. Leonardo da Vinci behan- delt das Abendmahl, als ob es bei Tage gehalten wor- den, die Gestalt Christi ist vom klaren blauen Him- melslicht umflossen; es gilt dem Meister die innere Größe des weltgeschichtlichen Moments, es gilt ihm die Bewegung der Gemüther und den Kern der Charaktere auf eine bedeutsame Weise zu veranschaulichen. Wir wissen recht gut, daß sie damals nicht zu Tische saßen, daß es Abend war; aber man denke sich die Jünger um Christus halb liegend ausgestreckt, im orientalischen

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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 47. Stuttgart/Tübingen, 23. November 1856, S. 1108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt47_1856/4>, abgerufen am 11.06.2024.