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Reichspost. Nr. 140, Wien, 21.06.1904.

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Wien, Dienstag Reichspost 21. Juni 1904 140

[Spaltenumbruch]

Gletscher, schöne Gegenden, herrliche Luft, ge-
sundes Wasser und der biedere, streng religiöse,
kindlich treue Charakter des Tirolervolkes ist es,
was die Fremden zu uns herführt. Berge, Luft
und Wasser üben keine größere Anziehungskraft
auf die Fremden aus, wenn wir protestantische
Tempel an den Rand der Gletscher stellen. Wenn
wir aber den heutigen Volkscharakter nicht zu
wahren verstehen, wird das Land seine größte
Anziehungskraft verlieren.
Ein Teil der
Fremden wird ausbleiben, ein anderer sein Geld
an der Grenze einnähen und das Land in mög-
lichst kurzer Zeit wieder verlassen und erst dann
wieder ruhig aufatmen, wenn er das letzte Tiroler-
hotel samt seinen Tempeln weit hinter sich hat;
und diejenigen, die wirklich ein Bedürfnis nach
religiösen Uebungen haben und nicht Katholiken
sind, werden doch nicht kommen, sondern die
protestantische Schweiz vorziehen.

Ein edler Mensch achtet die Ueberzeugung
anderer. Die Tiroler werden geschätzt und geliebt
wegen jener Eigenschaften, die ihnen die Kraft
gaben, den französischen Eroberer zur Zeit seiner
größten Macht zu besiegen. Diese Eigenschaft
war ihr Gottesvertrauen und die Wurzel desselben
die Glaubenseinheit. Wer diese Wurzel zerstört,
der zerstört, was der Fremde am Tiroler schätzt
und sucht; der schadet dem Fremdenverkehr.

Der Fremde sucht in Tirol Haspinger-, Speck-
bacher-, Andreas Hofer-Gestalten und nicht charakter-
lose Windfahnen, die den Glauben wie die Kleider
wechseln. Will der Nichtkatholik in Tirol seine An-
dacht verrichten, so befindet er sich hier in einem
Tempel von solcher Erhabenheit, wie ihn Menschen-
hände nicht gestalten können.

Was Tirol ist und werden kann, wenn die
Religionsspaltung einreißt, wenn der Protestantis-
mus von Etappe zu Etappe das Land durchsäuert,
das hat man gesehen in der ersten Hälfte des
XVI. Jahrhunderts, wo auch das einst so treue
Tirol einen furchtbaren Bauernkrieg und seinen
Abfall vom Landesfürsten zu verzeichnen hatte.
Wenn ich mir das alles ganz ohne Vorein-
genommenheit und ruhig vor Augen
halte, so muß ich sagen: Aus rechtlichen und
gesetzlichen Gründen -- aus religiösen Motiven,
aus Erwägungen der nationalen und der Wehr-
kraft -- aus Rücksichten auf das wohlverstandene
Interesse des Fremdenverkehrs -- müssen wir
ganz entschieden Stellung nehmen gegen den ge-
planten Bau einer protestantisch-anglikanischen
Kirche in Sulden. Wir sind für Bahn- und
Straßenbauten, für jede Hebung und Förderung
des Fremdenverkehres. Dieser Kirchenbau ist aber
nichts als ein Zankapfel, ein Mittel, die Frem-
den zu verscheuchen und uns in den Augen der-
selben herabzusetzen. Darum protestieren wir
feierlich dagegen und verlangen von der Regie-
rung, daß sie den Bau auf Grund des klaren
Wortlautes des Gesetzes verhindere. (Donnernder
Beifall.)

Der Enthusiasmus, den diese Rede erweckt
hatte, wurde durch die Ausführungen der beiden
anderen Redner noch verstärkt. Die Protestent-
schließung gegen den Suldener Kirchenbau wurde
sodann einstimmig angenommen. Die Konserva-
tiven waren zu der Versammlung geladen worden,
doch war nur der konservative Klerus der Gegend
erschienen, unter dem die persönliche Bekanntschaft
mit den christlich-sozialen Rednern sichtlich manches
Vorurteil zerstreute.




Politische Rundschau.
Oesterreich-Ungarn.


Zur politischen Lage.

Abgeordneter Doktor
Kramar hielt gestern in Tabor die angekündigte
Rede, die folgende Idee ausdrückte: Er habe in
seiner Jungbunzlauer Rede keine Drohung aus-
sprechen, sondern nur die gegenwärtige Situation
kennzeichnen wollen. Die Tschechen müssen ob-
struieren, um die Verfassung zu retten. Das sollten
auch die Deutschen bedenken und die tschechisch-
nationalen Forderungen gewähren, weil dann die
Tschechen mit ihnen an der Erweiterung der bür-
gerlichen Freiheit und an dem Aufblühen des
Parlamentartsmus arbeiten werden. -- Wie man
sieht, haben die tschechischen Rhetoriker ver-
schiedene Melodien auf Lager. Nur ist eine so falsch,
wie die andere.

Eine "christlich-soziale Sumpfblase".

Die alldeutsche Presse bauscht jetzt einen Privat-
streit, welchen das "Deutsche Volksblatt" mit
dem Landesrat Dr. Thomas aussicht, zu einer
[Spaltenumbruch] großen Affäre auf, macht daraus eine christlich-
soziale Skandalaffäre, spricht von "christlich-sozialen
Dieben" u. s. w. Nach der Darstellung des ge-
nannten Blattes soll angeblich Dr. Thomas --
und zwar nach seiner Behauptung mit Dr.
Luegers Zustimmung -- von großen jüdischen
Organisationen Geld gesammelt haben, um damit
jenes Blatt bekämpfen zu können. Die alldeutsche
Presse macht nun, um ihren Zielen dienen zu
können, aus Dr. Thomas ein "hervorragendes
christlich-soziales Parteimitglied". Indessen weiß
jeder Mensch in Wien, daß Dr. Thomas niemals
Christlich-Sozialer, sondern von jeher Deutsch-
nationaler und ein Angehöriger der niederöster-
reichischen Richtergruppe war. Wir sind ermächtigt
zu konstatieren, daß Dr. Lueger niemals mit Dr.
Thomas in einer ähnlichen Angelegenheit etwas
zu tun hatte. Es sei übrigens beigefügt, daß
auch Dr. Thomas die übrige Darstellung als
Erfindung bezeichnet.

