Reichspost. Nr. 168, Wien, 26.07.1900.168 Wien, Donnerstag Reichspost 26. Juli 1900 [Spaltenumbruch] Streiflichter. Protestautische Bildungsanstalten mit katholischem Gelde. Mit Vorliebe pflegen die Protestanten auf ihr P. Stenz über die Arsachen der chinesischen Wirren. P. Stenz ist bekanntlich im vorigen Jahre Mit Eifer und Hast sucht jetzt Jeder am Morgen Ich habe nie geglaubt, daß die Herzog K'ung soll das Centrum der Bewegung In einigen Zeitungen wurden die Missionäre Daß auch die chinesische Regierung nicht der An- Auch Ingenieure und Kaufleute können Nach meiner Ansicht sind also die Beamten, Solche Worte erregten bei den Mächten Die Gesandten haben diese Machinationen Li-Hin-Heng, der nach dem Morde der 168 Wien, Donnerſtag Reichspoſt 26. Juli 1900 [Spaltenumbruch] Streiflichter. Proteſtautiſche Bildungsanſtalten mit katholiſchem Gelde. Mit Vorliebe pflegen die Proteſtanten auf ihr P. Stenz über die Arſachen der chineſiſchen Wirren. P. Stenz iſt bekanntlich im vorigen Jahre Mit Eifer und Haſt ſucht jetzt Jeder am Morgen Ich habe nie geglaubt, daß die Herzog K’ung ſoll das Centrum der Bewegung In einigen Zeitungen wurden die Miſſionäre Daß auch die chineſiſche Regierung nicht der An- Auch Ingenieure und Kaufleute können Nach meiner Anſicht ſind alſo die Beamten, Solche Worte erregten bei den Mächten Die Geſandten haben dieſe Machinationen Li-Hin-Heng, der nach dem Morde der <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0009" n="9"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">168 Wien, Donnerſtag Reichspoſt 26. Juli 1900</hi> </fw><lb/> <cb/> <div type="jVarious" n="1"> <head> <hi rendition="#b">Streiflichter.</hi> </head><lb/> <div type="jArticle" n="2"> <head> <hi rendition="#b">Proteſtautiſche Bildungsanſtalten mit<lb/> katholiſchem Gelde.</hi> </head><lb/> <p>Mit Vorliebe pflegen die Proteſtanten auf ihr<lb/> angebliche Ueberlegenheit auf dem Gebiete der Schule,<lb/> des höhrren Unterrichtes u. ſ. w. hinzuweiſen und mit<lb/> Geringſchätzung auf die <hi rendition="#g">„inferioren Katho-<lb/> tiken“</hi> herabzublicken. Abgeſehen aber davon, conſta-<lb/> lirt die „Augsb. Poſtzeitung“, daß ihre meiſten heu-<lb/> tigen Bildungsanſtalten aus der <hi rendition="#g">katholiſchen<lb/> Vorzeit</hi> ſtammen, werden auch ihre neueren, dem<lb/> Unterrichte dienenden Inſtitute zum großen Theile aus<lb/><hi rendition="#g">ehemaligem katholiſchen Kirchen-</hi><lb/> und <hi rendition="#g">Kloſtervermögen</hi> unterhalten be-<lb/> ziehungsweiſe unterſtützt. Nach ungefähren Schätzungen<lb/> dürfte das geſammte ſeinerzeit „ſäculariſirte“ Kirchen-<lb/> vermögen in Preußen nach heutigem Geldwerthe gegen<lb/><hi rendition="#g">eine Milliarde Mark</hi> betragen, ſo<lb/> daß bei einer Verzinſung von drei Percent der preu-<lb/> ßiſchen Staatscaſſe jährlich an <hi rendition="#g">30 Millionen<lb/> Mark</hi> zufließen. Hiervon bezahlt Preußen, von nicht<lb/> auf rechtlichen Verpflichtungen ruhenden Titeln, nur<lb/> 2,352.716 Mark für katholiſche Zwecke, während der<lb/><hi rendition="#g">ungeheure Reſt</hi> zum großen Theil <hi rendition="#g">rein<lb/> proteſtantiſchen Zwecken</hi> zugewendet<lb/> wird. Von den zahlreichen in katholiſcher Zeit ge-<lb/> ſtifteten Schul- und Studienfonds erhalten die Prote-<lb/> ſtanten gleichfalls den Löwenantheil, obwohl ſich faſt<lb/> überall der ausſchließliche katholiſche Beſtimmungszweck<lb/> nachweiſen läßt. In Anbetracht dieſer Umſtände iſt es<lb/> doch ſicher nicht zu verwundern, wenn die Prote-<lb/> ſtanten in dieſer Beziehung den Katholiken über ſind<lb/> und hätten deshalb erſtere wohl Grund, ſich nicht all-<lb/> zuſehr zu erheben.</p> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <div type="jArticle" n="2"> <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">P.</hi> Stenz<lb/> über die Arſachen der chineſiſchen Wirren.</hi> </head><lb/> <p><hi rendition="#aq">P.</hi><hi rendition="#g">Stenz</hi> iſt bekanntlich im vorigen Jahre<lb/> in China <hi rendition="#g">gemartert</hi> worden. Wir haben<lb/> einen ausführlichen Bericht über ſein Martyrium<lb/> gebracht. Nun haben ihn ſeine Oberen zur Wieder-<lb/> herſtellung ſeiner Geſundheit nach Europa und<lb/> zwur ins Miſſionshaus St. Gabriel bei Mödling<lb/> geſandt. Dieſer Kenner der chineſiſchen Verhältniſſe<lb/> entwickelt nun ſeine Anſichten im „Vaterland“.<lb/> Seiue Ausführungen widerlegen eine Menge falſcher<lb/> Anſichten über die Urſache der Wirren in China,<lb/> indem ſie die <hi rendition="#g">Kaiſerin</hi> als deren Haupt-<lb/> Urheberin und die Habſucht, Uneinigkeit und Sorg-<lb/> loſigkeit der europäiſchen Mächte und ihrer Diplo-<lb/> matte als die Haupturſache derſelben hinſtellen.