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Reichspost. Nr. 212, Wien, 18.09.1906.

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212 Wien, Dienstag Reichspost 18. September 1906

[Spaltenumbruch]
Die Judustriellen als Partei?

Der
ständige Ausschuß der zentralen industriellen
Körperschaften (Bund österreichischer Industrieller,
Industrieller Klub, Zentralverband der Industriellen
Oesterreichs) hat den Beschluß gefaßt, sich als
Komitee zur Vorbereitung der bevorstehenden
Neuwahlen zu konstituieren und die industriellen
und kommerziellen Körperschaften hievon mit dem
Beifügen zu benachrichtigen, daß dem Eintritte
derselben in das Komitee im gegebenen Zeitpunkte
entgegengesehen wird. Der ständige Ausschuß hat
gleichzeitig verschiedene, die Vorbereitung der Neu-
wahlen betreffende Maßnahmen beschlossen und es
wird bereits in der allernächsten Zeit ein Aufruf
an die industriellen Kreise ergehen. -- In allen
politischen Kreisen dürfte man diesem Aufruf mit
einiger Spannung entgegensehen. Seit in Ober-
österreich die Industriellen offiziell auf dem
Parteitage der geeinigten deutschfreisinnigen Par-
teien vertreten waren und erklären ließen, sie
würden im kommenden Wahlkampfe gemeinsam
mit den Freisinnigen vorgehen, ist gegenüber poli-
tischen Rüstungen der unpolitischen industriellen
Verbände gewiß Vorsicht am Platze.

Das Erwachen der Alttschechen.

Aus
Prag, 17. September, wird telegraphiert: Das
Exekutivkomitee der Nationalpartei (Alt-
tschechen) hielt gestern eine zahlreich besuchte
Sitzung ab. Zunächst wurde die Zuschrift des
tschechischen Nationalrates besprochen, welche zu
einer Beratung über die geplante Konzentration
der Parteien einladet. Nach längerer Debatte
wurde einhellig beschlossen, das Exekutivkomitee
möge an den in Vorschlag gebrachten Beratungen
sich beteiligen. Zu Delegierten wurden
Doktor Karl Mattus und Doktor Johann
Sedlak gewählt. Hierauf entspann sich eine
Diskussion über den bisherigen Fortgang
der parlamentarischen Aktion bezüglich der
Wahlreform. Nach längerer Besprechung wurde
einstimmig eine Kundgebung beschlossen, in der es
heißt: "Die Wahlreform entspricht in der Haupt-
sache nicht den Anforderungen der Nationalpartei
weil die Wahl der Abgeordneten durch die Land-
tage der Königreiche und Länder umgangen wird.
Aber abgesehen davon vermissen wir in der
Regierungsvorlage jene soziale Gerechtigkeit, welche
unter Wahrung des Prinzips des allgemeinen
Wahlrechts eine gerechte Vertretung der haupt-
sächlichsten Gesellschaftsschichten und der produzieren-
den Volksklassen sichert. Das größte Unrecht be-
geht aber die vorgeschlagene Wahl-
reform an unserem Volke damit, daß in den Ländern
der böhmischen Krone auf einen Abgeordneten der
anderen Nationalität durchschnittlich um zehn-
tausend weniger Wähler entfallen als auf einen
tschechischen Abgeordneten. Weiters wurde die
Debatte über den neuesten Versuch einer tschechisch-
magyarischen
Verständigung eröffnet. Es ge-
langte mehrseits die Meinung zum Ausdruck, daß
diese Angelegenheit ohne gehörige Vorbereitung von
einzelnen Persönlichkeiten in die Oeffentlichkeit ge-
langte, daß dieselbe keinen ernsten Hintergrund
besitze. Zum Schlusse wurde der Bericht über die
weitere Organisation der Partei erstattet.




Die Sozialdemokraten in Zürich.

[Von unserem Schweizer Korrespondenten.]

Die jetzige Arbeiterbewegung, wie sie
von den Sozialdemokraten proklamiert und
geleitet wird, stellt sich bereits als eine Erscheinung
dar, die unsere Staatsmänner und die herrschende
liberale Partei mit Grauen zu erfüllen beginnt.
Während des abgelaufenen langen Sommers war
besonders die Stadt Zürich der Tummelplatz
sozialistischer Umtriebe. Mit einem unaufhörlich
zäh geführten Maurerstreik begonnen, ergriffen die
Arbeitseinstellungen nach und nach alle Berufs-
arten und wenn die Tramangestellten eingewilligt
hätten, wäre es mitten in der Hochsaison zum
Generalstreik gekommen. Die Unruhen nahmen
aber dennoch eine so bedrohliche Gestalt an,
daß die Regierung zu Militäraufgeboten genötigt
war und man kann sagen, daß die Ruhe nur
durch die bewaffnete Macht wieder hergestellt
wurde. Unter den Angeklagten blieben
zwei Sozialisten hängen, ein Schweizer, der
ein antimilitaristisches Flugblatt erfaßt und ver-
breitete und der Redakteur des führenden sozial-
demokratischen Blattes "Volksrecht" in Zürich,
welcher, ein Deutscher von Geburt (ein schriften-
loser Refraktär), wegen Aufhetzung der Massen aus-
gewiesen wurde. Wie viel Schaden dem Staat
und dem Einzelnen aus diesen Wirren erwuchsen,
ist kaum zu berechnen. Und nun ist der agressive
[Kampf] der Sozialdemokraten auch nur für einmal
[Spaltenumbruch] niedergeschlagen, hinter den Türen und auf den
Arbeitsplätzen dauert er fort, und früher oder
später wird man noch viel Schlimmeres
zu erleben haben. Nach kaum einem Dezennium
wird Zürich sozialistisch sein.

