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Das Pfennig=Magazin der Gesellschaft zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse. Nr. 177. Leipzig (Sachsen), 20. August 1836.

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Das Pfennig=Magazin.
[Beginn Spaltensatz] Theil derselben durch den geschickten Gärtner Trait, den
Jbrahim aus England kommen ließ, in einen reizenden
Garten umgewandelt worden, wo viele europäische und
tropische Pflanzen vortrefflich gedeihen.



Münchhausens Reisen.

Zu den vorübergegangenen literarischen Erscheinungen,
die einst viel Aufsehen machten, gehören die wunderba-
ren Reisen, Feldzüge und Abenteuer des Freiherrn von
Münchhausen, eine Sammlung der seltsamsten und aus-
schweifendsten Einfälle, z. B. der Überrock des Erzäh-
lers sei von einem tollen Hunde gebissen und wüthend
geworden, sein Windhund habe die Beine dergestalt ab-
gelaufen, daß er zum Dachshund geworden, sein Jagd-
hund habe ihm im Schlaf den Magen herausgefressen,
weil er Rebhühner darin gewittert und er habe sich da-
für einen Schweinemagen einnähen lassen, und andere,
noch ungleich weniger ergötzliche. Die Geschichte dieses
Buchs ist merkwürdig genug. Manche haben es für
eine absichtliche Satire auf lügenhafte, phantastische Er-
zähler oder Reisebeschreiber gehalten, aber mit Unrecht;
es war vielmehr das unwillkürliche Erzeugniß einer krank-
haften Geistesrichtung. Der Urheber dieser Märchen lebte
in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts still und
eingezogen in dem Städtchen Bodenwerder an der We-
ser und kam nur wenig in Gesellschaften, war er aber
darin und wurde er auf seine imaginairen Reisen ge-
bracht, so erzählte er seine Einfälle mit dem vollen Ernst
des Historikers, und konnte sehr unwillig werden, wenn
man ihm nicht vollen Glauben schenkte. Offenbar glaubte
dieser Mann zuletzt selbst an die Wahrheit seiner er-
sonnenen Abenteuer, nachdem er sie so oft sich und An-
dern erzählt hatte. War seine Frau zugegen, so rief er
diese gewöhnlich zum Zeugen der Wahrheit an, obgleich
die meisten seiner Abenteuer unter Umständen vorgefallen
sein mußten, bei denen Frauen überhaupt nicht wol
gegenwärtig gewesen sein konnten.

Längst hatten diese Schwänke einen großen Theil
von Deutschland durchwandert und waren aus den hö-
hern Cirkeln bis zur untersten Volksclasse herabgestiegen,
ohne daß Jemand daran gedacht hätte, sie zu sammeln.
Ein durch widrige Schicksale nach England verschlagener
deutscher Literat, Raspe, der früher zu Kassel, in Münch-
hausens Nähe, gelebt hatte, kam endlich auf diesen Ein-
fall und gab sie in England und in englischer Sprache
heraus. Dort fanden sie einen gedeihlichen Boden und
erlebten in kurzer Zeit fünf Auflagen. Sie fanden den
Weg übers Meer nach Ostindien, und Offiziere eines
hanöverschen Regiments, das nach Madras geschickt
wurde, trafen sie dort in den ersten Häusern, wo sie
begierig gelesen wurden. Nun erst erschienen diese ur-
sprünglich deutschen Erzeugnisse, aus dem Englischen zu-
rück übersetzt, in Deutschland; der Dichter Bürger war
es, der sich mit dieser Übersetzung befaßte, jedoch fand
das Buch hier nicht den großen Beifall, wie früher in
England.



Über Blinde, Blindenunterricht und Blinden-
anstalten.