<lb/><hi rendition="#aq">P.</hi> <hi rendition="#g">Stenz</hi> führt im Weſentlichen Folgendes aus:</p><lb/> <p>Mit Eifer und Haſt ſucht jetzt Jeder am Morgen<lb/> die Nachrichten zu erlangen, die das Kabel aus China<lb/> gebracht. Trotzdem man weiß, daß mindeſtens <hi rendition="#g">zwei<lb/> Drittel</hi> dieſer neueſten Nachrichten <hi rendition="#g">erlogen</hi><lb/> ſind, will doch Jeder dieſelben leſen. Für den, der<lb/> mit chineſiſchen Verhältniſſen bekannt iſt, kommen da<lb/> die curiofeſten Sachen zum Vorſchein. Die eine Zeitung<lb/> weiß, daß die Kaiſerin vergiftet ſei, die andere, daß<lb/> Prinz Tuan ſich zum Kaiſer ausgerufen und ſich<lb/> „Tuan Kaiſer“ unterſchrieben habe; die eine hält die<lb/> Kaiſerin für dumm, die andere nennt ſie ſchlau.<lb/> Eine „zuverläſſige Quelle“ weiß wieder zu berichten,<lb/> daß die Kaiſerin niemals Peking verlaſſen und über-<lb/> haupt unfähig ſei, ob ihrer Klumpfüße die Stadt zu<lb/> verlaſſen. Anfangs meinte man, mit etlichen Soldaten<lb/> den „dummen Chineſern“ den Garaus machen zu<lb/> können, und als das nicht glückte, ſchimpfte man und<lb/> klagte man. Dann „vermutheten“ die Herren Zeitungs-<lb/> ſchreiber über die Urſachen der ganzen Revolte, Herzog<lb/><hi rendition="#g">K’ung,</hi> der Nachkomme des Confucius, Prinz Tuan,<lb/> die Kaiſerin, die Geſandten, die Miſſionäre, die<lb/> Ingenieure ſollten der Reihe nach Schuld ſein an dem<lb/> jetzigen Zuſtande. Da wird es denn auch erlaubt ſein,<lb/> unſere Anſicht zu bringen.</p><lb/> <p>Ich <hi rendition="#g">habe nie geglaubt,</hi> daß die<lb/><hi rendition="#g">Kaiſerin todt ſei,</hi> denn ich halte ſie für die<lb/> eigentliche Urheberin der ganzen Revolte. Meine Be-<lb/> weiſe dafür werde ich unten bringen. Daß Prinz Tuan<lb/> ſich Kaiſer Tuan nennt, iſt undenkbar. In China<lb/> nehmen die Kaiſer einen anderen Namen an. Und daß<lb/> die Kaiſerin nicht dumm iſt, hat ſie vollſtändig in<lb/> ihrer ganzen Politik bewieſen. Sie kennt auch ihr Volk.<lb/> Sie geht heimlich in die Stadt, ja ſie iſt vor 40 Jahren<lb/> aus Peking geflüchtet und bis in die Hauptſtadt<lb/> Schantungs, Tſinaenfu, gekommen. Ihre Klumpfüße<lb/> können ſie am Ausgehen nicht hindern, denn ſie hat<lb/> als Tartarin keine verkrüppelten Füße. Doch das ſind<lb/> ja Kleinigkeiten.</p><lb/> <p>Herzog <hi rendition="#g">K’ung</hi> ſoll das Centrum der Bewegung<lb/> ſein. Schreiber dieſes hat noch am 21. April den<lb/> Herzog geſehen und geſprochen. — Ich habe in ſeinem<lb/> Yamen gewohnt, an ſeiner Tafel geſpeiſt, wir haben<lb/> uns gegenſeitig zum Zeichen der Freundſchaft Geſchenke<lb/> gemacht. ·Ich habe von ihm unter Anderem zwei<lb/> Rollen erhalten, die er ſelbſt beſchrieben, auf denen er<lb/> mich ſeinen „älteſten Bruder“ nennt. Ich kenne ſeine<lb/> Geſinnung in Bezug auf die Europäer. Er iſt uns<lb/> ſehr freundlich geſinnt. Zwei meiner beſten chineſiſchen<lb/> Freunde umgeben ihn, die mit europäiſchen Verhält-<lb/> niſſen genau vertraut ſind. K’ung ſelbſt iſt auch nicht<lb/><cb/> der Mann, der eine ſolche Bewegung ins Leben rufen<lb/> könnte.</p><lb/> <p>In einigen Zeitungen wurden die <hi rendition="#g">Miſſionäre</hi><lb/> als Urſache des Aufſtandes genannt. Ja, inſoferne ſie<lb/> als Europäer den chriſtlichen Glauben verkünden, find<lb/> ſie mitſchuldig, aber dieſe Schuld gereicht ihnen doch<lb/> nur zur Ehre. Daß ſie nicht durch unkluges Benehmen<lb/> eine Verfolgung provocirten, iſt doch eigentlich ſelbſt-<lb/> verſtändlich, indem ſie ſich ja dadurch ſelbſt am<lb/> meiſten ſchaden würden. Nun, die katholiſchen Miſſio-<lb/> näre ſind von proteſtantiſchen Männern, die in<lb/> China gelebt und die Verhältniſſe ſelbſt ſtudirt<lb/> haben, gerechtfertigt worden. In den letzten Tagen<lb/> that dies noch der ſtellvertretende deutſche Richter in<lb/> Tſingtau, Dr. Eichheim. Aber auch die proteſtan-<lb/> tiſchen Miſſionäre ſind nicht ſo unklug, ſich ſelbſt zu<lb/> ſchaden. Wenn man dem Herrn v. Ketteler die Worte<lb/> in den Mund legt, die Miſſionen hätten es mit dem<lb/> Plebs zu thun, der ſie ausnütze und ſpäter ſie mit<lb/> Proceſſen am Conſulargericht beläſtige, ſo iſt darauf<lb/> zu antworten: Die reichſten Chineſen in Shang hai,<lb/> Singapore, Hongkong ſind Chriſten (Katholiken). In<lb/> Schantung z. B. gibt es eine ganze Reihe von Chriſten,<lb/> die 300, 500, 1000, 10.000, ja 60.000 Morgen Land<lb/> beſitzen. Bei kirchlichen Feierlichkeiten in Peking hätte<lb/> der Geſandte ſich ſelbſt überzeugen können, daß Hun-<lb/> derte von Knoblirten (Gelehrte und Würdenträger) allein<lb/> in der einen Kirche Peit’ang zu den Sacramenten<lb/> gingen. Zudem haben die Conſulargerichte mit den<lb/> Chriſten nichts zu thun, indem ja die Mächte den<lb/> Chriſtenſchutz bis jetzt verweigert haben.