Der böhmische Landtag

wird im Früh-
herbste zugleich mit den anderen Landtagen, wie
verlautet, wieder zusammentreten. Nun beabsichtigen
die Alldeutschen die deutschen Parteien in eine
Falle zu locken. Sie wollen, wie ihre Organe mit-
teilen, der Plenarversammlung der deutschen Ab-
geordneten im Herbst die Aufstellung folgender
Bedingungen für das Aufgeben der Obstruktion
im Landtage empfehlen: 1. Einstellen der
tschechischen Obstruktion im Reichsrate; 2. Be-
seitigung der erhöhten Qualifikationsbedingung für
die Landesbeamten; 3. Besetzung von drei Vier-
teilen aller neuen Stellen mit Deutschen, inso-
lange bis den tschechischen Landesbeamten ebensoviel
deutsche Beamte gegenüberstehen; 4. Berufung
mehrerer Deutscher auf Beamtenposten höheren
Ranges in allen Zweigen des Landesdienstes;
5. gesetzliche Sicherstellung einer der Bevölkerungs-
anzahl und der Steuerleistung der Deutschen ent-
sprechenden Vertretung der Deutschen im Landes-
ausschusse, in den Kommissionen des Landtages
und in allen sonstigen vom Landtage beschickten
Landesanstalten. -- Es hat bereits die tschechische
Obstruktion im Reichsrate bewiesen, wie ver-
hängnisvoll es für die Obstruierenden selber ist,
sich für einen längeren Kampf durch bestimmte
Bedingungen zu binden. -- Die Alldeutschen hoffen
auch gar nicht, daß die übrigen deutschen Parteien
sich in dieser Weise die Hände binden zu lassen
beabsichtigen, sondern sie wünschen damit offenbar
nur, ein Schlagwort gegen die deutschen Parteien
für eventuelle Neuwahlen zu erhalten.

Ein Urteil über die Prager Stadt-
verwaltung,

herb und voll grimmigen Spottes
gegen die Prager tschechischen Nationalisten, gibt
der Prager "Czas" ab. Das Blatt wendet sich
gegen den Plan der Prager Stadtgemeinde, sieben
Millionen für einen Repräsentationspalast aufzu-
wenden und schreibt: "Unser eitles Paradieren
und unsere Oberflächlichkeit tritt nirgends so kraß
zutage, wie in der Prager Gemeindewirtschaft. Die
Finanzlage der Stadt ist wahrhaft jammervoll;
für die allerdringlichsten Lebensbedürfnisse der
Gemeinde ist kein Geld vorhanden; wir haben kein
Trinkwasser, keine Volksbäder, die hygienischen
Vorkehrungen sind überhaupt die allerletzte Sorge
der Stadtväter; für die Prager Stadtverwaltung
sind irgend welche Bräuhausaktien wichtiger als
alle Probleme einer Großkommune zusammen-
genommen. Dafür hat diese Stadtverwaltung ge-
weckten Sinn für nationale Ehre und Repräsen-
tationspflichten; die Stadtväter sehen z. B., daß
die Deutschen auf dem Graben ein famos ein-
gerichtetes Kasino haben und statt sich zu
sagen, die Deutschen haben Geld genug, sie sollen
es hinauswerfen, wenn sie wollen, wir aber haben
wenig Geld und die patriotische Verpflichtung, zu
sparen und Sorge zu tragen, daß die Gemeinde-
wirtschaft der einzigen tschechischen Großkommune
musterhaft sei und den nationalen Wohlstand
kräftige, erklären sie im Gegenteil: Wir kaufen
einen noch teureren Platz und bauen dort ein
noch teureres Wirtshaus auf und wenn's selbst
sieben Millionen kosten sollte. Und wir werden
dann wissen, wohin wir die Gemeinderäte von
Paris, die Generäle aus Rußland und die Fuß-
ballspieler aus Kopenhagen führen können. Elber-
feld hat den Ruf, die musterhafteste Armenpflege
eingeführt zu haben. Edinburgh wird gelobt, daß
es die sauberste Kanalisation besitze; Dresden hat
seine Villenviertel, seine Häuser in den Gärten;
nach Prag aber werden die Leute wallfahrten,
weil im Bädecker die Reklame stehen wird: Die
Prager Gemeinde hat das teuerste Wirts-
haus in Europa.
Darin liegt etwas Tschechisch-
Altbäuerliches, das der Putzsucht Millionen opfert
und die letzte Schindel am Dach einschuldet."


[Spaltenumbruch]
Die Parteienzersplitterung bei den
Tschechen.

Um das Landtagsmandat von Nachod
bewerben sich vier Kandidaten und zwar: Der
selbständige jungtschechische Kandidat Bezirksobmann
und Bürgermeister Cizek, der selbständige radikale
Kandidat Ingenieur Reziak, der agrarische Kandidat
Johann Kotland und für die National-Sozialisten
der Redakteur Kovarovic, ein Anhänger des Ab-
geordneten Klofac.

Deutsches Reich.
Der Hauptangriff gegen die Hereros

wird verschoben. Der von Oberst Leutwein sorg-
fältig vorbereitete und kurz vor der Ankunft des
Generalleutnants von Trotha begonnene neue
Feldzug gegen die Herero hat eine unerwartete
Wendung genommen. Trotha hält angesichts der
großen Streitmacht, die der Feind in der Gegend
des Waterberges versammelt hat, den Zeitpunkt
für einen entscheidenden Vorstoß offenbar noch
nicht für gekommen und hat infolgedessen den von
Leutwein entworfenen Operationsplan umgestoßen.
Oberst Leutwein brach auf Wunsch Trothas von
Owikokerero nach Okahandja auf, um dort seine
Unterstützung zur Verfügung zu stellen, beziehungs-
weise in Windhuk die Geschäfte des Gouvernements
zu übernehmen. Zu entscheidenden Schlägen gegen
den Feind soll es nicht kommen, bis auch die neu
eingetroffenen Truppen operationsfähig sind. Die
alten Truppen rücken in drei Abteilungen mög-
lichst nahe an den Feind heran, um ihn zu
beobachten und sein etwaiges Entweichen zu ver-
hindern. Das Kommando über den zurückbleibenden
Rest, der als eine neue Abteilung formiert wird,
übernimmt Major von Glasenapp.