I. Von den Blinden überhaupt.
( Fortsetzung aus Nr. 176. )

Aber auch außer dem Begriff der Farben entbehrt der
Blindgeborene oder in früher Jugend Erblindete die
Kenntniß jener Gegenstände, welche wegen ihrer Fein-
[Spaltenumbruch] heit nicht durch das Gefühl oder einen andern Sinn,
erkannt werden können; die sichtbare Wirkung von
Schatten und Licht, sowol in der Natur als bei Zeich-
nungen, die durch entfernte Bewegungen entstehenden
Abwechselungen, dann das Vergnügen, welches der
Sehende aus dem Überblicke mehrer zu gleicher Zeit
vorhandenen Gegenstände und ihren verhältnißmäßigen
Beziehungen gegeneinander schöpft, die schöne Man-
nichfaltigkeit. Die reizende Schönheit kann für den
gebildeten Blinden nur durch ein Bild seiner Phantasie
ersetzt werden, welches, so sehr es auch von der Wirk-
lichkeit dieser sichtbaren Gegenstände entfernt sein mag,
gleichwol den Blinden befriedigt, ihn heiter und froh
macht und ihn solche Phantasiegenüsse wünschen läßt.
Daher erklärt sich die Vorliebe vieler Blinden für schöne
Kleider und Putz, ihr Geschmack am Theater und an-
dern öffentlichen Schauspielen, und an Beschreibungen
solcher Gegenstände. Es ist nicht zu bezweifeln, daß der
Blinde dabei manchmal in dem Fall sein werde, daß
er sich eine Sache in seinem Sinne schöner und voll-
kommener vorstellt als sie wirklich ist.

Auf die Phantasie des Blinden muß also der
Mangel des Gesichtssinnes einen wichtigen Einfluß haben.
Auf der einen Seite scheint ihm der Stoff zu fehlen, der
dieser wichtigen und fruchtbaren Seelenkraft gleichsam zur
Nahrung dient, auf der andern Seite aber ist es einleuch-
tend, daß das Bedürfniß, sich durch die Phantasie abwesende
Gegenstände zu vergegenwärtigen, öfter eintreten müsse,
als bei Sehenden. Der Körper, den der Blinde nicht
berührt, sei er ihm auch ganz nahe, ist für ihn schon
ein Gegenstand der Phantasie. Die Phantasie des
Blinden faßt ihren Gegenstand, entkleidet vom Sicht-
baren, auf, desto deutlicher ist sie sich aber der übrigen
Eigenschaften desselben, und seiner Verhältnisse und
Beziehungen gegen Andere bewußt. Alles tritt handelnd
vor die Phantasie des Blinden und füllt seine ganze
Seele, die sich desto ruhiger und genauer mit diesem
einen Gegenstande beschäftigen kann, da sie durch Zer-
streuungen nicht abgezogen wird und ihr Jdeenkreis
weniger ausgedehnt ist. Der Sehende schöpft die
meisten Bilder seiner Phantasie aus sichtbaren Erschei-
nungen, die oft augenblicklich vorübergehend sind, der
Blinde aus Beschreibungen, welche alle übrigen darauf
sich beziehenden Umstände umfassen und die mit Muße
betrachtet werden können.

Träume, diese eigenthümlichen Geburten der
Phantasie, betreffen bei dem Blinden meistens hörbare
Gegenstände, aber auch sichtbare Gegenstände, von
denen er sich auf andern Wegen Kenntnisse verschafft
hat, stellen sich ihm im Traume dar. Diese Träume
erlangen manchmal eine solche Lebhaftigkeit, daß er
noch eine Zeit lang nach dem Erwachen die Jdee beibe-
hält, er habe im Traume wirklich gesehen. Eine Er-
scheinung, welche nicht nur bei Blinden, welche früher
gesehen haben, sondern auch bei Blindgeborenen vorkommt.

Die Wichtigkeit des Erinnerungsvermögens
und Gedächtnisses für den Blinden ist daraus
einleuchtend, daß derselbe auch in dieser Rücksicht mehr
auf sich selbst beschränkt ist. Da er nicht lesen oder
nachschlagen kann, so ist er meistens in dem Falle, daß
ihm sowol im gemeinen Leben als in wissenschaftlichen
Dingen, ein Gegenstand nur einmal vorkommt. Auch
hier zeigt sich, was unumgängliche Noth und fleißige
Übung vermögen.