</p><lb/> <p>Daß auch die chineſiſche Regierung nicht der An-<lb/> ſicht iſt, daß die Miſſionäre Ruheſtörer ſeien, hat ſie<lb/> bewieſen, indem ſie den hervorragendſten katholiſchen<lb/> Biſchöfen Chinas, v. Anzer und Favier, die höchſten<lb/> Auszeichnungen (Rang von Vicekönigen) gegeben, „weil<lb/> ſie wegen ihrer friedlichen Geſinnung ſo viel Gutes<lb/> gethan in China“. Ich weiß zudem aus Erfahrung,<lb/> daß das Volk die Miſſionäre dort, wo es ſie kennt,<lb/> liebt und achtet. Die angenehmſten und beſten Leute<lb/> ſind z. B. in den Städten Schantungs mit den Miſ-<lb/> ſionären befreundet, gehen im Miſſionshauſe ein und<lb/> aus und ſchicken ihre Kinder in die Schulen. Bei<lb/> allen größeren Unruhen haben immer die Ge-<lb/> lehrten und Vornehmen der Miſſion geholfen<lb/> und ſie gerettet. Nur in ganz neu eröffneten<lb/> Gebieten, in denen vorher gar nie Europäer<lb/> geweſen, werden Anfangs Schwierigkeiten gemacht. Alle<lb/> Mißhandlungen von Miſſionären in den letzten Jahren<lb/> haben in ſolchen Gegenden ſtattgefunden.</p><lb/> <p>Auch <hi rendition="#g">Ingenieure</hi> und <hi rendition="#g">Kaufleute</hi> können<lb/> nicht eine ſolche Bewegung hervorrufen, die ſolchen<lb/> Umfang angenommen. Es mag ja ſein, daß durch<lb/> ſchneidiges Auftreten, durch ſchlechtes Beiſpiel kleinere<lb/> Unruhen ganz localer Natur entſtehen, aber eine<lb/> Rebellion, die ſich über das ganze Rieſenreich erſtreckt,<lb/> kann nicht von ſolchen, immerhin verhältnißmäßig<lb/> kleinen Verſtößen abhängig ſein. Daß der <hi rendition="#g">Bahnbau,</hi><lb/> der <hi rendition="#g">Bergbau</hi> viel böſes Blut verurſachen kann<lb/> und thatſächlich auch verurſacht hat, iſt ſelbſtverſtänd-<lb/> lich, zumal die Mandarine großentheils Gegner waren<lb/> und auch die Leiter und Beamten dieſer Unter-<lb/> nehmungen nicht vertraut ſind mit der chineſiſchen<lb/> Sprache und Verhältniſſen, und oft in grauenhafter<lb/> Weiſe von ihren untergebenen chineſiſchen Dolmetſchen<lb/> und Unterbeamten hintergangen wurden. Wer aber<lb/> das chineſiſche Volk kennt, wird wiſſen, daß dasſelbe<lb/> ſich nicht zu erheben wagt, wenn es nicht höhere Pro-<lb/> tection hat.</p><lb/> <p>Nach meiner Anſicht ſind alſo die Beamten,<lb/> reſpective in erſter Beziehung die <hi rendition="#g">Kaiſerin</hi> die<lb/><hi rendition="#g">Urheberin des ganzen Aufſtandes,</hi><lb/> auch wenn ſie das jetzt leugnet und ſich vergiftet<lb/> und abgeſetzt ſtellt, auch wenn ſie Prinz Tuan als<lb/> Urheber angibt. Sie iſt ein verſchmitztes Weib, das zur<lb/> Erreichung ihrer Zwecke gar nichts ſcheut, Gift, Dolch,<lb/> Strick und Henkerbeil weiß ſie anzuwenden. Sie<lb/> war nicht mit der europäerfreundlichen Politik des<lb/> jugendlichen Kaiſers Kuangſu zufrieden und erklärte<lb/> ihn 1898 für krank und unfähig zur Regierung. Seither<lb/> hat ſie ſich öffentlich immer noch als europäerfreundlich<lb/> gezeigt, heimlich dagegen den Haß gegen Alles, was<lb/> aus Europa kommt, geſchürt, in den Mandarinen ſo-<lb/> wohl, wie im Volke. Ihre Politik hat ein hoher<lb/> Mandarin (Cenſor), Admiral Pung-jü-lin, einmal in<lb/> einer Schrift gekennzeichnet. Er ſchreibt: „Der Umgang<lb/> mit den Ausländern kann mit einer chroniſchen Krank-<lb/> heit verglichen werden, die uns verhindert, das zu<lb/> thun, was wir im geſunden Zuſtande thun würden.<lb/> Seit dem Abſchluſſe der Verträge hat China auf<lb/> mancherlei Weiſe gelitten. Vergleiche z. B. die Verträge<lb/> Englands und Amerikas mit den unſerigen! — —<lb/> Deſto ſchlimmer, wir ſind hilflos, gerade jetzt. Man<lb/> darf jetzt nicht vom Kriege ſprechen, da wir noch von<lb/> den Opiumkriegen und dem Taiping-Aufſtande her ge-<lb/> ſchwächt ſind. Es würde nur dazu dienen, Territorien<lb/> einzubüßen und hohen Schadenerſatz zu zahlen. Außer-<lb/> dem befinden ſich in allen Provinzen heimliche Ver-<lb/> bindungen. So lange wir mit dem Fremden Frieden<lb/> halten, können wir dieſen die Stange bieten, ſowie<lb/> wir aber mit den Ausländern zu plänkeln beginnen,<lb/> können wir ſicher ſein, daß unſere inneren Feinde die<lb/> Gelegenheit zur Empörung benützen. Daher iſt es von<lb/> größter Wichtigkeit, wir