Niederlande.

Der antiliberale Wahlsieg

bei den
Wahlen zu den Provinzialräten hat die
Parteienverhältnisse in diesem Vertretungskörper
ganz verändert. Die sogenannten Anti-Revo-
lutionäre (Protestantisch-Konservativen) und die
Katholiken haben jetzt die Mehrheit in Süd-
Holland, Limburg, Nordbrabant, Utrecht, Zee-
land, Gelderland, während die Liberalen nur
noch in den Provinzen Nord-Holland, Friesland
und Groningen über die Mehrheit verfügen. Da
die Provinzialstaaten die Erste Kammer zu
wählen haben, so braucht das Ministerium
Kuijper nur die Erste Kammer aufzulösen, um
sich auch dort eine Mehrheit zu sichern. Die Auf-
lösung wird sicher erfolgen, falls die zurzeit noch
in ihrer Mehrheit liberale Erste Kammer das
von der Zweiten Kammer angenommene Gesetz
über den höheren Unterricht ablehnen sollte.

Frankreich.

Die Angelegenheiten zwischen dem
Vatikan und Frankreich

-- so schreibt man
uns aus Rom -- gehen zwar einen wahren
Schneckengang, aber sie ruhen durchaus nicht.
Wer also von einem sogenannten Abbruch der
diplomatischen Beziehungen oder auch nur von
einem Stillstand derselben reden will, befindet sich
auf einer durchaus falschen Fährte. Die
französische Botschaft beim Vatikan wird zwar
durch einen noch verhältnismäßig sehr jungen
"Charge d' affaire" geleitet, welcher nur den
Titel eines dritten Botschaftssekretärs führt doch
gehen die Geschäfte und Verhandlungen fort, wie
früher. Allwöchentlich erscheint dieser Diplomat
beim päpstlichen Staatssekretär Kardinal Merry
del Val, um sich an dem allgemeinen diplo-
matischen Empfange zu beteiligen. Und
bei diesen Empfängen hat er noch kein einziges
Mal gefehlt. Merkwürdig ist übrigens, daß man
französischerseits dem Vatikan keine offizielle Mit-
teilung davon gemacht hat, daß der bevoll-
mächtigte Minister de Navenne nicht die Ver-
tretung des Botschafters Nisard übernehme. Am
Tage seiner Abreise teilte der Botschafter dem
Kardinal-Staatssekretär mit, daß "in den nächsten
Tagen" der gerade auf Urlaub befindliche Bot-
schaftsrat de Navenne zu seiner Vertretung ein-
treffen werde. Da der Entschluß der französischen
Regierung, den Botschaftsrat in Paris zu be-
lassen, dem Vatikan nicht amtlich mitgeteilt wurde,
so nimmt man im päpstlichen Staatssekretariate
noch heute "offiziell" an, daß de Navenne
jeden Tag die Geschäfte übernehmen werde.
Der jetzige Charge d' affaire, Herr
de Courcel, ist erst anfangs der dreißiger Jahre
und war bis vor kurzem in der Umgebung des
Ministers Delcasse beschäftigt. Nach Beendigung
des Konklaves kam er an die Botschaft in Rom.
Herr de Courcel, welcher durch die besonderen
Verhältnisse mit einem Mal vom dritten und
letzten Sekretär zum Chef der Botschaft avanziert

Wien, Dienstag Reichspoſt 21. Juni 1904 140

[Spaltenumbruch]

Gletſcher, ſchöne Gegenden, herrliche Luft, ge-
ſundes Waſſer und der biedere, ſtreng religiöſe,
kindlich treue Charakter des Tirolervolkes iſt es,
was die Fremden zu uns herführt. Berge, Luft
und Waſſer üben keine größere Anziehungskraft
auf die Fremden aus, wenn wir proteſtantiſche
Tempel an den Rand der Gletſcher ſtellen. Wenn
wir aber den heutigen Volkscharakter nicht zu
wahren verſtehen, wird das Land ſeine größte
Anziehungskraft verlieren.
Ein Teil der
Fremden wird ausbleiben, ein anderer ſein Geld
an der Grenze einnähen und das Land in mög-
lichſt kurzer Zeit wieder verlaſſen und erſt dann
wieder ruhig aufatmen, wenn er das letzte Tiroler-
hotel ſamt ſeinen Tempeln weit hinter ſich hat;
und diejenigen, die wirklich ein Bedürfnis nach
religiöſen Uebungen haben und nicht Katholiken
ſind, werden doch nicht kommen, ſondern die
proteſtantiſche Schweiz vorziehen.

Ein edler Menſch achtet die Ueberzeugung
anderer. Die Tiroler werden geſchätzt und geliebt
wegen jener Eigenſchaften, die ihnen die Kraft
gaben, den franzöſiſchen Eroberer zur Zeit ſeiner
größten Macht zu beſiegen. Dieſe Eigenſchaft
war ihr Gottesvertrauen und die Wurzel desſelben
die Glaubenseinheit. Wer dieſe Wurzel zerſtört,
der zerſtört, was der Fremde am Tiroler ſchätzt
und ſucht; der ſchadet dem Fremdenverkehr.

Der Fremde ſucht in Tirol Haſpinger-, Speck-
bacher-, Andreas Hofer-Geſtalten und nicht charakter-
loſe Windfahnen, die den Glauben wie die Kleider
wechſeln. Will der Nichtkatholik in Tirol ſeine An-
dacht verrichten, ſo befindet er ſich hier in einem
Tempel von ſolcher Erhabenheit, wie ihn Menſchen-
hände nicht geſtalten können.