Das Auge ist es hauptsächlich, das uns halb und
ganz vergessene Gegenstände öfters wieder ins Gedächt-
niß zurückruft; da aber dem Blinden dieses Erinnerungs-
mittel fehlt, so gewöhnt er sich, Alles, was ihm vor-
[Ende Spaltensatz]

Das Pfennig=Magazin.
[Beginn Spaltensatz] Theil derselben durch den geschickten Gärtner Trait, den
Jbrahim aus England kommen ließ, in einen reizenden
Garten umgewandelt worden, wo viele europäische und
tropische Pflanzen vortrefflich gedeihen.



Münchhausens Reisen.

Zu den vorübergegangenen literarischen Erscheinungen,
die einst viel Aufsehen machten, gehören die wunderba-
ren Reisen, Feldzüge und Abenteuer des Freiherrn von
Münchhausen, eine Sammlung der seltsamsten und aus-
schweifendsten Einfälle, z. B. der Überrock des Erzäh-
lers sei von einem tollen Hunde gebissen und wüthend
geworden, sein Windhund habe die Beine dergestalt ab-
gelaufen, daß er zum Dachshund geworden, sein Jagd-
hund habe ihm im Schlaf den Magen herausgefressen,
weil er Rebhühner darin gewittert und er habe sich da-
für einen Schweinemagen einnähen lassen, und andere,
noch ungleich weniger ergötzliche. Die Geschichte dieses
Buchs ist merkwürdig genug. Manche haben es für
eine absichtliche Satire auf lügenhafte, phantastische Er-
zähler oder Reisebeschreiber gehalten, aber mit Unrecht;
es war vielmehr das unwillkürliche Erzeugniß einer krank-
haften Geistesrichtung. Der Urheber dieser Märchen lebte
in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts still und
eingezogen in dem Städtchen Bodenwerder an der We-
ser und kam nur wenig in Gesellschaften, war er aber
darin und wurde er auf seine imaginairen Reisen ge-
bracht, so erzählte er seine Einfälle mit dem vollen Ernst
des Historikers, und konnte sehr unwillig werden, wenn
man ihm nicht vollen Glauben schenkte. Offenbar glaubte
dieser Mann zuletzt selbst an die Wahrheit seiner er-
sonnenen Abenteuer, nachdem er sie so oft sich und An-
dern erzählt hatte. War seine Frau zugegen, so rief er
diese gewöhnlich zum Zeugen der Wahrheit an, obgleich
die meisten seiner Abenteuer unter Umständen vorgefallen
sein mußten, bei denen Frauen überhaupt nicht wol
gegenwärtig gewesen sein konnten.

Längst hatten diese Schwänke einen großen Theil
von Deutschland durchwandert und waren aus den hö-
hern Cirkeln bis zur untersten Volksclasse herabgestiegen,
ohne daß Jemand daran gedacht hätte, sie zu sammeln.
Ein durch widrige Schicksale nach England verschlagener
deutscher Literat, Raspe, der früher zu Kassel, in Münch-
hausens Nähe, gelebt hatte, kam endlich auf diesen Ein-
fall und gab sie in England und in englischer Sprache
heraus. Dort fanden sie einen gedeihlichen Boden und
erlebten in kurzer Zeit fünf Auflagen. Sie fanden den
Weg übers Meer nach Ostindien, und Offiziere eines
hanöverschen Regiments, das nach Madras geschickt
wurde, trafen sie dort in den ersten Häusern, wo sie
begierig gelesen wurden. Nun erst erschienen diese ur-
sprünglich deutschen Erzeugnisse, aus dem Englischen zu-
rück übersetzt, in Deutschland; der Dichter Bürger war
es, der sich mit dieser Übersetzung befaßte, jedoch fand
das Buch hier nicht den großen Beifall, wie früher in
England.