geben nach, bis wir zum<lb/> Kriege vorbereitet ſind. Die Nationen des Weſtens<lb/> ſind nicht ſo hochgeſinnt wie wir, ſondern ver-<lb/> ſuchen unabläſſig Vortheil von einander zu ziehen. Jede<lb/> der großen Nationen trachtet nach chineſiſchem Gebiete;<lb/><cb/> wenn ſie erſt einen Hafen haben, verlangen ſie noch<lb/> mehrere. Nur gegenſeitige Eiferſucht und theilweiſe<lb/> internationales Geſetz legt ihnen Zügel an, nicht das<lb/> chineſiſche Heer und die Flotte. Die europäiſche Eifer-<lb/> ſucht und Uneinigkeit iſt ein Vortheil, den der Himmel<lb/> China ſendet, daß es ſich vorbereiten kann. <hi rendition="#g">Wenn<lb/> Alles zum Kriege bereit iſt,</hi> dann werden<lb/> wir mit einem Male die Vergangenheit rächen.“</p><lb/> <p>Solche Worte erregten bei den <hi rendition="#g">Mächten<lb/> keinen</hi> Argwohn, weil man die Chineſen für zu<lb/> dumm oder für Halbwilde hielt, die unfähig ſeien, ein<lb/> ſolches Programm durchzuführen. Seit dem japaniſchen<lb/> Kriege, beſonders aber ſeit den Ereigniſſen 1898<lb/> rüſtete China gewaltig. Schreiber dieſes wohnte da-<lb/> mals im Innern Chinas und konnte die Rüſtungen<lb/> gut verfolgen. Wir haben auch nicht unterlaſſen,<lb/> öffentlich in Zeitungen dieſe Rüſtungen zu erwähnen,<lb/> aber dieſe Berichte wurden unerhört oder ſogar übel<lb/> aufgenommen, „weil man durch ſolche Nachrichten die<lb/> Colonien ruinire, indem ja Niemand mehr wage, bei<lb/> ſolchen Verhältniſſen im Hinterland für die Unter-<lb/> nehmer Geld zu geben.“ Wir ſahen, wie die Truppen<lb/> europäiſch geſchult wurden, mit europäiſchen Waffen<lb/> verſehen wurden; überall fanden Militäraushebungen<lb/> ſtatt, Arſenale wurden angelegt, das Volk wurde be-<lb/> waffnet und zu einer geordneten Miliz ausgebildet.<lb/> Von Zeit zu Zeit kamen Mandarine, die Waffen-<lb/> übungen vornahmen. In der Nähe von Peking<lb/> wurde viel Militär, circa 100.000 Mann, zu-<lb/> ſammengezogen. Man fragte ſich, wofür das Alles?<lb/> Als Antwort gab darauf der ſchlaue Chineſe:<lb/> „Das iſt gegen die Räuber, die ſo ſehr überhand<lb/> nehmen.“ In den letzten Monaten wurde außerdem<lb/> eine ganz <hi rendition="#g">genaue Statiſtik</hi> gemacht über die<lb/> Europäer, Miſſionäre, Kaufleute, Ingenieure, die ſich<lb/> im Innern aufhielten. <hi rendition="#g">Sämmtliche Chriſten</hi><lb/> wurden aufgeſchrieben, ſo exact und deutlich, wie man<lb/> das faſt gar nicht gewohnt iſt. Auf die Frage, wes-<lb/> halb, denn den Miſſionären war eine ſolche Sorgfalt<lb/> ſehr verdächtig, erhielt man als Antwort: „Um Euch,<lb/> ſo beſſer ſchützen zn können.“ Dazu kam die Secte der<lb/><hi rendition="#aq">da dan hui</hi> <hi rendition="#g">(große Meſſergeſellſchaft),</hi><lb/> von Engländern, zuerſt Boxers genannt. Dieſe iſt eine<lb/> religiös-politiſche Secte, die als Endziel den Sturz der<lb/> Dynaſtie beabſichtigt, dies aber zu erreichen ſuchte, ähn-<lb/> lich der <hi rendition="#aq">ko lan hui,</hi> indem ſie der Regierung Schwierig-<lb/> keiten mit den Europäern macht. In den verſchiedenen<lb/> Provinzen Chinas hat ſie das verſucht und auch er-<lb/> reicht. 1898 wurden durch Mitglieder dieſer Secte die<lb/> beiden deutſchen Miſſionäre <hi rendition="#aq">P.</hi> Nies und <hi rendition="#aq">P.</hi> Henle er-<lb/> mordet. Folge davon war die Beſetzung Kiao-Tſchaus;<lb/> Folge von Kiao-Tſchau war Wei-Hai-Wei, Port Arthur<lb/> u. ſ. w. Man hat damals geſagt, die Chineſen hätten<lb/> keinen Patriotismus. Daß es ihnen aber nicht gleich-<lb/> giltig war, wenn man ihnen Stück für Stück vom<lb/> Leibe ſchnitt, iſt gewiß. Aber die Abrundungen und<lb/> großen Intereſſen dee „civiliſirten“ Staaten verlangten<lb/> das eben. Die armen Zopfmänner verglichen in ihren<lb/> Schriften ihr Land mit einem Knochen, um welchen<lb/> ſich die europäiſchen Hunde zanken. Als zuletzt<lb/> auch Italien noch ein Stück vom „Knochen“<lb/> abreißen wollte, dabei aber von den Chineſen heraus-<lb/> bugſirt wurde, war es der Kaiſerin genug. Sie gab ein<lb/><hi rendition="#g">geheimes Decret</hi> heraus an alle Gouverneure<lb/> und Vicekönige des Reiches. (Es gelang uns für einige<lb/> Kronen dieſes Decret zu bekommen.) In demſelben wird<lb/> der Gouverneur von Tſchekiang, der die Italiener her-<lb/> ausgeworfen, belobt und den Gouverneuren ſtrengſtens<lb/> aufgetragen, ſich mit allen Kräften zu rüſten. Und<lb/> wenn noch einmal eine Macht in China eindringen<lb/> wollte, müſſe der dortige Gouverneur ſoſort gegen die-<lb/> ſelbe losgehen, ſelbſt ohne vorher in Peking nachge-<lb/> fragt