Was Tirol iſt und werden kann, wenn die
Religionsſpaltung einreißt, wenn der Proteſtantis-
mus von Etappe zu Etappe das Land durchſäuert,
das hat man geſehen in der erſten Hälfte des
XVI. Jahrhunderts, wo auch das einſt ſo treue
Tirol einen furchtbaren Bauernkrieg und ſeinen
Abfall vom Landesfürſten zu verzeichnen hatte.
Wenn ich mir das alles ganz ohne Vorein-
genommenheit und ruhig vor Augen
halte, ſo muß ich ſagen: Aus rechtlichen und
geſetzlichen Gründen — aus religiöſen Motiven,
aus Erwägungen der nationalen und der Wehr-
kraft — aus Rückſichten auf das wohlverſtandene
Intereſſe des Fremdenverkehrs — müſſen wir
ganz entſchieden Stellung nehmen gegen den ge-
planten Bau einer proteſtantiſch-anglikaniſchen
Kirche in Sulden. Wir ſind für Bahn- und
Straßenbauten, für jede Hebung und Förderung
des Fremdenverkehres. Dieſer Kirchenbau iſt aber
nichts als ein Zankapfel, ein Mittel, die Frem-
den zu verſcheuchen und uns in den Augen der-
ſelben herabzuſetzen. Darum proteſtieren wir
feierlich dagegen und verlangen von der Regie-
rung, daß ſie den Bau auf Grund des klaren
Wortlautes des Geſetzes verhindere. (Donnernder
Beifall.)

Der Enthuſiasmus, den dieſe Rede erweckt
hatte, wurde durch die Ausführungen der beiden
anderen Redner noch verſtärkt. Die Proteſtent-
ſchließung gegen den Suldener Kirchenbau wurde
ſodann einſtimmig angenommen. Die Konſerva-
tiven waren zu der Verſammlung geladen worden,
doch war nur der konſervative Klerus der Gegend
erſchienen, unter dem die perſönliche Bekanntſchaft
mit den chriſtlich-ſozialen Rednern ſichtlich manches
Vorurteil zerſtreute.




Politiſche Rundſchau.
Oeſterreich-Ungarn.


Zur politiſchen Lage.

Abgeordneter Doktor
Kramar hielt geſtern in Tabor die angekündigte
Rede, die folgende Idee ausdrückte: Er habe in
ſeiner Jungbunzlauer Rede keine Drohung aus-
ſprechen, ſondern nur die gegenwärtige Situation
kennzeichnen wollen. Die Tſchechen müſſen ob-
ſtruieren, um die Verfaſſung zu retten. Das ſollten
auch die Deutſchen bedenken und die tſchechiſch-
nationalen Forderungen gewähren, weil dann die
Tſchechen mit ihnen an der Erweiterung der bür-
gerlichen Freiheit und an dem Aufblühen des
Parlamentartsmus arbeiten werden. — Wie man
ſieht, haben die tſchechiſchen Rhetoriker ver-
ſchiedene Melodien auf Lager. Nur iſt eine ſo falſch,
wie die andere.

Eine „chriſtlich-ſoziale Sumpfblaſe“.

Die alldeutſche Preſſe bauſcht jetzt einen Privat-
ſtreit, welchen das „Deutſche Volksblatt“ mit
dem Landesrat Dr. Thomas ausſicht, zu einer
[Spaltenumbruch] großen Affäre auf, macht daraus eine chriſtlich-
ſoziale Skandalaffäre, ſpricht von „chriſtlich-ſozialen
Dieben“ u. ſ. w. Nach der Darſtellung des ge-
nannten Blattes ſoll angeblich Dr. Thomas —
und zwar nach ſeiner Behauptung mit Dr.
Luegers Zuſtimmung — von großen jüdiſchen
Organiſationen Geld geſammelt haben, um damit
jenes Blatt bekämpfen zu können. Die alldeutſche
Preſſe macht nun, um ihren Zielen dienen zu
können, aus Dr. Thomas ein „hervorragendes
chriſtlich-ſoziales Parteimitglied“. Indeſſen weiß
jeder Menſch in Wien, daß Dr. Thomas niemals
Chriſtlich-Sozialer, ſondern von jeher Deutſch-
nationaler und ein Angehöriger der niederöſter-
reichiſchen Richtergruppe war. Wir ſind ermächtigt
zu konſtatieren, daß Dr. Lueger niemals mit Dr.
Thomas in einer ähnlichen Angelegenheit etwas
zu tun hatte. Es ſei übrigens beigefügt, daß
auch Dr. Thomas die übrige Darſtellung als
Erfindung bezeichnet.

Der böhmiſche Landtag

wird im Früh-
herbſte zugleich mit den anderen Landtagen, wie
verlautet, wieder zuſammentreten. Nun beabſichtigen
die Alldeutſchen die deutſchen Parteien in eine
Falle zu locken. Sie wollen, wie ihre Organe mit-
teilen, der Plenarverſammlung der deutſchen Ab-
geordneten im Herbſt die Aufſtellung folgender
Bedingungen für das Aufgeben der Obſtruktion
im Landtage empfehlen: 1. Einſtellen der
tſchechiſchen Obſtruktion im Reichsrate; 2. Be-
ſeitigung der erhöhten Qualifikationsbedingung für
die Landesbeamten; 3. Beſetzung von drei Vier-
teilen aller neuen Stellen mit Deutſchen, inſo-
lange bis den tſchechiſchen Landesbeamten ebenſoviel
deutſche Beamte gegenüberſtehen; 4. Berufung
mehrerer Deutſcher auf Beamtenpoſten höheren
Ranges in allen Zweigen des Landesdienſtes;
5. geſetzliche Sicherſtellung einer der Bevölkerungs-
anzahl und der Steuerleiſtung der Deutſchen ent-
ſprechenden Vertretung der Deutſchen im Landes-
ausſchuſſe, in den Kommiſſionen des Landtages
und in allen ſonſtigen vom Landtage beſchickten
Landesanſtalten. — Es hat bereits die tſchechiſche
Obſtruktion im Reichsrate bewieſen, wie ver-
hängnisvoll es für die Obſtruierenden ſelber iſt,
ſich für einen längeren Kampf durch beſtimmte
Bedingungen zu binden. — Die Alldeutſchen hoffen
auch gar nicht, daß die übrigen deutſchen Parteien
ſich in dieſer Weiſe die Hände binden zu laſſen
beabſichtigen, ſondern ſie wünſchen damit offenbar
nur, ein Schlagwort gegen die deutſchen Parteien
für eventuelle Neuwahlen zu erhalten.