Soweit ist es gekommen in einer Stadt, wo
seit Zwinglis Zeiten man auf liberale Grundsätze
pochte, daß eine liberale Regierung das eid-
genössische Heer um Schutz anrufen muß gegen
seine eigenen Söhne. Wer die Augen offen hat,
dem scheint die Entwicklung ganz natürlich. Seit
lange haben die Liberalen die Sozialdemokraten
gehätschelt und sie für politische Spekulationen
benützt (a la bloc in Frankreich), daneben im
Kampf gegen Rom und jeder positiven Bekenntnis
so viel getan als nur immer möglich. Von den
Kathedern der Hochschule und den Kanzeln
protestantisch reformerischer Geistlichen

wurde das sozialistische Programm ver-
kündet.
Hatte ehedem die Arbeiterbewegung sich
mit rauher Stimme gegen den selbstsüchtigen
Kapitalismus, die rücksichtslose materialistische und
egoistische Ausbeutung der Arbeitskräfte und die
Verkennung des Rechts der Persönlichkeit erhoben,
wobei sie viel Gutes geschaffen hatte, ist sie heute
in ein Stadium geraten, in welchem nichts mehr
gilt als der erbittertste Klassenkampf, der die Gesell-
schaft zur Hölle, die Kulturen zu Brandstätten
umwandelt. -- Eine Umkehr täte dringend not.
Aber wäre sie noch möglich? Ist das Unheil nicht
schon zu weit fortgeschritten? An der Möglichkeit
ist nicht zu verzweifeln, aber am guten Willen.
Der verblendete Liberalismus glaubt, die Sozial-
demokratie mit brutalem Kampf niederzuwerfen
und vermehrt dadurch ihre Reihen. Daß das
wirkliche Glück des Menschen und seine Befrie-
digung in der christlichen Religion, in
einem Familienleben begründet ist, daß
dieses Glück die Voraussetzung der Gerechtigkeit,
Ehrlichkeit, Sparsamkeit und Treue hat, wird
weder der Liberalismus noch die Sozialdemokratie
je anerkennen wollen.

Die Entwicklung der Dinge hat eine be-
sonders scharfe Wendung genommen, seit die
Arbeitgeber auf die Streike mit der Aus-
sperrung
antworten. Sie ist eine zwei-
schneidige Waffe und vergiftet den Krieg noch
mehr. Von Frieden, man mag staatlicherseits mit
Einigungsämtern und Schiedsgerichten zu schlichten
suchen, kann bei den jetzigen Verhältnissen gar
keine Rede sein. Hüben und drüben wird schwer,
sehr schwer gefehlt.




Irland und die Liberale.

Seit Gladstones Tagen gehörte die Re-
form der irischen Verwaltung zum unerschütter-
lichen Bestand des Programms der englischen
Liberalen. Aber der Plan einer Selbstverwaltung,
der "Home rule" scheiterte an dem erbitterten
Widerstand der englischen Wählerschaft. Als die
konservative Partei am Ruder war, befaßte sich
eines ihrer Mitglieder, Lord Dunraven, mit
der Ausarbeitung eines ähnlichen Entwurfes, der
aber nicht den Namen "Home rule", sondern den
der "Devolution for Ireland", des "Heimfalls an
Irland", in Anspruch nahm. Der Konservatis-
mus kam nicht mehr dazu, diese Anschauung
für offiziell zu erklären. Die zur Herr-
schaft gelangten Liberalen dagegen griffen den
guten Gedanken auf und nach einigem Zögern
verkündete der irische Unterstaatssekretär Sir
Anthony Mc Donnell bei einem Festessen,
daß "nach seinem festen Glauben das kommende
Jahr 1907 die Verwirklichung von vielen Hoff-
nungen bringen werde, die die besten Iren seit
Jahren gehegt hätten. Es möchte vielleicht noch
nicht alles sein, was die Iren erwartet hätten,
aber es werde sicherlich die Quelle, aus der sich
die Erfüllung aller Hoffnungen entwickeln würde."
Die Grenzen dieser "Devolution" sind noch nicht
abgesteckt, aber da Unterstaatssekretär Mc Donnell
-- ein katholischer Ire -- bei seinen
Landsleuten hohes Ansehen genießt, darf man
gewärtigen, daß er alles zur reichlichen Befriedigung
seiner Landsleute aufbieten werde.




Tagesbericht.


* Kalender für Monntag den 18. September.

Katholiken: Thomas, Rich. -- Griechen (5. Sep-
tember): Zacharias. -- Sonnenaufgang 5 Uhr 41 Min.
morgens. -- Sonnenuntergang 6 Uhr 07 Minuten
abends. -- Mondesaufgang 5 Uhr 12 Minuten
morgens. -- Mondesuntergang 6 Uhr 26 Minuten
abends.


[Spaltenumbruch]
* Auszeichnungen und Ernennungen.

Der
Kaiser hat dem Berghauptmanne in Krakau Heinrich
Wachtel aus Anlaß der Versetzung in den Ruhe-
stand das Ritterkreuz des Leopold-Ordens, dem Ge-
neralkonsul Josef von Hurter-Amann anläßlich der
Versetzung in den Ruhestand das Komturkreuz des
Franz Josef-Ordens verliehen, den Oberbergrat Dr.
Edmund Riel zum Berghauptmanne für Krakau
ernannt und ihm den Titel eines Hofrates ver-
liehen. -- Der Minister für Kultus und Unterricht
hat dem Professor am Staatsgymnasium in Wiener-
Neustadt Dr. Johann Czerny eine Lehrstelle
an der ersten Staatsrealschule im 2. Wiener Gemeinde-
bezirke und dem wirklichen Lehrer am Staats-
gymnasium in Radautz Dr. Franz Sobalik eine
Lehrstelle am Staatsgymnasium in Wiener-Nen-
stadt verliehen, ferner den Supplenten am Staats-
gymnasium in Saaz Friedrich Süßner zum wirk-
lichen Lehrer am Staatsgymnasium in Radautz er-
nannt, dem Professor am Staatsgymnasium in Brüx
Dr. Anton Jettmar eine Lehrstelle am Sofien-
Gymnasium in Wien verliehen, ferner den provi-
sorischen Lehrer an der Staatsrealschule mit deutscher
Unterrichtssprache in Pilsen Robert Mayer zum
wirklichen Lehrer am Staatsgymnasium in Brüx
und den Supplenten an der griechisch-orientalischen
Realschule in Czernowitz Josef Lipburger zum
provisorischen Lehrer an der Staatsrealschule mit
deutscher Unterrichtssprache in Pilsen, den Supplenten
am fünften Staatsgymnasium in Sokal, den provi-
sorischen Lehrer am Sofien-Gymnasium in Wien
Dr. August Ritter von Kleemann zum provisori-
schen Lehrer am Akademischen Gymnasium daselbst
ernannt. -- Der Statthalter im Erzherzogtume
Oesterreich unter der Enns hat im Stande der Be-
amten der Wiener k. k. Krankenanstalten den Offizial
Franz Packes zum Verwaltungsadjunkten, die
Kanzlisten Alfred Walter und Ludwig Ehn zu
Offizialen, den Amtspraktikanten Josef Hofmeister
und den Oberleutnant d. R. Wenzel Hetz zu Kanz-
listen ernannt.

* Majestäten auf Reisen.

Man depeschiert
aus Biarritz: Der König von Spanien kam
mittels Automobils am Sonntag hier an und stattete
dem Grafen Val de la Grana einen Besuch ab.
Mittags kehrte der König nach San Sebastian
zurück. -- Aus Paris meldet eine Depesche: Der
König der Hellenen
ist aus Aix-les-Bains
hier eingetroffen. Der König wird nach zweitägigem
Aufenthalte die Reise nach Kopenhagen fortsetzen.

* Neuerliche Erdstöße in Südamerika.

Ein Telegramm meldet aus Buenos-Aires vom
Sonntag: Das Blatt "Nacion" meldet aus Falca:
Hier wurden vorgestern und gestern neuerliche Erd-
stöße verspürt. Der gestrige Erdstoß setzte die Be-
völkerung derart in Schrecken, daß sie die Nacht in
den Straßen verbrachte.

* Der neue Assistent der deutschen Jesuiten-
provinz.

Man meldet uns aus Rom: In einer
fünfstündigen Generalkongregation wurden die fünf
Assistenten für den Jesuitenorden ernannt. Für die
Assistenz Italien wurde P. Freddi, für Frankreich
P. Fine wiederum bestätigt. Neugewählt wurden
für die Assistenz Deutschland an Stelle
des P. Meschler der bisherige Provinzial von
Galizien P. Graf Ledochowski,
ein
Nesse des verstorbenen Kardinals Ledochowski;
ferner für Spanien P. Abad, bis vor kurzem Rektor
in Ouna; für England P. Hayes, bisher Rektor in
Liverpool.

* Die Freie Schule gegen die staatlichen
Schulgesetze.

Das Blatt Dr. Kornkes, das sich
mit Eifer dem Amte eines Plakatenträgers des
jüdischen Logentums unterzieht, meldet von der
Wiener Schulanstalt der Freien Schule:

"Die Religion wird den Kindern von einem von
den kirchlichen Oberbehörden nicht dazu berech-
tigt erklärten
weltlichen Lehrer gelehrt. Der
Verein lehntees bisherab, für seine Lehrer,
die Religion lehren, die Genehmigung der kirchlichen
Oberbehörden einzuholen. Eine besondere Behandlung
in bezug auf Religion wird von nun an den Kindern
konfessionsloser Eltern zuteil werden.
Diese Kinder, die nicht an den katholischen Religions-
stunden teilnehmen, werden von nun an nach
französischem Muster
in der Moral-
lehre
unterrichtet werden. Diese Einführung hält
die Leitung der "Freien Schule" für notwendig, weil
der Anstalt wegen dieser Kinder eventuell noch
Schwierigkeiten bereitet werden könnten."

Wenn der Herr Unterrichtsminister Marchet
etwa glauben sollte, es passieren lassen zu können,
daß die "Freie Schule" sich gegen die Gesetze
stemmt, dann wird er sich irren.

* Alfred Graf Hompesch.

Der um seine
Partei hochverdiente Vorsitzende der Zentrumsfraktion
des deutschen Reichstages, Kammerherr und
preußisches Herrenhausmitglied Alfred Graf von
Hompesch-Rurich, beging Sonntag auf Schloß
Rurich seinen achtzigsten Geburtstag. Er ist, wie
die "Germania" schreibt, der einzige unter den noch
aktiven Mitgliedern des Reichstages, der schon der
Eröffnung des konstituierenden Reichstages des
Norddeutschen Bundes am 24. Februar 1867 bei-
gewohnt hat, als Vertreter des rheinischen Wahl-
kreises Erkelenz-Heinsberg-Geilenkirchen. Und auch
damals war er kein parlamentarischer Neuling. Im
preußischen Herrenhaus sitzt er auf Präsentation des
Grafenverbandes der Rheinprovinz selt 23. November
1863 und steht sohin seinem 50jährigen Parlamen-

212 Wien, Dienstag Reichspoſt 18. September 1906

[Spaltenumbruch]
Die Juduſtriellen als Partei?

Der
ſtändige Ausſchuß der zentralen induſtriellen
Körperſchaften (Bund öſterreichiſcher Induſtrieller,
Induſtrieller Klub, Zentralverband der Induſtriellen
Oeſterreichs) hat den Beſchluß gefaßt, ſich als
Komitee zur Vorbereitung der bevorſtehenden
Neuwahlen zu konſtituieren und die induſtriellen
und kommerziellen Körperſchaften hievon mit dem
Beifügen zu benachrichtigen, daß dem Eintritte
derſelben in das Komitee im gegebenen Zeitpunkte
entgegengeſehen wird. Der ſtändige Ausſchuß hat
gleichzeitig verſchiedene, die Vorbereitung der Neu-
wahlen betreffende Maßnahmen beſchloſſen und es
wird bereits in der allernächſten Zeit ein Aufruf
an die induſtriellen Kreiſe ergehen. — In allen
politiſchen Kreiſen dürfte man dieſem Aufruf mit
einiger Spannung entgegenſehen. Seit in Ober-
öſterreich die Induſtriellen offiziell auf dem
Parteitage der geeinigten deutſchfreiſinnigen Par-
teien vertreten waren und erklären ließen, ſie
würden im kommenden Wahlkampfe gemeinſam
mit den Freiſinnigen vorgehen, iſt gegenüber poli-
tiſchen Rüſtungen der unpolitiſchen induſtriellen
Verbände gewiß Vorſicht am Platze.

Das Erwachen der Alttſchechen.

Aus
Prag, 17. September, wird telegraphiert: Das
Exekutivkomitee der Nationalpartei (Alt-
tſchechen) hielt geſtern eine zahlreich beſuchte
Sitzung ab. Zunächſt wurde die Zuſchrift des
tſchechiſchen Nationalrates beſprochen, welche zu
einer Beratung über die geplante Konzentration
der Parteien einladet. Nach längerer Debatte
wurde einhellig beſchloſſen, das Exekutivkomitee
möge an den in Vorſchlag gebrachten Beratungen
ſich beteiligen. Zu Delegierten wurden
Doktor Karl Mattus und Doktor Johann
Sedlak gewählt. Hierauf entſpann ſich eine
Diskuſſion über den bisherigen Fortgang
der parlamentariſchen Aktion bezüglich der
Wahlreform. Nach längerer Beſprechung wurde
einſtimmig eine Kundgebung beſchloſſen, in der es
heißt: „Die Wahlreform entſpricht in der Haupt-
ſache nicht den Anforderungen der Nationalpartei
weil die Wahl der Abgeordneten durch die Land-
tage der Königreiche und Länder umgangen wird.
Aber abgeſehen davon vermiſſen wir in der
Regierungsvorlage jene ſoziale Gerechtigkeit, welche
unter Wahrung des Prinzips des allgemeinen
Wahlrechts eine gerechte Vertretung der haupt-
ſächlichſten Geſellſchaftsſchichten und der produzieren-
den Volksklaſſen ſichert. Das größte Unrecht be-
geht aber die vorgeſchlagene Wahl-
reform an unſerem Volke damit, daß in den Ländern
der böhmiſchen Krone auf einen Abgeordneten der
anderen Nationalität durchſchnittlich um zehn-
tauſend weniger Wähler entfallen als auf einen
tſchechiſchen Abgeordneten. Weiters wurde die
Debatte über den neueſten Verſuch einer tſchechiſch-
magyariſchen
Verſtändigung eröffnet. Es ge-
langte mehrſeits die Meinung zum Ausdruck, daß
dieſe Angelegenheit ohne gehörige Vorbereitung von
einzelnen Perſönlichkeiten in die Oeffentlichkeit ge-
langte, daß dieſelbe keinen ernſten Hintergrund
beſitze. Zum Schluſſe wurde der Bericht über die
weitere Organiſation der Partei erſtattet.




Die Sozialdemokraten in Zürich.

[Von unſerem Schweizer Korreſpondenten.]

Die jetzige Arbeiterbewegung, wie ſie
von den Sozialdemokraten proklamiert und
geleitet wird, ſtellt ſich bereits als eine Erſcheinung
dar, die unſere Staatsmänner und die herrſchende
liberale Partei mit Grauen zu erfüllen beginnt.
Während des abgelaufenen langen Sommers war
beſonders die Stadt Zürich der Tummelplatz
ſozialiſtiſcher Umtriebe. Mit einem unaufhörlich
zäh geführten Maurerſtreik begonnen, ergriffen die
Arbeitseinſtellungen nach und nach alle Berufs-
arten und wenn die Tramangeſtellten eingewilligt
hätten, wäre es mitten in der Hochſaiſon zum
Generalſtreik gekommen. Die Unruhen nahmen
aber dennoch eine ſo bedrohliche Geſtalt an,
daß die Regierung zu Militäraufgeboten genötigt
war und man kann ſagen, daß die Ruhe nur
durch die bewaffnete Macht wieder hergeſtellt
wurde. Unter den Angeklagten blieben
zwei Sozialiſten hängen, ein Schweizer, der
ein antimilitariſtiſches Flugblatt erfaßt und ver-
breitete und der Redakteur des führenden ſozial-
demokratiſchen Blattes „Volksrecht“ in Zürich,
welcher, ein Deutſcher von Geburt (ein ſchriften-
loſer Refraktär), wegen Aufhetzung der Maſſen aus-
gewieſen wurde. Wie viel Schaden dem Staat
und dem Einzelnen aus dieſen Wirren erwuchſen,
iſt kaum zu berechnen. Und nun iſt der agreſſive
[Kampf] der Sozialdemokraten auch nur für einmal
[Spaltenumbruch] niedergeſchlagen, hinter den Türen und auf den
Arbeitsplätzen dauert er fort, und früher oder
ſpäter wird man noch viel Schlimmeres
zu erleben haben. Nach kaum einem Dezennium
wird Zürich ſozialiſtiſch ſein.

Soweit iſt es gekommen in einer Stadt, wo
ſeit Zwinglis Zeiten man auf liberale Grundſätze
pochte, daß eine liberale Regierung das eid-
genöſſiſche Heer um Schutz anrufen muß gegen
ſeine eigenen Söhne. Wer die Augen offen hat,
dem ſcheint die Entwicklung ganz natürlich. Seit
lange haben die Liberalen die Sozialdemokraten
gehätſchelt und ſie für politiſche Spekulationen
benützt (à la bloc in Frankreich), daneben im
Kampf gegen Rom und jeder poſitiven Bekenntnis
ſo viel getan als nur immer möglich. Von den
Kathedern der Hochſchule und den Kanzeln
proteſtantiſch reformeriſcher Geiſtlichen

wurde das ſozialiſtiſche Programm ver-
kündet.
Hatte ehedem die Arbeiterbewegung ſich
mit rauher Stimme gegen den ſelbſtſüchtigen
Kapitalismus, die rückſichtsloſe materialiſtiſche und
egoiſtiſche Ausbeutung der Arbeitskräfte und die
Verkennung des Rechts der Perſönlichkeit erhoben,
wobei ſie viel Gutes geſchaffen hatte, iſt ſie heute
in ein Stadium geraten, in welchem nichts mehr
gilt als der erbittertſte Klaſſenkampf, der die Geſell-
ſchaft zur Hölle, die Kulturen zu Brandſtätten
umwandelt. — Eine Umkehr täte dringend not.
Aber wäre ſie noch möglich? Iſt das Unheil nicht
ſchon zu weit fortgeſchritten? An der Möglichkeit
iſt nicht zu verzweifeln, aber am guten Willen.
Der verblendete Liberalismus glaubt, die Sozial-
demokratie mit brutalem Kampf niederzuwerfen
und vermehrt dadurch ihre Reihen. Daß das
wirkliche Glück des Menſchen und ſeine Befrie-
digung in der chriſtlichen Religion, in
einem Familienleben begründet iſt, daß
dieſes Glück die Vorausſetzung der Gerechtigkeit,
Ehrlichkeit, Sparſamkeit und Treue hat, wird
weder der Liberalismus noch die Sozialdemokratie
je anerkennen wollen.

Die Entwicklung der Dinge hat eine be-
ſonders ſcharfe Wendung genommen, ſeit die
Arbeitgeber auf die Streike mit der Aus-
ſperrung
antworten. Sie iſt eine zwei-
ſchneidige Waffe und vergiftet den Krieg noch
mehr. Von Frieden, man mag ſtaatlicherſeits mit
Einigungsämtern und Schiedsgerichten zu ſchlichten
ſuchen, kann bei den jetzigen Verhältniſſen gar
keine Rede ſein. Hüben und drüben wird ſchwer,
ſehr ſchwer gefehlt.




Irland und die Liberale.

Seit Gladſtones Tagen gehörte die Re-
form der iriſchen Verwaltung zum unerſchütter-
lichen Beſtand des Programms der engliſchen
Liberalen. Aber der Plan einer Selbſtverwaltung,
der «Home rule» ſcheiterte an dem erbitterten
Widerſtand der engliſchen Wählerſchaft. Als die
konſervative Partei am Ruder war, befaßte ſich
eines ihrer Mitglieder, Lord Dunraven, mit
der Ausarbeitung eines ähnlichen Entwurfes, der
aber nicht den Namen «Home rule», ſondern den
der «Devolution for Ireland», des „Heimfalls an
Irland“, in Anſpruch nahm. Der Konſervatis-
mus kam nicht mehr dazu, dieſe Anſchauung
für offiziell zu erklären. Die zur Herr-
ſchaft gelangten Liberalen dagegen griffen den
guten Gedanken auf und nach einigem Zögern
verkündete der iriſche Unterſtaatsſekretär Sir
Anthony Mc Donnell bei einem Feſteſſen,
daß „nach ſeinem feſten Glauben das kommende
Jahr 1907 die Verwirklichung von vielen Hoff-
nungen bringen werde, die die beſten Iren ſeit
Jahren gehegt hätten. Es möchte vielleicht noch
nicht alles ſein, was die Iren erwartet hätten,
aber es werde ſicherlich die Quelle, aus der ſich
die Erfüllung aller Hoffnungen entwickeln würde.“
Die Grenzen dieſer „Devolution“ ſind noch nicht
abgeſteckt, aber da Unterſtaatsſekretär Mc Donnell
— ein katholiſcher Ire — bei ſeinen
Landsleuten hohes Anſehen genießt, darf man
gewärtigen, daß er alles zur reichlichen Befriedigung
ſeiner Landsleute aufbieten werde.




Tagesbericht.


* Kalender für Monntag den 18. September.

Katholiken: Thomas, Rich. — Griechen (5. Sep-
tember): Zacharias. — Sonnenaufgang 5 Uhr 41 Min.
morgens. — Sonnenuntergang 6 Uhr 07 Minuten
abends. — Mondesaufgang 5 Uhr 12 Minuten
morgens. — Mondesuntergang 6 Uhr 26 Minuten
abends.


[Spaltenumbruch]
* Auszeichnungen und Ernennungen.

Der
Kaiſer hat dem Berghauptmanne in Krakau Heinrich
Wachtel aus Anlaß der Verſetzung in den Ruhe-
ſtand das Ritterkreuz des Leopold-Ordens, dem Ge-
neralkonſul Joſef von Hurter-Amann anläßlich der
Verſetzung in den Ruheſtand das Komturkreuz des
Franz Joſef-Ordens verliehen, den Oberbergrat Dr.
Edmund Riel zum Berghauptmanne für Krakau
ernannt und ihm den Titel eines Hofrates ver-
liehen. — Der Miniſter für Kultus und Unterricht
hat dem Profeſſor am Staatsgymnaſium in Wiener-
Neuſtadt Dr. Johann Czerny eine Lehrſtelle
an der erſten Staatsrealſchule im 2. Wiener Gemeinde-
bezirke und dem wirklichen Lehrer am Staats-
gymnaſium in Radautz Dr. Franz Sobalik eine
Lehrſtelle am Staatsgymnaſium in Wiener-Nen-
ſtadt verliehen, ferner den Supplenten am Staats-
gymnaſium in Saaz Friedrich Süßner zum wirk-
lichen Lehrer am Staatsgymnaſium in Radautz er-
nannt, dem Profeſſor am Staatsgymnaſium in Brüx
Dr. Anton Jettmar eine Lehrſtelle am Sofien-
Gymnaſium in Wien verliehen, ferner den provi-
ſoriſchen Lehrer an der Staatsrealſchule mit deutſcher
Unterrichtsſprache in Pilſen Robert Mayer zum
wirklichen Lehrer am Staatsgymnaſium in Brüx
und den Supplenten an der griechiſch-orientaliſchen
Realſchule in Czernowitz Joſef Lipburger zum
proviſoriſchen Lehrer an der Staatsrealſchule mit
deutſcher Unterrichtsſprache in Pilſen, den Supplenten
am fünften Staatsgymnaſium in Sokal, den provi-
ſoriſchen Lehrer am Sofien-Gymnaſium in Wien
Dr. Auguſt Ritter von Kleemann zum proviſori-
ſchen Lehrer am Akademiſchen Gymnaſium daſelbſt
ernannt. — Der Statthalter im Erzherzogtume
Oeſterreich unter der Enns hat im Stande der Be-
amten der Wiener k. k. Krankenanſtalten den Offizial
Franz Packes zum Verwaltungsadjunkten, die
Kanzliſten Alfred Walter und Ludwig Ehn zu
Offizialen, den Amtspraktikanten Joſef Hofmeiſter
und den Oberleutnant d. R. Wenzel Hetz zu Kanz-
liſten ernannt.

* Majeſtäten auf Reiſen.

Man depeſchiert
aus Biarritz: Der König von Spanien kam
mittels Automobils am Sonntag hier an und ſtattete
dem Grafen Val de la Grana einen Beſuch ab.
Mittags kehrte der König nach San Sebaſtian
zurück. — Aus Paris meldet eine Depeſche: Der
König der Hellenen
iſt aus Aix-les-Bains
hier eingetroffen. Der König wird nach zweitägigem
Aufenthalte die Reiſe nach Kopenhagen fortſetzen.

* Neuerliche Erdſtöße in Südamerika.

Ein Telegramm meldet aus Buenos-Aires vom
Sonntag: Das Blatt „Nacion“ meldet aus Falca:
Hier wurden vorgeſtern und geſtern neuerliche Erd-
ſtöße verſpürt. Der geſtrige Erdſtoß ſetzte die Be-
völkerung derart in Schrecken, daß ſie die Nacht in
den Straßen verbrachte.

* Der neue Aſſiſtent der deutſchen Jeſuiten-
provinz.

Man meldet uns aus Rom: In einer
fünfſtündigen Generalkongregation wurden die fünf
Aſſiſtenten für den Jeſuitenorden ernannt. Für die
Aſſiſtenz Italien wurde P. Freddi, für Frankreich
P. Fine wiederum beſtätigt. Neugewählt wurden
für die Aſſiſtenz Deutſchland an Stelle
des P. Meſchler der bisherige Provinzial von
Galizien P. Graf Ledochowski,
ein
Neſſe des verſtorbenen Kardinals Ledochowski;
ferner für Spanien P. Abad, bis vor kurzem Rektor
in Ouna; für England P. Hayes, bisher Rektor in
Liverpool.

* Die Freie Schule gegen die ſtaatlichen
Schulgeſetze.

Das Blatt Dr. Kornkes, das ſich
mit Eifer dem Amte eines Plakatenträgers des
jüdiſchen Logentums unterzieht, meldet von der
Wiener Schulanſtalt der Freien Schule:

„Die Religion wird den Kindern von einem von
den kirchlichen Oberbehörden nicht dazu berech-
tigt erklärten
weltlichen Lehrer gelehrt. Der
Verein lehntees bisherab, für ſeine Lehrer,
die Religion lehren, die Genehmigung der kirchlichen
Oberbehörden einzuholen. Eine beſondere Behandlung
in bezug auf Religion wird von nun an den Kindern
konfeſſionsloſer Eltern zuteil werden.
Dieſe Kinder, die nicht an den katholiſchen Religions-
ſtunden teilnehmen, werden von nun an nach
franzöſiſchem Muſter
in der Moral-
lehre
unterrichtet werden. Dieſe Einführung hält
die Leitung der „Freien Schule“ für notwendig, weil
der Anſtalt wegen dieſer Kinder eventuell noch
Schwierigkeiten bereitet werden könnten.“

Wenn der Herr Unterrichtsminiſter Marchet
etwa glauben ſollte, es paſſieren laſſen zu können,
daß die „Freie Schule“ ſich gegen die Geſetze
ſtemmt, dann wird er ſich irren.

* Alfred Graf Hompeſch.

Der um ſeine
Partei hochverdiente Vorſitzende der Zentrumsfraktion
des deutſchen Reichstages, Kammerherr und
preußiſches Herrenhausmitglied Alfred Graf von
Hompeſch-Rurich, beging Sonntag auf Schloß
Rurich ſeinen achtzigſten Geburtstag. Er iſt, wie
die „Germania“ ſchreibt, der einzige unter den noch
aktiven Mitgliedern des Reichstages, der ſchon der
Eröffnung des konſtituierenden Reichstages des
Norddeutſchen Bundes am 24. Februar 1867 bei-
gewohnt hat, als Vertreter des rheiniſchen Wahl-
kreiſes Erkelenz-Heinsberg-Geilenkirchen. Und auch
damals war er kein parlamentariſcher Neuling. Im
preußiſchen Herrenhaus ſitzt er auf Präſentation des
Grafenverbandes der Rheinprovinz ſelt 23. November
1863 und ſteht ſohin ſeinem 50jährigen Parlamen-

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[3/0003] 212 Wien, Dienstag Reichspoſt 18. September 1906 Die Juduſtriellen als Partei? Der ſtändige Ausſchuß der zentralen induſtriellen Körperſchaften (Bund öſterreichiſcher Induſtrieller, Induſtrieller Klub, Zentralverband der Induſtriellen Oeſterreichs) hat den Beſchluß gefaßt, ſich als Komitee zur Vorbereitung der bevorſtehenden Neuwahlen zu konſtituieren und die induſtriellen und kommerziellen Körperſchaften hievon mit dem Beifügen zu benachrichtigen, daß dem Eintritte derſelben in das Komitee im gegebenen Zeitpunkte entgegengeſehen wird. Der ſtändige Ausſchuß hat gleichzeitig verſchiedene, die Vorbereitung der Neu- wahlen betreffende Maßnahmen beſchloſſen und es wird bereits in der allernächſten Zeit ein Aufruf an die induſtriellen Kreiſe ergehen. — In allen politiſchen Kreiſen dürfte man dieſem Aufruf mit einiger Spannung entgegenſehen. Seit in Ober- öſterreich die Induſtriellen offiziell auf dem Parteitage der geeinigten deutſchfreiſinnigen Par- teien vertreten waren und erklären ließen, ſie würden im kommenden Wahlkampfe gemeinſam mit den Freiſinnigen vorgehen, iſt gegenüber poli- tiſchen Rüſtungen der unpolitiſchen induſtriellen Verbände gewiß Vorſicht am Platze. Das Erwachen der Alttſchechen. Aus Prag, 17. September, wird telegraphiert: Das Exekutivkomitee der Nationalpartei (Alt- tſchechen) hielt geſtern eine zahlreich beſuchte Sitzung ab. Zunächſt wurde die Zuſchrift des tſchechiſchen Nationalrates beſprochen, welche zu einer Beratung über die geplante Konzentration der Parteien einladet. Nach längerer Debatte wurde einhellig beſchloſſen, das Exekutivkomitee möge an den in Vorſchlag gebrachten Beratungen ſich beteiligen. Zu Delegierten wurden Doktor Karl Mattus und Doktor Johann Sedlak gewählt. Hierauf entſpann ſich eine Diskuſſion über den bisherigen Fortgang der parlamentariſchen Aktion bezüglich der Wahlreform. Nach längerer Beſprechung wurde einſtimmig eine Kundgebung beſchloſſen, in der es heißt: „Die Wahlreform entſpricht in der Haupt- ſache nicht den Anforderungen der Nationalpartei weil die Wahl der Abgeordneten durch die Land- tage der Königreiche und Länder umgangen wird. Aber abgeſehen davon vermiſſen wir in der Regierungsvorlage jene ſoziale Gerechtigkeit, welche unter Wahrung des Prinzips des allgemeinen Wahlrechts eine gerechte Vertretung der haupt- ſächlichſten Geſellſchaftsſchichten und der produzieren- den Volksklaſſen ſichert. Das größte Unrecht be- geht aber die vorgeſchlagene Wahl- reform an unſerem Volke damit, daß in den Ländern der böhmiſchen Krone auf einen Abgeordneten der anderen Nationalität durchſchnittlich um zehn- tauſend weniger Wähler entfallen als auf einen tſchechiſchen Abgeordneten. Weiters wurde die Debatte über den neueſten Verſuch einer tſchechiſch- magyariſchen Verſtändigung eröffnet. Es ge- langte mehrſeits die Meinung zum Ausdruck, daß dieſe Angelegenheit ohne gehörige Vorbereitung von einzelnen Perſönlichkeiten in die Oeffentlichkeit ge- langte, daß dieſelbe keinen ernſten Hintergrund beſitze. Zum Schluſſe wurde der Bericht über die weitere Organiſation der Partei erſtattet. Die Sozialdemokraten in Zürich. [Von unſerem Schweizer Korreſpondenten.] Die jetzige Arbeiterbewegung, wie ſie von den Sozialdemokraten proklamiert und geleitet wird, ſtellt ſich bereits als eine Erſcheinung dar, die unſere Staatsmänner und die herrſchende liberale Partei mit Grauen zu erfüllen beginnt. Während des abgelaufenen langen Sommers war beſonders die Stadt Zürich der Tummelplatz ſozialiſtiſcher Umtriebe. Mit einem unaufhörlich zäh geführten Maurerſtreik begonnen, ergriffen die Arbeitseinſtellungen nach und nach alle Berufs- arten und wenn die Tramangeſtellten eingewilligt hätten, wäre es mitten in der Hochſaiſon zum Generalſtreik gekommen. Die Unruhen nahmen aber dennoch eine ſo bedrohliche Geſtalt an, daß die Regierung zu Militäraufgeboten genötigt war und man kann ſagen, daß die Ruhe nur durch die bewaffnete Macht wieder hergeſtellt wurde. Unter den Angeklagten blieben zwei Sozialiſten hängen, ein Schweizer, der ein antimilitariſtiſches Flugblatt erfaßt und ver- breitete und der Redakteur des führenden ſozial- demokratiſchen Blattes „Volksrecht“ in Zürich, welcher, ein Deutſcher von Geburt (ein ſchriften- loſer Refraktär), wegen Aufhetzung der Maſſen aus- gewieſen wurde. Wie viel Schaden dem Staat und dem Einzelnen aus dieſen Wirren erwuchſen, iſt kaum zu berechnen. Und nun iſt der agreſſive Kampf der Sozialdemokraten auch nur für einmal niedergeſchlagen, hinter den Türen und auf den Arbeitsplätzen dauert er fort, und früher oder ſpäter wird man noch viel Schlimmeres zu erleben haben. Nach kaum einem Dezennium wird Zürich ſozialiſtiſch ſein. Soweit iſt es gekommen in einer Stadt, wo ſeit Zwinglis Zeiten man auf liberale Grundſätze pochte, daß eine liberale Regierung das eid- genöſſiſche Heer um Schutz anrufen muß gegen ſeine eigenen Söhne. Wer die Augen offen hat, dem ſcheint die Entwicklung ganz natürlich. Seit lange haben die Liberalen die Sozialdemokraten gehätſchelt und ſie für politiſche Spekulationen benützt (à la bloc in Frankreich), daneben im Kampf gegen Rom und jeder poſitiven Bekenntnis ſo viel getan als nur immer möglich. Von den Kathedern der Hochſchule und den Kanzeln proteſtantiſch reformeriſcher Geiſtlichen wurde das ſozialiſtiſche Programm ver- kündet. Hatte ehedem die Arbeiterbewegung ſich mit rauher Stimme gegen den ſelbſtſüchtigen Kapitalismus, die rückſichtsloſe materialiſtiſche und egoiſtiſche Ausbeutung der Arbeitskräfte und die Verkennung des Rechts der Perſönlichkeit erhoben, wobei ſie viel Gutes geſchaffen hatte, iſt ſie heute in ein Stadium geraten, in welchem nichts mehr gilt als der erbittertſte Klaſſenkampf, der die Geſell- ſchaft zur Hölle, die Kulturen zu Brandſtätten umwandelt. — Eine Umkehr täte dringend not. Aber wäre ſie noch möglich? Iſt das Unheil nicht ſchon zu weit fortgeſchritten? An der Möglichkeit iſt nicht zu verzweifeln, aber am guten Willen. Der verblendete Liberalismus glaubt, die Sozial- demokratie mit brutalem Kampf niederzuwerfen und vermehrt dadurch ihre Reihen. Daß das wirkliche Glück des Menſchen und ſeine Befrie- digung in der chriſtlichen Religion, in einem Familienleben begründet iſt, daß dieſes Glück die Vorausſetzung der Gerechtigkeit, Ehrlichkeit, Sparſamkeit und Treue hat, wird weder der Liberalismus noch die Sozialdemokratie je anerkennen wollen. Die Entwicklung der Dinge hat eine be- ſonders ſcharfe Wendung genommen, ſeit die Arbeitgeber auf die Streike mit der Aus- ſperrung antworten. Sie iſt eine zwei- ſchneidige Waffe und vergiftet den Krieg noch mehr. Von Frieden, man mag ſtaatlicherſeits mit Einigungsämtern und Schiedsgerichten zu ſchlichten ſuchen, kann bei den jetzigen Verhältniſſen gar keine Rede ſein. Hüben und drüben wird ſchwer, ſehr ſchwer gefehlt. Irland und die Liberale. Seit Gladſtones Tagen gehörte die Re- form der iriſchen Verwaltung zum unerſchütter- lichen Beſtand des Programms der engliſchen Liberalen. Aber der Plan einer Selbſtverwaltung, der «Home rule» ſcheiterte an dem erbitterten Widerſtand der engliſchen Wählerſchaft. Als die konſervative Partei am Ruder war, befaßte ſich eines ihrer Mitglieder, Lord Dunraven, mit der Ausarbeitung eines ähnlichen Entwurfes, der aber nicht den Namen «Home rule», ſondern den der «Devolution for Ireland», des „Heimfalls an Irland“, in Anſpruch nahm. Der Konſervatis- mus kam nicht mehr dazu, dieſe Anſchauung für offiziell zu erklären. Die zur Herr- ſchaft gelangten Liberalen dagegen griffen den guten Gedanken auf und nach einigem Zögern verkündete der iriſche Unterſtaatsſekretär Sir Anthony Mc Donnell bei einem Feſteſſen, daß „nach ſeinem feſten Glauben das kommende Jahr 1907 die Verwirklichung von vielen Hoff- nungen bringen werde, die die beſten Iren ſeit Jahren gehegt hätten. Es möchte vielleicht noch nicht alles ſein, was die Iren erwartet hätten, aber es werde ſicherlich die Quelle, aus der ſich die Erfüllung aller Hoffnungen entwickeln würde.“ Die Grenzen dieſer „Devolution“ ſind noch nicht abgeſteckt, aber da Unterſtaatsſekretär Mc Donnell — ein katholiſcher Ire — bei ſeinen Landsleuten hohes Anſehen genießt, darf man gewärtigen, daß er alles zur reichlichen Befriedigung ſeiner Landsleute aufbieten werde. Tagesbericht. Wien, 17. September. * Kalender für Monntag den 18. September. Katholiken: Thomas, Rich. — Griechen (5. Sep- tember): Zacharias. — Sonnenaufgang 5 Uhr 41 Min. morgens. — Sonnenuntergang 6 Uhr 07 Minuten abends. — Mondesaufgang 5 Uhr 12 Minuten morgens. — Mondesuntergang 6 Uhr 26 Minuten abends. * Auszeichnungen und Ernennungen. Der Kaiſer hat dem Berghauptmanne in Krakau Heinrich Wachtel aus Anlaß der Verſetzung in den Ruhe- ſtand das Ritterkreuz des Leopold-Ordens, dem Ge- neralkonſul Joſef von Hurter-Amann anläßlich der Verſetzung in den Ruheſtand das Komturkreuz des Franz Joſef-Ordens verliehen, den Oberbergrat Dr. Edmund Riel zum Berghauptmanne für Krakau ernannt und ihm den Titel eines Hofrates ver- liehen. — Der Miniſter für Kultus und Unterricht hat dem Profeſſor am Staatsgymnaſium in Wiener- Neuſtadt Dr. Johann Czerny eine Lehrſtelle an der erſten Staatsrealſchule im 2. Wiener Gemeinde- bezirke und dem wirklichen Lehrer am Staats- gymnaſium in Radautz Dr. Franz Sobalik eine Lehrſtelle am Staatsgymnaſium in Wiener-Nen- ſtadt verliehen, ferner den Supplenten am Staats- gymnaſium in Saaz Friedrich Süßner zum wirk- lichen Lehrer am Staatsgymnaſium in Radautz er- nannt, dem Profeſſor am Staatsgymnaſium in Brüx Dr. Anton Jettmar eine Lehrſtelle am Sofien- Gymnaſium in Wien verliehen, ferner den provi- ſoriſchen Lehrer an der Staatsrealſchule mit deutſcher Unterrichtsſprache in Pilſen Robert Mayer zum wirklichen Lehrer am Staatsgymnaſium in Brüx und den Supplenten an der griechiſch-orientaliſchen Realſchule in Czernowitz Joſef Lipburger zum proviſoriſchen Lehrer an der Staatsrealſchule mit deutſcher Unterrichtsſprache in Pilſen, den Supplenten am fünften Staatsgymnaſium in Sokal, den provi- ſoriſchen Lehrer am Sofien-Gymnaſium in Wien Dr. Auguſt Ritter von Kleemann zum proviſori- ſchen Lehrer am Akademiſchen Gymnaſium daſelbſt ernannt. — Der Statthalter im Erzherzogtume Oeſterreich unter der Enns hat im Stande der Be- amten der Wiener k. k. Krankenanſtalten den Offizial Franz Packes zum Verwaltungsadjunkten, die Kanzliſten Alfred Walter und Ludwig Ehn zu Offizialen, den Amtspraktikanten Joſef Hofmeiſter und den Oberleutnant d. R. Wenzel Hetz zu Kanz- liſten ernannt. * Majeſtäten auf Reiſen. Man depeſchiert aus Biarritz: Der König von Spanien kam mittels Automobils am Sonntag hier an und ſtattete dem Grafen Val de la Grana einen Beſuch ab. Mittags kehrte der König nach San Sebaſtian zurück. — Aus Paris meldet eine Depeſche: Der König der Hellenen iſt aus Aix-les-Bains hier eingetroffen. Der König wird nach zweitägigem Aufenthalte die Reiſe nach Kopenhagen fortſetzen. * Neuerliche Erdſtöße in Südamerika. Ein Telegramm meldet aus Buenos-Aires vom Sonntag: Das Blatt „Nacion“ meldet aus Falca: Hier wurden vorgeſtern und geſtern neuerliche Erd- ſtöße verſpürt. Der geſtrige Erdſtoß ſetzte die Be- völkerung derart in Schrecken, daß ſie die Nacht in den Straßen verbrachte. * Der neue Aſſiſtent der deutſchen Jeſuiten- provinz. Man meldet uns aus Rom: In einer fünfſtündigen Generalkongregation wurden die fünf Aſſiſtenten für den Jeſuitenorden ernannt. Für die Aſſiſtenz Italien wurde P. Freddi, für Frankreich P. Fine wiederum beſtätigt. Neugewählt wurden für die Aſſiſtenz Deutſchland an Stelle des P. Meſchler der bisherige Provinzial von Galizien P. Graf Ledochowski, ein Neſſe des verſtorbenen Kardinals Ledochowski; ferner für Spanien P. Abad, bis vor kurzem Rektor in Ouna; für England P. Hayes, bisher Rektor in Liverpool. * Die Freie Schule gegen die ſtaatlichen Schulgeſetze. Das Blatt Dr. Kornkes, das ſich mit Eifer dem Amte eines Plakatenträgers des jüdiſchen Logentums unterzieht, meldet von der Wiener Schulanſtalt der Freien Schule: „Die Religion wird den Kindern von einem von den kirchlichen Oberbehörden nicht dazu berech- tigt erklärten weltlichen Lehrer gelehrt. Der Verein lehntees bisherab, für ſeine Lehrer, die Religion lehren, die Genehmigung der kirchlichen Oberbehörden einzuholen. Eine beſondere Behandlung in bezug auf Religion wird von nun an den Kindern konfeſſionsloſer Eltern zuteil werden. Dieſe Kinder, die nicht an den katholiſchen Religions- ſtunden teilnehmen, werden von nun an nach franzöſiſchem Muſter in der Moral- lehre unterrichtet werden. Dieſe Einführung hält die Leitung der „Freien Schule“ für notwendig, weil der Anſtalt wegen dieſer Kinder eventuell noch Schwierigkeiten bereitet werden könnten.“ Wenn der Herr Unterrichtsminiſter Marchet etwa glauben ſollte, es paſſieren laſſen zu können, daß die „Freie Schule“ ſich gegen die Geſetze ſtemmt, dann wird er ſich irren. * Alfred Graf Hompeſch. Der um ſeine Partei hochverdiente Vorſitzende der Zentrumsfraktion des deutſchen Reichstages, Kammerherr und preußiſches Herrenhausmitglied Alfred Graf von Hompeſch-Rurich, beging Sonntag auf Schloß Rurich ſeinen achtzigſten Geburtstag. Er iſt, wie die „Germania“ ſchreibt, der einzige unter den noch aktiven Mitgliedern des Reichstages, der ſchon der Eröffnung des konſtituierenden Reichstages des Norddeutſchen Bundes am 24. Februar 1867 bei- gewohnt hat, als Vertreter des rheiniſchen Wahl- kreiſes Erkelenz-Heinsberg-Geilenkirchen. Und auch damals war er kein parlamentariſcher Neuling. Im preußiſchen Herrenhaus ſitzt er auf Präſentation des Grafenverbandes der Rheinprovinz ſelt 23. November 1863 und ſteht ſohin ſeinem 50jährigen Parlamen-

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Zitationshilfe: Reichspost. Nr. 212, Wien, 18.09.1906, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_reichspost212_1906/3>, abgerufen am 21.11.2024.