zu haben. Die benachbarten Gouverneure ſeien<lb/> verpflichtet, dem betreffenden Gouverneur zu helfen<lb/> Dieſes Decret veröffentlichten wir in oſtaſiatiſchen<lb/> Blättern. Viele Gouverneure, beſonders der von Schan-<lb/> tung, Namens <hi rendition="#g">Jühien,</hi> benützten nun die <hi rendition="#aq">da dan<lb/> hui</hi> zu ihrem Zwecke. Mit verſchiedenen Mitteln er-<lb/> reichten ſie es, daß die Secte freundlicher gegen ſie<lb/> geſinnt wurde. So zum Beiſpiel fing der Gouverneur<lb/> von Schantung nicht die richtigen Mörder der<lb/> Miſſionäre Henle und Nies, ſondern köpfte zwei andere<lb/> ſchlechte Subjecte (fünf Unſchuldige liegen heute noch<lb/> im Kerker); ſo kämpfte ſie nie gegen dieſelben, wenn<lb/> ſie auch wie Rebellen im Lande umherzogen und die<lb/> Chriſtendörfer zerſtörten und die Bahnbauten ruinirten.</p><lb/> <p>Die <hi rendition="#g">Geſandten</hi> haben dieſe Machinationen<lb/> nicht erkennen wollen oder waren auch vielleicht durch<lb/> gegenſeitige Eiferſucht und Neid gehindert, energiſch<lb/> vorzugehen. <hi rendition="#g">Biſchof v. Anzer und andere<lb/> Miſſionäre haben oft genug ge-<lb/> warnt.</hi> Jühien, der Gouverneur von Schantung,<lb/> konnte nicht abgeſetzt werden, weil er ſonſt ein<lb/> „principientreuer Mann“ ſei. Und mit ſeiner Prin-<lb/> cipientreue zerſtörte er Kirchen und Chriſtendörfer und<lb/> ſchulte ſein Militär gegen die Deutſchen.</p><lb/> <p><hi rendition="#g">Li-Hin-Heng,</hi> der nach dem Morde der<lb/> Miſſionäre Henle und Nies für immer abgeſetzt wurde,<lb/> wurde bald darauf unter den Augen der Geſandten<lb/> noch höher befördert und mußte noch im April dieſes<lb/> Jahres das Militär in Yantſe viſitiren. Jetzt iſt das<lb/> Feuer, das ſo lange geglüht, zu lichterloher Flamme<lb/> geworden und hat vielleicht ſchon alle Europäer in<lb/> Peking verſchlungen. Die Operationen der Europäer<lb/> werden ſehr erſchwert, weil in den Monaten Juni,<lb/> Juli, Auguſt die ſehr ſtarken Regengüſſe fallen, die<lb/> in der Nähe von Peking oft ſtundenweit die Gegend<lb/> unter Waſſer ſetzen. Zudem wurde der Europäerhaß<lb/> dem Volke eingeträufelt, und jedes Dorf bildet mit<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [9/0009]
168 Wien, Donnerſtag Reichspoſt 26. Juli 1900
Streiflichter.
Proteſtautiſche Bildungsanſtalten mit
katholiſchem Gelde.
Mit Vorliebe pflegen die Proteſtanten auf ihr
angebliche Ueberlegenheit auf dem Gebiete der Schule,
des höhrren Unterrichtes u. ſ. w. hinzuweiſen und mit
Geringſchätzung auf die „inferioren Katho-
tiken“ herabzublicken. Abgeſehen aber davon, conſta-
lirt die „Augsb. Poſtzeitung“, daß ihre meiſten heu-
tigen Bildungsanſtalten aus der katholiſchen
Vorzeit ſtammen, werden auch ihre neueren, dem
Unterrichte dienenden Inſtitute zum großen Theile aus
ehemaligem katholiſchen Kirchen-
und Kloſtervermögen unterhalten be-
ziehungsweiſe unterſtützt. Nach ungefähren Schätzungen
dürfte das geſammte ſeinerzeit „ſäculariſirte“ Kirchen-
vermögen in Preußen nach heutigem Geldwerthe gegen
eine Milliarde Mark betragen, ſo
daß bei einer Verzinſung von drei Percent der preu-
ßiſchen Staatscaſſe jährlich an 30 Millionen
Mark zufließen. Hiervon bezahlt Preußen, von nicht
auf rechtlichen Verpflichtungen ruhenden Titeln, nur
2,352.716 Mark für katholiſche Zwecke, während der
ungeheure Reſt zum großen Theil rein
proteſtantiſchen Zwecken zugewendet
wird. Von den zahlreichen in katholiſcher Zeit ge-
ſtifteten Schul- und Studienfonds erhalten die Prote-
ſtanten gleichfalls den Löwenantheil, obwohl ſich faſt
überall der ausſchließliche katholiſche Beſtimmungszweck
nachweiſen läßt. In Anbetracht dieſer Umſtände iſt es
doch ſicher nicht zu verwundern, wenn die Prote-
ſtanten in dieſer Beziehung den Katholiken über ſind
und hätten deshalb erſtere wohl Grund, ſich nicht all-
zuſehr zu erheben.
P. Stenz
über die Arſachen der chineſiſchen Wirren.
P. Stenz iſt bekanntlich im vorigen Jahre
in China gemartert worden. Wir haben
einen ausführlichen Bericht über ſein Martyrium
gebracht. Nun haben ihn ſeine Oberen zur Wieder-
herſtellung ſeiner Geſundheit nach Europa und
zwur ins Miſſionshaus St. Gabriel bei Mödling
geſandt. Dieſer Kenner der chineſiſchen Verhältniſſe
entwickelt nun ſeine Anſichten im „Vaterland“.
Seiue Ausführungen widerlegen eine Menge falſcher
Anſichten über die Urſache der Wirren in China,
indem ſie die Kaiſerin als deren Haupt-
Urheberin und die Habſucht, Uneinigkeit und Sorg-
loſigkeit der europäiſchen Mächte und ihrer Diplo-
matte als die Haupturſache derſelben hinſtellen.