Ein Urteil über die Prager Stadt-
verwaltung,

herb und voll grimmigen Spottes
gegen die Prager tſchechiſchen Nationaliſten, gibt
der Prager „Czas“ ab. Das Blatt wendet ſich
gegen den Plan der Prager Stadtgemeinde, ſieben
Millionen für einen Repräſentationspalaſt aufzu-
wenden und ſchreibt: „Unſer eitles Paradieren
und unſere Oberflächlichkeit tritt nirgends ſo kraß
zutage, wie in der Prager Gemeindewirtſchaft. Die
Finanzlage der Stadt iſt wahrhaft jammervoll;
für die allerdringlichſten Lebensbedürfniſſe der
Gemeinde iſt kein Geld vorhanden; wir haben kein
Trinkwaſſer, keine Volksbäder, die hygieniſchen
Vorkehrungen ſind überhaupt die allerletzte Sorge
der Stadtväter; für die Prager Stadtverwaltung
ſind irgend welche Bräuhausaktien wichtiger als
alle Probleme einer Großkommune zuſammen-
genommen. Dafür hat dieſe Stadtverwaltung ge-
weckten Sinn für nationale Ehre und Repräſen-
tationspflichten; die Stadtväter ſehen z. B., daß
die Deutſchen auf dem Graben ein famos ein-
gerichtetes Kaſino haben und ſtatt ſich zu
ſagen, die Deutſchen haben Geld genug, ſie ſollen
es hinauswerfen, wenn ſie wollen, wir aber haben
wenig Geld und die patriotiſche Verpflichtung, zu
ſparen und Sorge zu tragen, daß die Gemeinde-
wirtſchaft der einzigen tſchechiſchen Großkommune
muſterhaft ſei und den nationalen Wohlſtand
kräftige, erklären ſie im Gegenteil: Wir kaufen
einen noch teureren Platz und bauen dort ein
noch teureres Wirtshaus auf und wenn’s ſelbſt
ſieben Millionen koſten ſollte. Und wir werden
dann wiſſen, wohin wir die Gemeinderäte von
Paris, die Generäle aus Rußland und die Fuß-
ballſpieler aus Kopenhagen führen können. Elber-
feld hat den Ruf, die muſterhafteſte Armenpflege
eingeführt zu haben. Edinburgh wird gelobt, daß
es die ſauberſte Kanaliſation beſitze; Dresden hat
ſeine Villenviertel, ſeine Häuſer in den Gärten;
nach Prag aber werden die Leute wallfahrten,
weil im Bädecker die Reklame ſtehen wird: Die
Prager Gemeinde hat das teuerſte Wirts-
haus in Europa.
Darin liegt etwas Tſchechiſch-
Altbäuerliches, das der Putzſucht Millionen opfert
und die letzte Schindel am Dach einſchuldet.“


[Spaltenumbruch]
Die Parteienzerſplitterung bei den
Tſchechen.

Um das Landtagsmandat von Nachod
bewerben ſich vier Kandidaten und zwar: Der
ſelbſtändige jungtſchechiſche Kandidat Bezirksobmann
und Bürgermeiſter Cizek, der ſelbſtändige radikale
Kandidat Ingenieur Reziak, der agrariſche Kandidat
Johann Kotland und für die National-Sozialiſten
der Redakteur Kovarovic, ein Anhänger des Ab-
geordneten Klofač.

Deutſches Reich.
Der Hauptangriff gegen die Hereros

wird verſchoben. Der von Oberſt Leutwein ſorg-
fältig vorbereitete und kurz vor der Ankunft des
Generalleutnants von Trotha begonnene neue
Feldzug gegen die Herero hat eine unerwartete
Wendung genommen. Trotha hält angeſichts der
großen Streitmacht, die der Feind in der Gegend
des Waterberges verſammelt hat, den Zeitpunkt
für einen entſcheidenden Vorſtoß offenbar noch
nicht für gekommen und hat infolgedeſſen den von
Leutwein entworfenen Operationsplan umgeſtoßen.
Oberſt Leutwein brach auf Wunſch Trothas von
Owikokerero nach Okahandja auf, um dort ſeine
Unterſtützung zur Verfügung zu ſtellen, beziehungs-
weiſe in Windhuk die Geſchäfte des Gouvernements
zu übernehmen. Zu entſcheidenden Schlägen gegen
den Feind ſoll es nicht kommen, bis auch die neu
eingetroffenen Truppen operationsfähig ſind. Die
alten Truppen rücken in drei Abteilungen mög-
lichſt nahe an den Feind heran, um ihn zu
beobachten und ſein etwaiges Entweichen zu ver-
hindern. Das Kommando über den zurückbleibenden
Reſt, der als eine neue Abteilung formiert wird,
übernimmt Major von Glaſenapp.

Niederlande.

Der antiliberale Wahlſieg

bei den
Wahlen zu den Provinzialräten hat die
Parteienverhältniſſe in dieſem Vertretungskörper
ganz verändert. Die ſogenannten Anti-Revo-
lutionäre (Proteſtantiſch-Konſervativen) und die
Katholiken haben jetzt die Mehrheit in Süd-
Holland, Limburg, Nordbrabant, Utrecht, Zee-
land, Gelderland, während die Liberalen nur
noch in den Provinzen Nord-Holland, Friesland
und Groningen über die Mehrheit verfügen. Da
die Provinzialſtaaten die Erſte Kammer zu
wählen haben, ſo braucht das Miniſterium
Kuijper nur die Erſte Kammer aufzulöſen, um
ſich auch dort eine Mehrheit zu ſichern. Die Auf-
löſung wird ſicher erfolgen, falls die zurzeit noch
in ihrer Mehrheit liberale Erſte Kammer das
von der Zweiten Kammer angenommene Geſetz
über den höheren Unterricht ablehnen ſollte.

Frankreich.

Die Angelegenheiten zwiſchen dem
Vatikan und Frankreich

— ſo ſchreibt man
uns aus Rom — gehen zwar einen wahren
Schneckengang, aber ſie ruhen durchaus nicht.
Wer alſo von einem ſogenannten Abbruch der
diplomatiſchen Beziehungen oder auch nur von
einem Stillſtand derſelben reden will, befindet ſich
auf einer durchaus falſchen Fährte. Die
franzöſiſche Botſchaft beim Vatikan wird zwar
durch einen noch verhältnismäßig ſehr jungen
„Chargé d’ affaire“ geleitet, welcher nur den
Titel eines dritten Botſchaftsſekretärs führt doch
gehen die Geſchäfte und Verhandlungen fort, wie
früher. Allwöchentlich erſcheint dieſer Diplomat
beim päpſtlichen Staatsſekretär Kardinal Merry
del Val, um ſich an dem allgemeinen diplo-
matiſchen Empfange zu beteiligen. Und
bei dieſen Empfängen hat er noch kein einziges
Mal gefehlt. Merkwürdig iſt übrigens, daß man
franzöſiſcherſeits dem Vatikan keine offizielle Mit-
teilung davon gemacht hat, daß der bevoll-
mächtigte Miniſter de Navenne nicht die Ver-
tretung des Botſchafters Niſard übernehme. Am
Tage ſeiner Abreiſe teilte der Botſchafter dem
Kardinal-Staatsſekretär mit, daß „in den nächſten
Tagen“ der gerade auf Urlaub befindliche Bot-
ſchaftsrat de Navenne zu ſeiner Vertretung ein-
treffen werde. Da der Entſchluß der franzöſiſchen
Regierung, den Botſchaftsrat in Paris zu be-
laſſen, dem Vatikan nicht amtlich mitgeteilt wurde,
ſo nimmt man im päpſtlichen Staatsſekretariate
noch heute „offiziell“ an, daß de Navenne
jeden Tag die Geſchäfte übernehmen werde.
Der jetzige Chargé d’ affaire, Herr
de Courcel, iſt erſt anfangs der dreißiger Jahre
und war bis vor kurzem in der Umgebung des
Miniſters Delcaſſé beſchäftigt. Nach Beendigung
des Konklaves kam er an die Botſchaft in Rom.
Herr de Courcel, welcher durch die beſonderen
Verhältniſſe mit einem Mal vom dritten und
letzten Sekretär zum Chef der Botſchaft avanziert

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[2/0002] Wien, Dienstag Reichspoſt 21. Juni 1904 140 Gletſcher, ſchöne Gegenden, herrliche Luft, ge- ſundes Waſſer und der biedere, ſtreng religiöſe, kindlich treue Charakter des Tirolervolkes iſt es, was die Fremden zu uns herführt. Berge, Luft und Waſſer üben keine größere Anziehungskraft auf die Fremden aus, wenn wir proteſtantiſche Tempel an den Rand der Gletſcher ſtellen. Wenn wir aber den heutigen Volkscharakter nicht zu wahren verſtehen, wird das Land ſeine größte Anziehungskraft verlieren. Ein Teil der Fremden wird ausbleiben, ein anderer ſein Geld an der Grenze einnähen und das Land in mög- lichſt kurzer Zeit wieder verlaſſen und erſt dann wieder ruhig aufatmen, wenn er das letzte Tiroler- hotel ſamt ſeinen Tempeln weit hinter ſich hat; und diejenigen, die wirklich ein Bedürfnis nach religiöſen Uebungen haben und nicht Katholiken ſind, werden doch nicht kommen, ſondern die proteſtantiſche Schweiz vorziehen. Ein edler Menſch achtet die Ueberzeugung anderer. Die Tiroler werden geſchätzt und geliebt wegen jener Eigenſchaften, die ihnen die Kraft gaben, den franzöſiſchen Eroberer zur Zeit ſeiner größten Macht zu beſiegen. Dieſe Eigenſchaft war ihr Gottesvertrauen und die Wurzel desſelben die Glaubenseinheit. Wer dieſe Wurzel zerſtört, der zerſtört, was der Fremde am Tiroler ſchätzt und ſucht; der ſchadet dem Fremdenverkehr. Der Fremde ſucht in Tirol Haſpinger-, Speck- bacher-, Andreas Hofer-Geſtalten und nicht charakter- loſe Windfahnen, die den Glauben wie die Kleider wechſeln. Will der Nichtkatholik in Tirol ſeine An- dacht verrichten, ſo befindet er ſich hier in einem Tempel von ſolcher Erhabenheit, wie ihn Menſchen- hände nicht geſtalten können. Was Tirol iſt und werden kann, wenn die Religionsſpaltung einreißt, wenn der Proteſtantis- mus von Etappe zu Etappe das Land durchſäuert, das hat man geſehen in der erſten Hälfte des XVI. Jahrhunderts, wo auch das einſt ſo treue Tirol einen furchtbaren Bauernkrieg und ſeinen Abfall vom Landesfürſten zu verzeichnen hatte. Wenn ich mir das alles ganz ohne Vorein- genommenheit und ruhig vor Augen halte, ſo muß ich ſagen: Aus rechtlichen und geſetzlichen Gründen — aus religiöſen Motiven, aus Erwägungen der nationalen und der Wehr- kraft — aus Rückſichten auf das wohlverſtandene Intereſſe des Fremdenverkehrs — müſſen wir ganz entſchieden Stellung nehmen gegen den ge- planten Bau einer proteſtantiſch-anglikaniſchen Kirche in Sulden. Wir ſind für Bahn- und Straßenbauten, für jede Hebung und Förderung des Fremdenverkehres. Dieſer Kirchenbau iſt aber nichts als ein Zankapfel, ein Mittel, die Frem- den zu verſcheuchen und uns in den Augen der- ſelben herabzuſetzen. Darum proteſtieren wir feierlich dagegen und verlangen von der Regie- rung, daß ſie den Bau auf Grund des klaren Wortlautes des Geſetzes verhindere. (Donnernder Beifall.) Der Enthuſiasmus, den dieſe Rede erweckt hatte, wurde durch die Ausführungen der beiden anderen Redner noch verſtärkt. Die Proteſtent- ſchließung gegen den Suldener Kirchenbau wurde ſodann einſtimmig angenommen. Die Konſerva- tiven waren zu der Verſammlung geladen worden, doch war nur der konſervative Klerus der Gegend erſchienen, unter dem die perſönliche Bekanntſchaft mit den chriſtlich-ſozialen Rednern ſichtlich manches Vorurteil zerſtreute. Politiſche Rundſchau. Oeſterreich-Ungarn. Wien, am 20. Juni. Zur politiſchen Lage. Abgeordneter Doktor Kramar hielt geſtern in Tabor die angekündigte Rede, die folgende Idee ausdrückte: Er habe in ſeiner Jungbunzlauer Rede keine Drohung aus- ſprechen, ſondern nur die gegenwärtige Situation kennzeichnen wollen. Die Tſchechen müſſen ob- ſtruieren, um die Verfaſſung zu retten. Das ſollten auch die Deutſchen bedenken und die tſchechiſch- nationalen Forderungen gewähren, weil dann die Tſchechen mit ihnen an der Erweiterung der bür- gerlichen Freiheit und an dem Aufblühen des Parlamentartsmus arbeiten werden. — Wie man ſieht, haben die tſchechiſchen Rhetoriker ver- ſchiedene Melodien auf Lager. Nur iſt eine ſo falſch, wie die andere. Eine „chriſtlich-ſoziale Sumpfblaſe“. Die alldeutſche Preſſe bauſcht jetzt einen Privat- ſtreit, welchen das „Deutſche Volksblatt“ mit dem Landesrat Dr. Thomas ausſicht, zu einer großen Affäre auf, macht daraus eine chriſtlich- ſoziale Skandalaffäre, ſpricht von „chriſtlich-ſozialen Dieben“ u. ſ. w. Nach der Darſtellung des ge- nannten Blattes ſoll angeblich Dr. Thomas — und zwar nach ſeiner Behauptung mit Dr. Luegers Zuſtimmung — von großen jüdiſchen Organiſationen Geld geſammelt haben, um damit jenes Blatt bekämpfen zu können. Die alldeutſche Preſſe macht nun, um ihren Zielen dienen zu können, aus Dr. Thomas ein „hervorragendes chriſtlich-ſoziales Parteimitglied“. Indeſſen weiß jeder Menſch in Wien, daß Dr. Thomas niemals Chriſtlich-Sozialer, ſondern von jeher Deutſch- nationaler und ein Angehöriger der niederöſter- reichiſchen Richtergruppe war. Wir ſind ermächtigt zu konſtatieren, daß Dr. Lueger niemals mit Dr. Thomas in einer ähnlichen Angelegenheit etwas zu tun hatte. Es ſei übrigens beigefügt, daß auch Dr. Thomas die übrige Darſtellung als Erfindung bezeichnet. Der böhmiſche Landtag wird im Früh- herbſte zugleich mit den anderen Landtagen, wie verlautet, wieder zuſammentreten. Nun beabſichtigen die Alldeutſchen die deutſchen Parteien in eine Falle zu locken. Sie wollen, wie ihre Organe mit- teilen, der Plenarverſammlung der deutſchen Ab- geordneten im Herbſt die Aufſtellung folgender Bedingungen für das Aufgeben der Obſtruktion im Landtage empfehlen: 1. Einſtellen der tſchechiſchen Obſtruktion im Reichsrate; 2. Be- ſeitigung der erhöhten Qualifikationsbedingung für die Landesbeamten; 3. Beſetzung von drei Vier- teilen aller neuen Stellen mit Deutſchen, inſo- lange bis den tſchechiſchen Landesbeamten ebenſoviel deutſche Beamte gegenüberſtehen; 4. Berufung mehrerer Deutſcher auf Beamtenpoſten höheren Ranges in allen Zweigen des Landesdienſtes; 5. geſetzliche Sicherſtellung einer der Bevölkerungs- anzahl und der Steuerleiſtung der Deutſchen ent- ſprechenden Vertretung der Deutſchen im Landes- ausſchuſſe, in den Kommiſſionen des Landtages und in allen ſonſtigen vom Landtage beſchickten Landesanſtalten. — Es hat bereits die tſchechiſche Obſtruktion im Reichsrate bewieſen, wie ver- hängnisvoll es für die Obſtruierenden ſelber iſt, ſich für einen längeren Kampf durch beſtimmte Bedingungen zu binden. — Die Alldeutſchen hoffen auch gar nicht, daß die übrigen deutſchen Parteien ſich in dieſer Weiſe die Hände binden zu laſſen beabſichtigen, ſondern ſie wünſchen damit offenbar nur, ein Schlagwort gegen die deutſchen Parteien für eventuelle Neuwahlen zu erhalten. Ein Urteil über die Prager Stadt- verwaltung, herb und voll grimmigen Spottes gegen die Prager tſchechiſchen Nationaliſten, gibt der Prager „Czas“ ab. Das Blatt wendet ſich gegen den Plan der Prager Stadtgemeinde, ſieben Millionen für einen Repräſentationspalaſt aufzu- wenden und ſchreibt: „Unſer eitles Paradieren und unſere Oberflächlichkeit tritt nirgends ſo kraß zutage, wie in der Prager Gemeindewirtſchaft. Die Finanzlage der Stadt iſt wahrhaft jammervoll; für die allerdringlichſten Lebensbedürfniſſe der Gemeinde iſt kein Geld vorhanden; wir haben kein Trinkwaſſer, keine Volksbäder, die hygieniſchen Vorkehrungen ſind überhaupt die allerletzte Sorge der Stadtväter; für die Prager Stadtverwaltung ſind irgend welche Bräuhausaktien wichtiger als alle Probleme einer Großkommune zuſammen- genommen. Dafür hat dieſe Stadtverwaltung ge- weckten Sinn für nationale Ehre und Repräſen- tationspflichten; die Stadtväter ſehen z. B., daß die Deutſchen auf dem Graben ein famos ein- gerichtetes Kaſino haben und ſtatt ſich zu ſagen, die Deutſchen haben Geld genug, ſie ſollen es hinauswerfen, wenn ſie wollen, wir aber haben wenig Geld und die patriotiſche Verpflichtung, zu ſparen und Sorge zu tragen, daß die Gemeinde- wirtſchaft der einzigen tſchechiſchen Großkommune muſterhaft ſei und den nationalen Wohlſtand kräftige, erklären ſie im Gegenteil: Wir kaufen einen noch teureren Platz und bauen dort ein noch teureres Wirtshaus auf und wenn’s ſelbſt ſieben Millionen koſten ſollte. Und wir werden dann wiſſen, wohin wir die Gemeinderäte von Paris, die Generäle aus Rußland und die Fuß- ballſpieler aus Kopenhagen führen können. Elber- feld hat den Ruf, die muſterhafteſte Armenpflege eingeführt zu haben. Edinburgh wird gelobt, daß es die ſauberſte Kanaliſation beſitze; Dresden hat ſeine Villenviertel, ſeine Häuſer in den Gärten; nach Prag aber werden die Leute wallfahrten, weil im Bädecker die Reklame ſtehen wird: Die Prager Gemeinde hat das teuerſte Wirts- haus in Europa. Darin liegt etwas Tſchechiſch- Altbäuerliches, das der Putzſucht Millionen opfert und die letzte Schindel am Dach einſchuldet.“ Die Parteienzerſplitterung bei den Tſchechen. Um das Landtagsmandat von Nachod bewerben ſich vier Kandidaten und zwar: Der ſelbſtändige jungtſchechiſche Kandidat Bezirksobmann und Bürgermeiſter Cizek, der ſelbſtändige radikale Kandidat Ingenieur Reziak, der agrariſche Kandidat Johann Kotland und für die National-Sozialiſten der Redakteur Kovarovic, ein Anhänger des Ab- geordneten Klofač. Deutſches Reich. Der Hauptangriff gegen die Hereros wird verſchoben. Der von Oberſt Leutwein ſorg- fältig vorbereitete und kurz vor der Ankunft des Generalleutnants von Trotha begonnene neue Feldzug gegen die Herero hat eine unerwartete Wendung genommen. Trotha hält angeſichts der großen Streitmacht, die der Feind in der Gegend des Waterberges verſammelt hat, den Zeitpunkt für einen entſcheidenden Vorſtoß offenbar noch nicht für gekommen und hat infolgedeſſen den von Leutwein entworfenen Operationsplan umgeſtoßen. Oberſt Leutwein brach auf Wunſch Trothas von Owikokerero nach Okahandja auf, um dort ſeine Unterſtützung zur Verfügung zu ſtellen, beziehungs- weiſe in Windhuk die Geſchäfte des Gouvernements zu übernehmen. Zu entſcheidenden Schlägen gegen den Feind ſoll es nicht kommen, bis auch die neu eingetroffenen Truppen operationsfähig ſind. Die alten Truppen rücken in drei Abteilungen mög- lichſt nahe an den Feind heran, um ihn zu beobachten und ſein etwaiges Entweichen zu ver- hindern. Das Kommando über den zurückbleibenden Reſt, der als eine neue Abteilung formiert wird, übernimmt Major von Glaſenapp. Niederlande. Der antiliberale Wahlſieg bei den Wahlen zu den Provinzialräten hat die Parteienverhältniſſe in dieſem Vertretungskörper ganz verändert. Die ſogenannten Anti-Revo- lutionäre (Proteſtantiſch-Konſervativen) und die Katholiken haben jetzt die Mehrheit in Süd- Holland, Limburg, Nordbrabant, Utrecht, Zee- land, Gelderland, während die Liberalen nur noch in den Provinzen Nord-Holland, Friesland und Groningen über die Mehrheit verfügen. Da die Provinzialſtaaten die Erſte Kammer zu wählen haben, ſo braucht das Miniſterium Kuijper nur die Erſte Kammer aufzulöſen, um ſich auch dort eine Mehrheit zu ſichern. Die Auf- löſung wird ſicher erfolgen, falls die zurzeit noch in ihrer Mehrheit liberale Erſte Kammer das von der Zweiten Kammer angenommene Geſetz über den höheren Unterricht ablehnen ſollte. Frankreich. Die Angelegenheiten zwiſchen dem Vatikan und Frankreich — ſo ſchreibt man uns aus Rom — gehen zwar einen wahren Schneckengang, aber ſie ruhen durchaus nicht. Wer alſo von einem ſogenannten Abbruch der diplomatiſchen Beziehungen oder auch nur von einem Stillſtand derſelben reden will, befindet ſich auf einer durchaus falſchen Fährte. Die franzöſiſche Botſchaft beim Vatikan wird zwar durch einen noch verhältnismäßig ſehr jungen „Chargé d’ affaire“ geleitet, welcher nur den Titel eines dritten Botſchaftsſekretärs führt doch gehen die Geſchäfte und Verhandlungen fort, wie früher. Allwöchentlich erſcheint dieſer Diplomat beim päpſtlichen Staatsſekretär Kardinal Merry del Val, um ſich an dem allgemeinen diplo- matiſchen Empfange zu beteiligen. Und bei dieſen Empfängen hat er noch kein einziges Mal gefehlt. Merkwürdig iſt übrigens, daß man franzöſiſcherſeits dem Vatikan keine offizielle Mit- teilung davon gemacht hat, daß der bevoll- mächtigte Miniſter de Navenne nicht die Ver- tretung des Botſchafters Niſard übernehme. Am Tage ſeiner Abreiſe teilte der Botſchafter dem Kardinal-Staatsſekretär mit, daß „in den nächſten Tagen“ der gerade auf Urlaub befindliche Bot- ſchaftsrat de Navenne zu ſeiner Vertretung ein- treffen werde. Da der Entſchluß der franzöſiſchen Regierung, den Botſchaftsrat in Paris zu be- laſſen, dem Vatikan nicht amtlich mitgeteilt wurde, ſo nimmt man im päpſtlichen Staatsſekretariate noch heute „offiziell“ an, daß de Navenne jeden Tag die Geſchäfte übernehmen werde. Der jetzige Chargé d’ affaire, Herr de Courcel, iſt erſt anfangs der dreißiger Jahre und war bis vor kurzem in der Umgebung des Miniſters Delcaſſé beſchäftigt. Nach Beendigung des Konklaves kam er an die Botſchaft in Rom. Herr de Courcel, welcher durch die beſonderen Verhältniſſe mit einem Mal vom dritten und letzten Sekretär zum Chef der Botſchaft avanziert

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Benjamin Fiechter, Susanne Haaf: Bereitstellung der digitalen Textausgabe (Konvertierung in das DTA-Basisformat). (2018-01-26T13:38:42Z)
grepect GmbH: Bereitstellung der Texttranskription und Textauszeichnung. (2018-01-26T13:38:42Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Amelie Meister: Vorbereitung der Texttranskription und Textauszeichnung. (2018-01-26T13:38:42Z)

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Zitationshilfe: Reichspost. Nr. 140, Wien, 21.06.1904, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_reichspost140_1904/2>, abgerufen am 21.11.2024.