Über Blinde, Blindenunterricht und Blinden-
anstalten.

I. Von den Blinden überhaupt.
( Fortsetzung aus Nr. 176. )

Aber auch außer dem Begriff der Farben entbehrt der
Blindgeborene oder in früher Jugend Erblindete die
Kenntniß jener Gegenstände, welche wegen ihrer Fein-
[Spaltenumbruch] heit nicht durch das Gefühl oder einen andern Sinn,
erkannt werden können; die sichtbare Wirkung von
Schatten und Licht, sowol in der Natur als bei Zeich-
nungen, die durch entfernte Bewegungen entstehenden
Abwechselungen, dann das Vergnügen, welches der
Sehende aus dem Überblicke mehrer zu gleicher Zeit
vorhandenen Gegenstände und ihren verhältnißmäßigen
Beziehungen gegeneinander schöpft, die schöne Man-
nichfaltigkeit. Die reizende Schönheit kann für den
gebildeten Blinden nur durch ein Bild seiner Phantasie
ersetzt werden, welches, so sehr es auch von der Wirk-
lichkeit dieser sichtbaren Gegenstände entfernt sein mag,
gleichwol den Blinden befriedigt, ihn heiter und froh
macht und ihn solche Phantasiegenüsse wünschen läßt.
Daher erklärt sich die Vorliebe vieler Blinden für schöne
Kleider und Putz, ihr Geschmack am Theater und an-
dern öffentlichen Schauspielen, und an Beschreibungen
solcher Gegenstände. Es ist nicht zu bezweifeln, daß der
Blinde dabei manchmal in dem Fall sein werde, daß
er sich eine Sache in seinem Sinne schöner und voll-
kommener vorstellt als sie wirklich ist.

Auf die Phantasie des Blinden muß also der
Mangel des Gesichtssinnes einen wichtigen Einfluß haben.
Auf der einen Seite scheint ihm der Stoff zu fehlen, der
dieser wichtigen und fruchtbaren Seelenkraft gleichsam zur
Nahrung dient, auf der andern Seite aber ist es einleuch-
tend, daß das Bedürfniß, sich durch die Phantasie abwesende
Gegenstände zu vergegenwärtigen, öfter eintreten müsse,
als bei Sehenden. Der Körper, den der Blinde nicht
berührt, sei er ihm auch ganz nahe, ist für ihn schon
ein Gegenstand der Phantasie. Die Phantasie des
Blinden faßt ihren Gegenstand, entkleidet vom Sicht-
baren, auf, desto deutlicher ist sie sich aber der übrigen
Eigenschaften desselben, und seiner Verhältnisse und
Beziehungen gegen Andere bewußt. Alles tritt handelnd
vor die Phantasie des Blinden und füllt seine ganze
Seele, die sich desto ruhiger und genauer mit diesem
einen Gegenstande beschäftigen kann, da sie durch Zer-
streuungen nicht abgezogen wird und ihr Jdeenkreis
weniger ausgedehnt ist. Der Sehende schöpft die
meisten Bilder seiner Phantasie aus sichtbaren Erschei-
nungen, die oft augenblicklich vorübergehend sind, der
Blinde aus Beschreibungen, welche alle übrigen darauf
sich beziehenden Umstände umfassen und die mit Muße
betrachtet werden können.

Träume, diese eigenthümlichen Geburten der
Phantasie, betreffen bei dem Blinden meistens hörbare
Gegenstände, aber auch sichtbare Gegenstände, von
denen er sich auf andern Wegen Kenntnisse verschafft
hat, stellen sich ihm im Traume dar. Diese Träume
erlangen manchmal eine solche Lebhaftigkeit, daß er
noch eine Zeit lang nach dem Erwachen die Jdee beibe-
hält, er habe im Traume wirklich gesehen. Eine Er-
scheinung, welche nicht nur bei Blinden, welche früher
gesehen haben, sondern auch bei Blindgeborenen vorkommt.

Die Wichtigkeit des Erinnerungsvermögens
und Gedächtnisses für den Blinden ist daraus
einleuchtend, daß derselbe auch in dieser Rücksicht mehr
auf sich selbst beschränkt ist. Da er nicht lesen oder
nachschlagen kann, so ist er meistens in dem Falle, daß
ihm sowol im gemeinen Leben als in wissenschaftlichen
Dingen, ein Gegenstand nur einmal vorkommt. Auch
hier zeigt sich, was unumgängliche Noth und fleißige
Übung vermögen.

Das Auge ist es hauptsächlich, das uns halb und
ganz vergessene Gegenstände öfters wieder ins Gedächt-
niß zurückruft; da aber dem Blinden dieses Erinnerungs-
mittel fehlt, so gewöhnt er sich, Alles, was ihm vor-
[Ende Spaltensatz]

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Auf der einen Seite scheint ihm der Stoff zu fehlen, der dieser wichtigen und fruchtbaren Seelenkraft gleichsam zur Nahrung dient, auf der andern Seite aber ist es einleuch- tend, daß das Bedürfniß, sich durch die Phantasie abwesende Gegenstände zu vergegenwärtigen, öfter eintreten müsse, als bei Sehenden. Der Körper, den der Blinde nicht berührt, sei er ihm auch ganz nahe, ist für ihn schon ein Gegenstand der Phantasie. Die Phantasie des Blinden faßt ihren Gegenstand, entkleidet vom Sicht- baren, auf, desto deutlicher ist sie sich aber der übrigen Eigenschaften desselben, und seiner Verhältnisse und Beziehungen gegen Andere bewußt. Alles tritt handelnd vor die Phantasie des Blinden und füllt seine ganze Seele, die sich desto ruhiger und genauer mit diesem einen Gegenstande beschäftigen kann, da sie durch Zer- streuungen nicht abgezogen wird und ihr Jdeenkreis weniger ausgedehnt ist. Der Sehende schöpft die meisten Bilder seiner Phantasie aus sichtbaren Erschei- nungen, die oft augenblicklich vorübergehend sind, der Blinde aus Beschreibungen, welche alle übrigen darauf sich beziehenden Umstände umfassen und die mit Muße betrachtet werden können. Träume, diese eigenthümlichen Geburten der Phantasie, betreffen bei dem Blinden meistens hörbare Gegenstände, aber auch sichtbare Gegenstände, von denen er sich auf andern Wegen Kenntnisse verschafft hat, stellen sich ihm im Traume dar. Diese Träume erlangen manchmal eine solche Lebhaftigkeit, daß er noch eine Zeit lang nach dem Erwachen die Jdee beibe- hält, er habe im Traume wirklich gesehen. Eine Er- scheinung, welche nicht nur bei Blinden, welche früher gesehen haben, sondern auch bei Blindgeborenen vorkommt. Die Wichtigkeit des Erinnerungsvermögens und Gedächtnisses für den Blinden ist daraus einleuchtend, daß derselbe auch in dieser Rücksicht mehr auf sich selbst beschränkt ist. Da er nicht lesen oder nachschlagen kann, so ist er meistens in dem Falle, daß ihm sowol im gemeinen Leben als in wissenschaftlichen Dingen, ein Gegenstand nur einmal vorkommt. Auch hier zeigt sich, was unumgängliche Noth und fleißige Übung vermögen. Das Auge ist es hauptsächlich, das uns halb und ganz vergessene Gegenstände öfters wieder ins Gedächt- niß zurückruft; da aber dem Blinden dieses Erinnerungs- mittel fehlt, so gewöhnt er sich, Alles, was ihm vor-

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Zitationshilfe: Das Pfennig=Magazin der Gesellschaft zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse. Nr. 177. Leipzig (Sachsen), 20. August 1836, S. 270. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_pfennig177_1836/6>, abgerufen am 03.12.2024.