P. Stenz führt im Weſentlichen Folgendes aus:
Mit Eifer und Haſt ſucht jetzt Jeder am Morgen
die Nachrichten zu erlangen, die das Kabel aus China
gebracht. Trotzdem man weiß, daß mindeſtens zwei
Drittel dieſer neueſten Nachrichten erlogen
ſind, will doch Jeder dieſelben leſen. Für den, der
mit chineſiſchen Verhältniſſen bekannt iſt, kommen da
die curiofeſten Sachen zum Vorſchein. Die eine Zeitung
weiß, daß die Kaiſerin vergiftet ſei, die andere, daß
Prinz Tuan ſich zum Kaiſer ausgerufen und ſich
„Tuan Kaiſer“ unterſchrieben habe; die eine hält die
Kaiſerin für dumm, die andere nennt ſie ſchlau.
Eine „zuverläſſige Quelle“ weiß wieder zu berichten,
daß die Kaiſerin niemals Peking verlaſſen und über-
haupt unfähig ſei, ob ihrer Klumpfüße die Stadt zu
verlaſſen. Anfangs meinte man, mit etlichen Soldaten
den „dummen Chineſern“ den Garaus machen zu
können, und als das nicht glückte, ſchimpfte man und
klagte man. Dann „vermutheten“ die Herren Zeitungs-
ſchreiber über die Urſachen der ganzen Revolte, Herzog
K’ung, der Nachkomme des Confucius, Prinz Tuan,
die Kaiſerin, die Geſandten, die Miſſionäre, die
Ingenieure ſollten der Reihe nach Schuld ſein an dem
jetzigen Zuſtande. Da wird es denn auch erlaubt ſein,
unſere Anſicht zu bringen.
Ich habe nie geglaubt, daß die
Kaiſerin todt ſei, denn ich halte ſie für die
eigentliche Urheberin der ganzen Revolte. Meine Be-
weiſe dafür werde ich unten bringen. Daß Prinz Tuan
ſich Kaiſer Tuan nennt, iſt undenkbar. In China
nehmen die Kaiſer einen anderen Namen an. Und daß
die Kaiſerin nicht dumm iſt, hat ſie vollſtändig in
ihrer ganzen Politik bewieſen. Sie kennt auch ihr Volk.
Sie geht heimlich in die Stadt, ja ſie iſt vor 40 Jahren
aus Peking geflüchtet und bis in die Hauptſtadt
Schantungs, Tſinaenfu, gekommen. Ihre Klumpfüße
können ſie am Ausgehen nicht hindern, denn ſie hat
als Tartarin keine verkrüppelten Füße. Doch das ſind
ja Kleinigkeiten.
Herzog K’ung ſoll das Centrum der Bewegung
ſein. Schreiber dieſes hat noch am 21. April den
Herzog geſehen und geſprochen. — Ich habe in ſeinem
Yamen gewohnt, an ſeiner Tafel geſpeiſt, wir haben
uns gegenſeitig zum Zeichen der Freundſchaft Geſchenke
gemacht. ·Ich habe von ihm unter Anderem zwei
Rollen erhalten, die er ſelbſt beſchrieben, auf denen er
mich ſeinen „älteſten Bruder“ nennt. Ich kenne ſeine
Geſinnung in Bezug auf die Europäer. Er iſt uns
ſehr freundlich geſinnt. Zwei meiner beſten chineſiſchen
Freunde umgeben ihn, die mit europäiſchen Verhält-
niſſen genau vertraut ſind. K’ung ſelbſt iſt auch nicht
der Mann, der eine ſolche Bewegung ins Leben rufen
könnte.
In einigen Zeitungen wurden die Miſſionäre
als Urſache des Aufſtandes genannt. Ja, inſoferne ſie
als Europäer den chriſtlichen Glauben verkünden, find
ſie mitſchuldig, aber dieſe Schuld gereicht ihnen doch
nur zur Ehre. Daß ſie nicht durch unkluges Benehmen
eine Verfolgung provocirten, iſt doch eigentlich ſelbſt-
verſtändlich, indem ſie ſich ja dadurch ſelbſt am
meiſten ſchaden würden. Nun, die katholiſchen Miſſio-
näre ſind von proteſtantiſchen Männern, die in
China gelebt und die Verhältniſſe ſelbſt ſtudirt
haben, gerechtfertigt worden. In den letzten Tagen
that dies noch der ſtellvertretende deutſche Richter in
Tſingtau, Dr. Eichheim. Aber auch die proteſtan-
tiſchen Miſſionäre ſind nicht ſo unklug, ſich ſelbſt zu
ſchaden. Wenn man dem Herrn v. Ketteler die Worte
in den Mund legt, die Miſſionen hätten es mit dem
Plebs zu thun, der ſie ausnütze und ſpäter ſie mit
Proceſſen am Conſulargericht beläſtige, ſo iſt darauf
zu antworten: Die reichſten Chineſen in Shang hai,
Singapore, Hongkong ſind Chriſten (Katholiken). In
Schantung z. B. gibt es eine ganze Reihe von Chriſten,
die 300, 500, 1000, 10.000, ja 60.000 Morgen Land
beſitzen. Bei kirchlichen Feierlichkeiten in Peking hätte
der Geſandte ſich ſelbſt überzeugen können, daß Hun-
derte von Knoblirten (Gelehrte und Würdenträger) allein
in der einen Kirche Peit’ang zu den Sacramenten
gingen. Zudem haben die Conſulargerichte mit den
Chriſten nichts zu thun, indem ja die Mächte den
Chriſtenſchutz bis jetzt verweigert haben.
Daß auch die chineſiſche Regierung nicht der An-
ſicht iſt, daß die Miſſionäre Ruheſtörer ſeien, hat ſie
bewieſen, indem ſie den hervorragendſten katholiſchen
Biſchöfen Chinas, v. Anzer und Favier, die höchſten
Auszeichnungen (Rang von Vicekönigen) gegeben, „weil
ſie wegen ihrer friedlichen Geſinnung ſo viel Gutes
gethan in China“. Ich weiß zudem aus Erfahrung,
daß das Volk die Miſſionäre dort, wo es ſie kennt,
liebt und achtet. Die angenehmſten und beſten Leute
ſind z. B. in den Städten Schantungs mit den Miſ-
ſionären befreundet, gehen im Miſſionshauſe ein und
aus und ſchicken ihre Kinder in die Schulen. Bei
allen größeren Unruhen haben immer die Ge-
lehrten und Vornehmen der Miſſion geholfen
und ſie gerettet. Nur in ganz neu eröffneten
Gebieten, in denen vorher gar nie Europäer
geweſen, werden Anfangs Schwierigkeiten gemacht. Alle
Mißhandlungen von Miſſionären in den letzten Jahren
haben in ſolchen Gegenden ſtattgefunden.
Auch Ingenieure und Kaufleute können
nicht eine ſolche Bewegung hervorrufen, die ſolchen
Umfang angenommen. Es mag ja ſein, daß durch
ſchneidiges Auftreten, durch ſchlechtes Beiſpiel kleinere
Unruhen ganz localer Natur entſtehen, aber eine
Rebellion, die ſich über das ganze Rieſenreich erſtreckt,
kann nicht von ſolchen, immerhin verhältnißmäßig
kleinen Verſtößen abhängig ſein. Daß der Bahnbau,
der Bergbau viel böſes Blut verurſachen kann
und thatſächlich auch verurſacht hat, iſt ſelbſtverſtänd-
lich, zumal die Mandarine großentheils Gegner waren
und auch die Leiter und Beamten dieſer Unter-
nehmungen nicht vertraut ſind mit der chineſiſchen
Sprache und Verhältniſſen, und oft in grauenhafter
Weiſe von ihren untergebenen chineſiſchen Dolmetſchen
und Unterbeamten hintergangen wurden. Wer aber
das chineſiſche Volk kennt, wird wiſſen, daß dasſelbe
ſich nicht zu erheben wagt, wenn es nicht höhere Pro-
tection hat.
Nach meiner Anſicht ſind alſo die Beamten,
reſpective in erſter Beziehung die Kaiſerin die
Urheberin des ganzen Aufſtandes,
auch wenn ſie das jetzt leugnet und ſich vergiftet
und abgeſetzt ſtellt, auch wenn ſie Prinz Tuan als
Urheber angibt. Sie iſt ein verſchmitztes Weib, das zur
Erreichung ihrer Zwecke gar nichts ſcheut, Gift, Dolch,
Strick und Henkerbeil weiß ſie anzuwenden. Sie
war nicht mit der europäerfreundlichen Politik des
jugendlichen Kaiſers Kuangſu zufrieden und erklärte
ihn 1898 für krank und unfähig zur Regierung. Seither
hat ſie ſich öffentlich immer noch als europäerfreundlich
gezeigt, heimlich dagegen den Haß gegen Alles, was
aus Europa kommt, geſchürt, in den Mandarinen ſo-
wohl, wie im Volke. Ihre Politik hat ein hoher
Mandarin (Cenſor), Admiral Pung-jü-lin, einmal in
einer Schrift gekennzeichnet. Er ſchreibt: „Der Umgang
mit den Ausländern kann mit einer chroniſchen Krank-
heit verglichen werden, die uns verhindert, das zu
thun, was wir im geſunden Zuſtande thun würden.
Seit dem Abſchluſſe der Verträge hat China auf
mancherlei Weiſe gelitten. Vergleiche z. B. die Verträge
Englands und Amerikas mit den unſerigen! — —
Deſto ſchlimmer, wir ſind hilflos, gerade jetzt. Man
darf jetzt nicht vom Kriege ſprechen, da wir noch von
den Opiumkriegen und dem Taiping-Aufſtande her ge-
ſchwächt ſind. Es würde nur dazu dienen, Territorien
einzubüßen und hohen Schadenerſatz zu zahlen. Außer-
dem befinden ſich in allen Provinzen heimliche Ver-
bindungen. So lange wir mit dem Fremden Frieden
halten, können wir dieſen die Stange bieten, ſowie
wir aber mit den Ausländern zu plänkeln beginnen,
können wir ſicher ſein, daß unſere inneren Feinde die
Gelegenheit zur Empörung benützen. Daher iſt es von
größter Wichtigkeit, wir geben nach, bis wir zum
Kriege vorbereitet ſind. Die Nationen des Weſtens
ſind nicht ſo hochgeſinnt wie wir, ſondern ver-
ſuchen unabläſſig Vortheil von einander zu ziehen. Jede
der großen Nationen trachtet nach chineſiſchem Gebiete;
wenn ſie erſt einen Hafen haben, verlangen ſie noch
mehrere. Nur gegenſeitige Eiferſucht und theilweiſe
internationales Geſetz legt ihnen Zügel an, nicht das
chineſiſche Heer und die Flotte. Die europäiſche Eifer-
ſucht und Uneinigkeit iſt ein Vortheil, den der Himmel
China ſendet, daß es ſich vorbereiten kann. Wenn
Alles zum Kriege bereit iſt, dann werden
wir mit einem Male die Vergangenheit rächen.“
Solche Worte erregten bei den Mächten
keinen Argwohn, weil man die Chineſen für zu
dumm oder für Halbwilde hielt, die unfähig ſeien, ein
ſolches Programm durchzuführen. Seit dem japaniſchen
Kriege, beſonders aber ſeit den Ereigniſſen 1898
rüſtete China gewaltig. Schreiber dieſes wohnte da-
mals im Innern Chinas und konnte die Rüſtungen
gut verfolgen. Wir haben auch nicht unterlaſſen,
öffentlich in Zeitungen dieſe Rüſtungen zu erwähnen,
aber dieſe Berichte wurden unerhört oder ſogar übel
aufgenommen, „weil man durch ſolche Nachrichten die
Colonien ruinire, indem ja Niemand mehr wage, bei
ſolchen Verhältniſſen im Hinterland für die Unter-
nehmer Geld zu geben.“ Wir ſahen, wie die Truppen
europäiſch geſchult wurden, mit europäiſchen Waffen
verſehen wurden; überall fanden Militäraushebungen
ſtatt, Arſenale wurden angelegt, das Volk wurde be-
waffnet und zu einer geordneten Miliz ausgebildet.
Von Zeit zu Zeit kamen Mandarine, die Waffen-
übungen vornahmen. In der Nähe von Peking
wurde viel Militär, circa 100.000 Mann, zu-
ſammengezogen. Man fragte ſich, wofür das Alles?
Als Antwort gab darauf der ſchlaue Chineſe:
„Das iſt gegen die Räuber, die ſo ſehr überhand
nehmen.“ In den letzten Monaten wurde außerdem
eine ganz genaue Statiſtik gemacht über die
Europäer, Miſſionäre, Kaufleute, Ingenieure, die ſich
im Innern aufhielten. Sämmtliche Chriſten
wurden aufgeſchrieben, ſo exact und deutlich, wie man
das faſt gar nicht gewohnt iſt. Auf die Frage, wes-
halb, denn den Miſſionären war eine ſolche Sorgfalt
ſehr verdächtig, erhielt man als Antwort: „Um Euch,
ſo beſſer ſchützen zn können.“ Dazu kam die Secte der
da dan hui (große Meſſergeſellſchaft),
von Engländern, zuerſt Boxers genannt. Dieſe iſt eine
religiös-politiſche Secte, die als Endziel den Sturz der
Dynaſtie beabſichtigt, dies aber zu erreichen ſuchte, ähn-
lich der ko lan hui, indem ſie der Regierung Schwierig-
keiten mit den Europäern macht. In den verſchiedenen
Provinzen Chinas hat ſie das verſucht und auch er-
reicht. 1898 wurden durch Mitglieder dieſer Secte die
beiden deutſchen Miſſionäre P. Nies und P. Henle er-
mordet. Folge davon war die Beſetzung Kiao-Tſchaus;
Folge von Kiao-Tſchau war Wei-Hai-Wei, Port Arthur
u. ſ. w. Man hat damals geſagt, die Chineſen hätten
keinen Patriotismus. Daß es ihnen aber nicht gleich-
giltig war, wenn man ihnen Stück für Stück vom
Leibe ſchnitt, iſt gewiß. Aber die Abrundungen und
großen Intereſſen dee „civiliſirten“ Staaten verlangten
das eben. Die armen Zopfmänner verglichen in ihren
Schriften ihr Land mit einem Knochen, um welchen
ſich die europäiſchen Hunde zanken. Als zuletzt
auch Italien noch ein Stück vom „Knochen“
abreißen wollte, dabei aber von den Chineſen heraus-
bugſirt wurde, war es der Kaiſerin genug. Sie gab ein
geheimes Decret heraus an alle Gouverneure
und Vicekönige des Reiches. (Es gelang uns für einige
Kronen dieſes Decret zu bekommen.) In demſelben wird
der Gouverneur von Tſchekiang, der die Italiener her-
ausgeworfen, belobt und den Gouverneuren ſtrengſtens
aufgetragen, ſich mit allen Kräften zu rüſten. Und
wenn noch einmal eine Macht in China eindringen
wollte, müſſe der dortige Gouverneur ſoſort gegen die-
ſelbe losgehen, ſelbſt ohne vorher in Peking nachge-
fragt zu haben. Die benachbarten Gouverneure ſeien
verpflichtet, dem betreffenden Gouverneur zu helfen
Dieſes Decret veröffentlichten wir in oſtaſiatiſchen
Blättern. Viele Gouverneure, beſonders der von Schan-
tung, Namens Jühien, benützten nun die da dan
hui zu ihrem Zwecke. Mit verſchiedenen Mitteln er-
reichten ſie es, daß die Secte freundlicher gegen ſie
geſinnt wurde. So zum Beiſpiel fing der Gouverneur
von Schantung nicht die richtigen Mörder der
Miſſionäre Henle und Nies, ſondern köpfte zwei andere
ſchlechte Subjecte (fünf Unſchuldige liegen heute noch
im Kerker); ſo kämpfte ſie nie gegen dieſelben, wenn
ſie auch wie Rebellen im Lande umherzogen und die
Chriſtendörfer zerſtörten und die Bahnbauten ruinirten.
Die Geſandten haben dieſe Machinationen
nicht erkennen wollen oder waren auch vielleicht durch
gegenſeitige Eiferſucht und Neid gehindert, energiſch
vorzugehen. Biſchof v. Anzer und andere
Miſſionäre haben oft genug ge-
warnt. Jühien, der Gouverneur von Schantung,
konnte nicht abgeſetzt werden, weil er ſonſt ein
„principientreuer Mann“ ſei. Und mit ſeiner Prin-
cipientreue zerſtörte er Kirchen und Chriſtendörfer und
ſchulte ſein Militär gegen die Deutſchen.
Li-Hin-Heng, der nach dem Morde der
Miſſionäre Henle und Nies für immer abgeſetzt wurde,
wurde bald darauf unter den Augen der Geſandten
noch höher befördert und mußte noch im April dieſes
Jahres das Militär in Yantſe viſitiren. Jetzt iſt das
Feuer, das ſo lange geglüht, zu lichterloher Flamme
geworden und hat vielleicht ſchon alle Europäer in
Peking verſchlungen. Die Operationen der Europäer
werden ſehr erſchwert, weil in den Monaten Juni,
Juli, Auguſt die ſehr ſtarken Regengüſſe fallen, die
in der Nähe von Peking oft ſtundenweit die Gegend
unter Waſſer ſetzen. Zudem wurde der Europäerhaß
dem Volke eingeträufelt, und jedes Dorf bildet mit
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Benjamin Fiechter, Susanne Haaf: Bereitstellung der digitalen Textausgabe (Konvertierung in das DTA-Basisformat).
(2018-01-26T13:38:42Z)
grepect GmbH: Bereitstellung der Texttranskription und Textauszeichnung.
(2018-01-26T13:38:42Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Amelie Meister: Vorbereitung der Texttranskription und Textauszeichnung.
(2018-01-26T13:38:42Z)
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): keine Angabe; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: keine Angabe; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): keine Angabe; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: keine Angabe; Silbentrennung: keine Angabe; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: keine Angabe; Zeichensetzung: keine Angabe; Zeilenumbrüche markiert: keine Angabe;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |