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Reichspost. Nr. 227, Wien, 05.10.1906.

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Wien, Freitag Reichspost 5. Oktober 1906 227

[Spaltenumbruch]

Hohenblum in seinem Referate über den Aus-
gleich aus, daß gegenwärtig eigentlich kein Ver-
tragsverhältnis zu Ungarn mehr existiere und
Ungarn für Oesterreich in wirtschaftlicher Beziehung
zum Auslande geworden sei. Nach längerer De-
batte wurde eine Resolution angenommen, in
welcher der ständige Ausschuß der Zentralstelle
erklärt, daß das wirtschaftliche Verhältnis zu
Ungarn nur durch den Absch[lu]ß eines Handels-
vertrages mit Zugrundelegung der
strengsten Reziprozität
geregelt werden
dürfe. Auch müsse eine dem wirklichen Im-
porte der beiden Reichshälften entsprechende
Aufteilung der Zolleinnahmen und die
Zweiteilung der Oesterreichisch-unga-
rischen Bank
gefordert werden. Der Ausschuß
erklärt die Forderung Ungarns nach Aufnahme
der Barzahlungen im gegenwärtigen Moment als
eine große Gefahr für die Gesamtmonarchie.
Schließlich müsse in den neuen Vereinbarungen der
heimische Viehbestand in veterinärer Beziehung
geschützt werden. Ferner sei das Verbot des
Blankoterminhandels in Getreide und Mahl-
produkten auch in Ungarn festzusetzen. Während
der Dauer des Handelsvertrages dürfe der Mahl-
verkehr in keiner der beiden Reichshälften wieder
eingeführt werden. Dann seien tarifarische Ver-
einbarungen zu treffen, damit die ungarischen
Massenprodukte gegenüber den heimischen Sendungen
auf österreichischen Bahnen nicht begünstigt er-
scheinen.




X. Parteitag der Christlich-Sozialen in
Deutschland.

In Weimar gehen soeben die Beratungen
des X. Parteitages der "Christlich-sozialen Partei
Deutschlands" vor sich. Ueber die als "vertrau-
lich" bezeichneten Verhandlungen liegt nur ein
ganz allgemeines Preßcommunique vor, dem einige
interessante Bemerkungen zu entnehmen sind. In
der Debatte wurde hervorgehoben, daß auf
Arbeiterkandidaturen besonderer Wert zu legen
und daß die Durchführung des allgemeinen, gleichen,
direkten und geheimen Proportionalwahl-
rechtes
Programmpunkt sei. Auf dem Gebiete
der Schulen ist die konfessionelle Schule,
die Unentgeltlichkeit der Lehrmittel, obligatorischer
schulgeldfreier Fortbildungsunterricht an Wochen-
tagen mit konfessionellem Religions-
unterricht
zu erstreben; in steuerpolitischer
Hinsicht
gehen die Forderungen auf kom-
munalen Zuschlag
zur Umsatzsteuer der
Warenhäuser und deren Filialen, auf
allgemeine Einführung der Umsatzsteuer nach
dem gemeinen Wert, Wertzuwachssteuer; für die
städtischen Arbeiter ist zu erstreben
freies Koalitionsrecht für städtische
Arbeiter, städtische Arbeiterausschüsse; ferner Ver-
stadtlichung aller Betriebe
der
Straßenbahnen, Elektrizität, Gas, Wasser, des
Abfuhrwesens, des Anschlagwesens, Errichtung
städtischer Apotheken. In seiner Rede zu diesen
programmatischen Fragen erzählte u. a. Partei-
sekretär Rüffer aus seinen Erfahrungen in der
Agitation:

Unendlich viele der sogenannten "Genossen",
die bei Wahlen "unentwegt" rot wählen, haben
keine Ahnung von dem Programm der
Sozialdemokratie
und dem wahren Wesen
der Umsturzpartei. Durch eine energische Aufklärungs-
arbeit im Kleinen lassen sich viele wieder zurück-
gewinnen. Dem Parteisekretär ist es nach einem Vor-
trage einmal passiert, daß ein Sozialdemokrat auf-
stand und sagte: "Genossen! Unserer roten
Fahne bleiben wir treu;
aber auf unseren
Kaiser Wilhelm lassen wir nichts
kommen!

Der Parteipräsident Dr. Stöcker pro-
testierte schließlich gegen eine in Mannheim aus-
gesprochene Behauptung, die christlichen Gewerk-
schaften befänden sich auf dem Wege zur Sozial-
demokratie. Auch der Generalsekretär des Gewerk-
vereins christlicher Bergarbeiter, Behrens, er-
klärte gegenüber jener Mannheimer Auslassung,
die christliche Arbeiterschaft werde
treu zu Kaiser und Reich stehen und
von diesem Boden aus eine Besserung ihrer Lage
mit Nachdruck erkämpfen.




Holland in Not

(Von unserem Korrespondenten in
Antwerpen.)

Die Thronrede, mit der kürzlich die General-
staaten eröffnet wurden, hat durch die Fülle der
in ihr enthüllten Zukunftspläne der Regierung
alle Parteien stutzig gemacht. Denn es ist kein
Zeichen der Staatsweisheit, doppelt so viel zu
versprechen, als auch das fleißigste Parlament zu
[Spaltenumbruch] leisten imstande ist. So weiß man denn, daß
zumindest die Hälfte der Regierungspläne aus
dem Programme gestrichen werden muß und man
fragt sich nur, welche erledigt, welche übergangen
werden sollen. Dazu kommt die ernste Schwierigkeit,
welche die Bewältigung des 8 Millionen-Defizits
dem Staate bereitet, denn den Ausgaben von
186 Millionen stehen Einnahmen von nur
177·75 Millionen gegenüber. Außerdem machte der
Finanzminister bekannt, daß für die angekün-
digten sozialen Reformen nicht weniger als
22,530.000 holländische Gulden notwendig seien.
So wird die Krankenversicherung 1,100.000 Gulden,
die Altersversicherung 6,400.000 erfordern und
und die Ausdehnung des Unfallsgesetzes auf den
Landbau, die Fischerei und die Schiffahrt mit
400.000 Gulden veranschlagt. Unter den Mitteln,
die der Minister zur Erleichterung der Taschen der
Steuerträger erfand, wird besonders die Steuer
auf Schnaps und Tabak der Regierung großen
Widerstand schaffen. Wurden bis jetzt per Hekto-
liter Schnaps 63 Gulden bezahlt, so will der
Minister diese Steuer gar auf 90 Gulden erhöhen.
Dem vorigen Ministerium mißlang hier eine
Erhöhung von 7 Gulden und jetzt fordert man
eine solche um 27 Gulden. Das muß natürlich
den "ouden Genever" viel teurer machen, und die
Holländer trinken doch regelmäßig jeden Morgen
ihr Gläschen. Dazu kommt die Steuer auf Zigarren
und Tabak. So allgemein ist hier das Rauchen,
daß man sogar Kinder von 11--12 Jahren un-
geniert mit ihrer Zigarre im Munde spazieren
gehen sieht. Sogar in Erziehungsanstalten ist das
Rauchen nach der ersten heiligen Kommunion
erlaubt; so daß die Wendung üblich ist, die
Holländer kämen mit der Zigarre im Munde zur
Welt. Zigarre und Tabak waren bis jetzt steuer-
frei, daher um billiges Geld gute Ware. Nun
will der Finanzminister eine Steuer auf Tabak
und Zigarren legen, die dem Lande zwei Millionen
einbringt. Ob das Volk diese Gesetze mit Freude
begrüßen wird! Ministerpräsident Kuyper ist
hauptsächlich durch das von ihm eingeführte Getränke-
gesetz gefallen: seine Hauptfeinde waren die Wirte.
Wie will nun Ministerpräsident De Meester diesem
Zorn entgehen, wenn er den allgemein beliebten
"Genever" so schwer besteuert? Man darf auf
Ueberraschungen vorbereitet sein, umsomehr, als
die sieben Sozialdemokraten, durch welche die
Liberalen die Mehrheit haben, doch das Volk
nicht gegen sich einnehmen können, indem sie eine
so hohe Steuer auf den Schnaps genehmigen.

Kostspielig und schwere Opfer heischend ist
auch der Feldzug Hollands gegen zwei auf-
rührerische Fürsten der Insel Bali, über die noch
kein entschiedener Sieg davongetragen wurde. Am
19. September besetzten die niederländischen
Truppen die "Poeri Kesiman" und eroberten dort
10 Kanonen, 67 Gewehre, viel Munition und
Waffen. Am darauffolgenden Tage wurde
Denpasar, wo der Fürst mit seinem
Gefolge sich aufhielt, eingenommen. Der
Feind verteidigte sich tapfer, sodaß auf holländischer
Seite vier Soldaten getötet und zehn andere ver-
wundet wurden. Der Feind ließ 400 Tote auf
dem Schlachtfelde. Der Fürst selbst mit seinem
Frauen und der ganzen Familie war unter den
Getöteten. Er hatte nach Sitte der Eingeborenen,
als er gesehen, daß kein Widerstand mehr möglich
sei, mit allen seinen Angehörigen die Stadt ver-
lassen und sich den Kugeln des Feindes ausgesetzt.
Die meisten der Angehörigen des Fürsten hatten
sich selbst den Tod gegeben und desgleichen die
Frauen, die mit Diamanten und Perlen geschmückt
den Fürsten begleitet hatten. Am 23. wurde
Bodveny gestürmt und auch hier hatte der Radja
Pametjoetan mit seinen Frauen den Tod gesucht,
200 seiner Leute kamen um. Aber die Expedition
ist noch nicht beendet, da noch zahlreiche Trupps
von Untertanen des getöteten Fürsten entschiedenen
Widerstand leisten.




Tagesbericht.


* Kalender für Freitag den 5. Oktober.

Katholiken: Laur. Justin. -- Griechen (22. Sep-
tember): Phok. M. -- Sonnenaufgang 6 Uhr 05 Minuten
morgens. -- Sonnenuntergang 5 Uhr 32 Minuten
abends. -- Mondesaufgang 7 Uhr 20 Minuten
abends. -- Mondesuntergang 8 Uhr 43 Minuten
vormittags.

* Auszeichnungen und Ernennungen.

Der
Kaiser hat die von dem außerordentlichen Ge-
sandten
und bevollmächtigten Minister Julius
Zwiedinek von Südenhorst erbetene Ueber-
nahme in den Ruhestand genehmigt und demselben
[Spaltenumbruch] bei diesem Anlasse das Großkreuz des
Leopold-Ordens
verliehen, den Privatdozenten
an der deutschen Universität in Prag Dr. Josef
Langer zum außerordentlichen Professor der
Kinderheilkunde in Graz ernannt, ferner dem
Laboranten der Geologischen Re[i]chsanstalt Franz
Kalunder das Silberne Verdienstkreuz mit der
Krone, dem Förster Julius Kubelka in Kotzman
das Silberne Verdienstkreuz mit der Krone ver-
liehen. Der Finanzminister hat den Offizial beim
Tabakeinlösungsamte in Metkovic Nikolaus
Pavisic zum Kontrollor des Tabakeinlösungs-
amtes in Vergoraz und den Offizial beim Tabak-
einlösungsamte in Gravosa Julius Spraitz zum
Kontrollor des Tabakeinlösungsamtes in Imoski er-
nannt. Der Justizminister hat den Staatsanwalt-
substituten Dr. Franz Huber in Wien zum Staats-
anwalte in Wels ernannt, den Staatsanwalt-
substituten Dr. Georg Schwarz in Korneuburg
nach Wien versetzt und den Gerichtsadjunkten Robert
von Soos in St. Pölten zum Staatsanwalt-
substituten in Korneuburg ernannt. Der Minister
für Kultus und Unterricht hat den Bauadjunkten des
Staatsbaudienites, Ingenieur Franz Wiedorn in
Bozen zum Lehrer in der IX. Rangsklasse
an der Staatsgewerbeschule in Czernowitz ernannt.
Der Eisenbahnminister hat die Ingenieure Arthur
Leeder, Josef Bocek, Max Fischl, Zdislav
Gubrynowicz und Robert Hartinger zu
Oberingenieuren im Eisenbahnministerium ernannt.
Der Eisenbahnminister hat den Baukommissär der
österreichischen Staatsbahnen Rudolf Lessel zum
Oberingenieur im Eisenbahnministerium, den Bau-
Oberkommissär der österreichischen Staatsbahnen
Berthold Tittinger und den Maschinen-Ober-
kommissär der österreichischen Staatsbahnen Karl
Juranek zu Oberkommissären der General-
Inspektion der österreichischen Eisenbahnen, den Bau-
kommissär der österreichischen Staatsbahnen Josef
Hula zum Oberkommissär der General-Inspektion
der österreichischen Eisenbahnen ernannt. -- Der
Ackerbauminister hat den Forsteleven Alfred Lin-
hart
zum Forst-Inspektions-Kommissär II. Klasse
ernannt.

* Erzherzogin Marie Valerie

ist Mittwoch
abends aus Wallsee in der Station Penzing ein-
getroffen und von der Station aus in das kaiserliche
Schloß Schönbrunn gefahren.

* Aus dem Landwehr-Verordnungsblatte.

Der Kaiser hat verlieben den Orden der Eisernen
Krone III. Klasse dem Obersten Ernst von
Schneller, Landwehr-Platzkommandanten in Wien,
das Offizierskreuz des Franz Josef-Ordens dem
Obersten Ferdinand Fidler von Isarborn,
Kommandanten des Landwehr-Infanterie-Regiments
Eger Nr. 6; den Orden der Eisernen Krone
III. Klasse den Obersten Johann Lavric, Kom-
mandanten des Landwehr-Infanterie-Regiments
Czernowitz Nr. 22, und Karl Schudawa, Kom-
mandanten des Landwehr-Ulanen-Regiments Nr. 6;
der Kaiser hat angeordnet: die Uebersetzung vom
Aktivstande des Heeres in den Aktivstand der Land-
wehr des Hauptmannes I. Klasse, Ludwig Rigger,
des Infanterie-Regiments Nr. 77; der Hauptleute
II. Klasse, Rudolf Golla, des Feldjäger-Bataillons
Nr. 30, und Rudolf von Kurz zum Thurn, des
Armeestandes.

* König Viktor Emanuel in Lebensgefahr.

Der "Daily Telegraph" meldet aus Mailand:
König Viktor Emanuel schwebte vor einigen Tagen
in eigener Lebensgefahr. Er wohnte im königlichen
Palaste Racconigi und ließ sich einen Kinemato-
graphen vorführen. Nach der Vorstellung rief er
den Eigentümer zu sich, gab ihm die Hand, unter-
hielt sich in der leutseligsten Weise mit ihm und
verabschiedete sich dann sehr freundlich. Später ent-
deckte die Polizei, daß der Veranstalter der Kine-
matographen-Vorstellung ein notorischer An-
arch ist
namens Dutto ist. Er wurde schleunigst ge-
sucht und verhaftet.

* Die christlichen Handelshilfs- und
Speditionsarbeiter.

Am nächsten Sonntag, um
1/210 Uhr vormittags, wird in Franz Schödls Saal,
Mariahilserstraße 56, eine große Versammlung statt-
finden, in der Beratungen über die kommenden
Wahlen der Handelshilfs- und Speditionsarbeiter
gepflogen werden. Als Referenten fungieren: Ge-
meinderat Leopold Kunschak, Gemeinderat
Heinrich Fraß, Redakteur Franz Spalovsky
und Leopold Heinisch.

* Josefine Gallmayer.

In stiller Weise er-
folgte am Mittwoch nachmittag um 5 Uhr die Bei-
setzung der sterblichen Ueberreste Josefine Gallmayer,
die auf dem Matzleinsdorfer evangelischen Friedhof
exhumiert worden waren, in dem von der Kommune
Wien bewilligten Ehrengrabe. Die solenne Feier
bleibt dem Tage der Enthüllung des Denkmales
vorbehalten. Der heutigen Uebertragung der Gebeine
wohnte in Vertretung der Gemeinde Wien
Magistratsrat Hulla bei.

* Selbstmord im Rathauspark.

Am Mitt-
woch vormittags wurde an einem Baume im Rat-
hauspark ein alter Mann erhängt aufgefunden. Die
Leiche wurde als die des 78jährigen provisorischen
Kanzleidieners der Staatseisenbahn-Gesellschaft
Wenzel Treibisch agnosziert. Schmerz über den vor
zwei Wochen erfolgten Tod seiner Gattin Barbara,
hat den Greis in den Tod getrieben.


Wien, Freitag Reichspoſt 5. Oktober 1906 227

[Spaltenumbruch]

Hohenblum in ſeinem Referate über den Aus-
gleich aus, daß gegenwärtig eigentlich kein Ver-
tragsverhältnis zu Ungarn mehr exiſtiere und
Ungarn für Oeſterreich in wirtſchaftlicher Beziehung
zum Auslande geworden ſei. Nach längerer De-
batte wurde eine Reſolution angenommen, in
welcher der ſtändige Ausſchuß der Zentralſtelle
erklärt, daß das wirtſchaftliche Verhältnis zu
Ungarn nur durch den Abſch[lu]ß eines Handels-
vertrages mit Zugrundelegung der
ſtrengſten Reziprozität
geregelt werden
dürfe. Auch müſſe eine dem wirklichen Im-
porte der beiden Reichshälften entſprechende
Aufteilung der Zolleinnahmen und die
Zweiteilung der Oeſterreichiſch-unga-
riſchen Bank
gefordert werden. Der Ausſchuß
erklärt die Forderung Ungarns nach Aufnahme
der Barzahlungen im gegenwärtigen Moment als
eine große Gefahr für die Geſamtmonarchie.
Schließlich müſſe in den neuen Vereinbarungen der
heimiſche Viehbeſtand in veterinärer Beziehung
geſchützt werden. Ferner ſei das Verbot des
Blankoterminhandels in Getreide und Mahl-
produkten auch in Ungarn feſtzuſetzen. Während
der Dauer des Handelsvertrages dürfe der Mahl-
verkehr in keiner der beiden Reichshälften wieder
eingeführt werden. Dann ſeien tarifariſche Ver-
einbarungen zu treffen, damit die ungariſchen
Maſſenprodukte gegenüber den heimiſchen Sendungen
auf öſterreichiſchen Bahnen nicht begünſtigt er-
ſcheinen.




X. Parteitag der Chriſtlich-Sozialen in
Deutſchland.

In Weimar gehen ſoeben die Beratungen
des X. Parteitages der „Chriſtlich-ſozialen Partei
Deutſchlands“ vor ſich. Ueber die als „vertrau-
lich“ bezeichneten Verhandlungen liegt nur ein
ganz allgemeines Preßcommuniqué vor, dem einige
intereſſante Bemerkungen zu entnehmen ſind. In
der Debatte wurde hervorgehoben, daß auf
Arbeiterkandidaturen beſonderer Wert zu legen
und daß die Durchführung des allgemeinen, gleichen,
direkten und geheimen Proportionalwahl-
rechtes
Programmpunkt ſei. Auf dem Gebiete
der Schulen iſt die konfeſſionelle Schule,
die Unentgeltlichkeit der Lehrmittel, obligatoriſcher
ſchulgeldfreier Fortbildungsunterricht an Wochen-
tagen mit konfeſſionellem Religions-
unterricht
zu erſtreben; in ſteuerpolitiſcher
Hinſicht
gehen die Forderungen auf kom-
munalen Zuſchlag
zur Umſatzſteuer der
Warenhäuſer und deren Filialen, auf
allgemeine Einführung der Umſatzſteuer nach
dem gemeinen Wert, Wertzuwachsſteuer; für die
ſtädtiſchen Arbeiter iſt zu erſtreben
freies Koalitionsrecht für ſtädtiſche
Arbeiter, ſtädtiſche Arbeiterausſchüſſe; ferner Ver-
ſtadtlichung aller Betriebe
der
Straßenbahnen, Elektrizität, Gas, Waſſer, des
Abfuhrweſens, des Anſchlagweſens, Errichtung
ſtädtiſcher Apotheken. In ſeiner Rede zu dieſen
programmatiſchen Fragen erzählte u. a. Partei-
ſekretär Rüffer aus ſeinen Erfahrungen in der
Agitation:

Unendlich viele der ſogenannten „Genoſſen“,
die bei Wahlen „unentwegt“ rot wählen, haben
keine Ahnung von dem Programm der
Sozialdemokratie
und dem wahren Weſen
der Umſturzpartei. Durch eine energiſche Aufklärungs-
arbeit im Kleinen laſſen ſich viele wieder zurück-
gewinnen. Dem Parteiſekretär iſt es nach einem Vor-
trage einmal paſſiert, daß ein Sozialdemokrat auf-
ſtand und ſagte: „Genoſſen! Unſerer roten
Fahne bleiben wir treu;
aber auf unſeren
Kaiſer Wilhelm laſſen wir nichts
kommen!

Der Parteipräſident Dr. Stöcker pro-
teſtierte ſchließlich gegen eine in Mannheim aus-
geſprochene Behauptung, die chriſtlichen Gewerk-
ſchaften befänden ſich auf dem Wege zur Sozial-
demokratie. Auch der Generalſekretär des Gewerk-
vereins chriſtlicher Bergarbeiter, Behrens, er-
klärte gegenüber jener Mannheimer Auslaſſung,
die chriſtliche Arbeiterſchaft werde
treu zu Kaiſer und Reich ſtehen und
von dieſem Boden aus eine Beſſerung ihrer Lage
mit Nachdruck erkämpfen.




Holland in Not

(Von unſerem Korreſpondenten in
Antwerpen.)

Die Thronrede, mit der kürzlich die General-
ſtaaten eröffnet wurden, hat durch die Fülle der
in ihr enthüllten Zukunftspläne der Regierung
alle Parteien ſtutzig gemacht. Denn es iſt kein
Zeichen der Staatsweisheit, doppelt ſo viel zu
verſprechen, als auch das fleißigſte Parlament zu
[Spaltenumbruch] leiſten imſtande iſt. So weiß man denn, daß
zumindeſt die Hälfte der Regierungspläne aus
dem Programme geſtrichen werden muß und man
fragt ſich nur, welche erledigt, welche übergangen
werden ſollen. Dazu kommt die ernſte Schwierigkeit,
welche die Bewältigung des 8 Millionen-Defizits
dem Staate bereitet, denn den Ausgaben von
186 Millionen ſtehen Einnahmen von nur
177·75 Millionen gegenüber. Außerdem machte der
Finanzminiſter bekannt, daß für die angekün-
digten ſozialen Reformen nicht weniger als
22,530.000 holländiſche Gulden notwendig ſeien.
So wird die Krankenverſicherung 1,100.000 Gulden,
die Altersverſicherung 6,400.000 erfordern und
und die Ausdehnung des Unfallsgeſetzes auf den
Landbau, die Fiſcherei und die Schiffahrt mit
400.000 Gulden veranſchlagt. Unter den Mitteln,
die der Miniſter zur Erleichterung der Taſchen der
Steuerträger erfand, wird beſonders die Steuer
auf Schnaps und Tabak der Regierung großen
Widerſtand ſchaffen. Wurden bis jetzt per Hekto-
liter Schnaps 63 Gulden bezahlt, ſo will der
Miniſter dieſe Steuer gar auf 90 Gulden erhöhen.
Dem vorigen Miniſterium mißlang hier eine
Erhöhung von 7 Gulden und jetzt fordert man
eine ſolche um 27 Gulden. Das muß natürlich
den „ouden Genever“ viel teurer machen, und die
Holländer trinken doch regelmäßig jeden Morgen
ihr Gläschen. Dazu kommt die Steuer auf Zigarren
und Tabak. So allgemein iſt hier das Rauchen,
daß man ſogar Kinder von 11—12 Jahren un-
geniert mit ihrer Zigarre im Munde ſpazieren
gehen ſieht. Sogar in Erziehungsanſtalten iſt das
Rauchen nach der erſten heiligen Kommunion
erlaubt; ſo daß die Wendung üblich iſt, die
Holländer kämen mit der Zigarre im Munde zur
Welt. Zigarre und Tabak waren bis jetzt ſteuer-
frei, daher um billiges Geld gute Ware. Nun
will der Finanzminiſter eine Steuer auf Tabak
und Zigarren legen, die dem Lande zwei Millionen
einbringt. Ob das Volk dieſe Geſetze mit Freude
begrüßen wird! Miniſterpräſident Kuyper iſt
hauptſächlich durch das von ihm eingeführte Getränke-
geſetz gefallen: ſeine Hauptfeinde waren die Wirte.
Wie will nun Miniſterpräſident De Meeſter dieſem
Zorn entgehen, wenn er den allgemein beliebten
„Genever“ ſo ſchwer beſteuert? Man darf auf
Ueberraſchungen vorbereitet ſein, umſomehr, als
die ſieben Sozialdemokraten, durch welche die
Liberalen die Mehrheit haben, doch das Volk
nicht gegen ſich einnehmen können, indem ſie eine
ſo hohe Steuer auf den Schnaps genehmigen.

Koſtſpielig und ſchwere Opfer heiſchend iſt
auch der Feldzug Hollands gegen zwei auf-
rühreriſche Fürſten der Inſel Bali, über die noch
kein entſchiedener Sieg davongetragen wurde. Am
19. September beſetzten die niederländiſchen
Truppen die „Poeri Keſiman“ und eroberten dort
10 Kanonen, 67 Gewehre, viel Munition und
Waffen. Am darauffolgenden Tage wurde
Denpaſar, wo der Fürſt mit ſeinem
Gefolge ſich aufhielt, eingenommen. Der
Feind verteidigte ſich tapfer, ſodaß auf holländiſcher
Seite vier Soldaten getötet und zehn andere ver-
wundet wurden. Der Feind ließ 400 Tote auf
dem Schlachtfelde. Der Fürſt ſelbſt mit ſeinem
Frauen und der ganzen Familie war unter den
Getöteten. Er hatte nach Sitte der Eingeborenen,
als er geſehen, daß kein Widerſtand mehr möglich
ſei, mit allen ſeinen Angehörigen die Stadt ver-
laſſen und ſich den Kugeln des Feindes ausgeſetzt.
Die meiſten der Angehörigen des Fürſten hatten
ſich ſelbſt den Tod gegeben und desgleichen die
Frauen, die mit Diamanten und Perlen geſchmückt
den Fürſten begleitet hatten. Am 23. wurde
Bodveny geſtürmt und auch hier hatte der Radja
Pametjoetan mit ſeinen Frauen den Tod geſucht,
200 ſeiner Leute kamen um. Aber die Expedition
iſt noch nicht beendet, da noch zahlreiche Trupps
von Untertanen des getöteten Fürſten entſchiedenen
Widerſtand leiſten.




Tagesbericht.


* Kalender für Freitag den 5. Oktober.

Katholiken: Laur. Juſtin. — Griechen (22. Sep-
tember): Phok. M. — Sonnenaufgang 6 Uhr 05 Minuten
morgens. — Sonnenuntergang 5 Uhr 32 Minuten
abends. — Mondesaufgang 7 Uhr 20 Minuten
abends. — Mondesuntergang 8 Uhr 43 Minuten
vormittags.

* Auszeichnungen und Ernennungen.

Der
Kaiſer hat die von dem außerordentlichen Ge-
ſandten
und bevollmächtigten Miniſter Julius
Zwiedinek von Südenhorſt erbetene Ueber-
nahme in den Ruheſtand genehmigt und demſelben
[Spaltenumbruch] bei dieſem Anlaſſe das Großkreuz des
Leopold-Ordens
verliehen, den Privatdozenten
an der deutſchen Univerſität in Prag Dr. Joſef
Langer zum außerordentlichen Profeſſor der
Kinderheilkunde in Graz ernannt, ferner dem
Laboranten der Geologiſchen Re[i]chsanſtalt Franz
Kalunder das Silberne Verdienſtkreuz mit der
Krone, dem Förſter Julius Kubelka in Kotzman
das Silberne Verdienſtkreuz mit der Krone ver-
liehen. Der Finanzminiſter hat den Offizial beim
Tabakeinlöſungsamte in Metkovic Nikolaus
Pavisic zum Kontrollor des Tabakeinlöſungs-
amtes in Vergoraz und den Offizial beim Tabak-
einlöſungsamte in Gravoſa Julius Spraitz zum
Kontrollor des Tabakeinlöſungsamtes in Imoski er-
nannt. Der Juſtizminiſter hat den Staatsanwalt-
ſubſtituten Dr. Franz Huber in Wien zum Staats-
anwalte in Wels ernannt, den Staatsanwalt-
ſubſtituten Dr. Georg Schwarz in Korneuburg
nach Wien verſetzt und den Gerichtsadjunkten Robert
von Soos in St. Pölten zum Staatsanwalt-
ſubſtituten in Korneuburg ernannt. Der Miniſter
für Kultus und Unterricht hat den Bauadjunkten des
Staatsbaudienites, Ingenieur Franz Wiedorn in
Bozen zum Lehrer in der IX. Rangsklaſſe
an der Staatsgewerbeſchule in Czernowitz ernannt.
Der Eiſenbahnminiſter hat die Ingenieure Arthur
Leeder, Joſef Bocek, Max Fiſchl, Zdislav
Gubrynowicz und Robert Hartinger zu
Oberingenieuren im Eiſenbahnminiſterium ernannt.
Der Eiſenbahnminiſter hat den Baukommiſſär der
öſterreichiſchen Staatsbahnen Rudolf Leſſel zum
Oberingenieur im Eiſenbahnminiſterium, den Bau-
Oberkommiſſär der öſterreichiſchen Staatsbahnen
Berthold Tittinger und den Maſchinen-Ober-
kommiſſär der öſterreichiſchen Staatsbahnen Karl
Juranek zu Oberkommiſſären der General-
Inſpektion der öſterreichiſchen Eiſenbahnen, den Bau-
kommiſſär der öſterreichiſchen Staatsbahnen Joſef
Hula zum Oberkommiſſär der General-Inſpektion
der öſterreichiſchen Eiſenbahnen ernannt. — Der
Ackerbauminiſter hat den Forſteleven Alfred Lin-
hart
zum Forſt-Inſpektions-Kommiſſär II. Klaſſe
ernannt.

* Erzherzogin Marie Valerie

iſt Mittwoch
abends aus Wallſee in der Station Penzing ein-
getroffen und von der Station aus in das kaiſerliche
Schloß Schönbrunn gefahren.

* Aus dem Landwehr-Verordnungsblatte.

Der Kaiſer hat verlieben den Orden der Eiſernen
Krone III. Klaſſe dem Oberſten Ernſt von
Schneller, Landwehr-Platzkommandanten in Wien,
das Offizierskreuz des Franz Joſef-Ordens dem
Oberſten Ferdinand Fidler von Iſarborn,
Kommandanten des Landwehr-Infanterie-Regiments
Eger Nr. 6; den Orden der Eiſernen Krone
III. Klaſſe den Oberſten Johann Lavric, Kom-
mandanten des Landwehr-Infanterie-Regiments
Czernowitz Nr. 22, und Karl Schudawa, Kom-
mandanten des Landwehr-Ulanen-Regiments Nr. 6;
der Kaiſer hat angeordnet: die Ueberſetzung vom
Aktivſtande des Heeres in den Aktivſtand der Land-
wehr des Hauptmannes I. Klaſſe, Ludwig Rigger,
des Infanterie-Regiments Nr. 77; der Hauptleute
II. Klaſſe, Rudolf Golla, des Feldjäger-Bataillons
Nr. 30, und Rudolf von Kurz zum Thurn, des
Armeeſtandes.

* König Viktor Emanuel in Lebensgefahr.

Der „Daily Telegraph“ meldet aus Mailand:
König Viktor Emanuel ſchwebte vor einigen Tagen
in eigener Lebensgefahr. Er wohnte im königlichen
Palaſte Racconigi und ließ ſich einen Kinemato-
graphen vorführen. Nach der Vorſtellung rief er
den Eigentümer zu ſich, gab ihm die Hand, unter-
hielt ſich in der leutſeligſten Weiſe mit ihm und
verabſchiedete ſich dann ſehr freundlich. Später ent-
deckte die Polizei, daß der Veranſtalter der Kine-
matographen-Vorſtellung ein notoriſcher An-
arch iſt
namens Dutto iſt. Er wurde ſchleunigſt ge-
ſucht und verhaftet.

* Die chriſtlichen Handelshilfs- und
Speditionsarbeiter.

Am nächſten Sonntag, um
½10 Uhr vormittags, wird in Franz Schödls Saal,
Mariahilſerſtraße 56, eine große Verſammlung ſtatt-
finden, in der Beratungen über die kommenden
Wahlen der Handelshilfs- und Speditionsarbeiter
gepflogen werden. Als Referenten fungieren: Ge-
meinderat Leopold Kunſchak, Gemeinderat
Heinrich Fraß, Redakteur Franz Spalovsky
und Leopold Heiniſch.

* Joſefine Gallmayer.

In ſtiller Weiſe er-
folgte am Mittwoch nachmittag um 5 Uhr die Bei-
ſetzung der ſterblichen Ueberreſte Joſefine Gallmayer,
die auf dem Matzleinsdorfer evangeliſchen Friedhof
exhumiert worden waren, in dem von der Kommune
Wien bewilligten Ehrengrabe. Die ſolenne Feier
bleibt dem Tage der Enthüllung des Denkmales
vorbehalten. Der heutigen Uebertragung der Gebeine
wohnte in Vertretung der Gemeinde Wien
Magiſtratsrat Hulla bei.

* Selbſtmord im Rathauspark.

Am Mitt-
woch vormittags wurde an einem Baume im Rat-
hauspark ein alter Mann erhängt aufgefunden. Die
Leiche wurde als die des 78jährigen proviſoriſchen
Kanzleidieners der Staatseiſenbahn-Geſellſchaft
Wenzel Treibiſch agnosziert. Schmerz über den vor
zwei Wochen erfolgten Tod ſeiner Gattin Barbara,
hat den Greis in den Tod getrieben.


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[2/0002] Wien, Freitag Reichspoſt 5. Oktober 1906 227 Hohenblum in ſeinem Referate über den Aus- gleich aus, daß gegenwärtig eigentlich kein Ver- tragsverhältnis zu Ungarn mehr exiſtiere und Ungarn für Oeſterreich in wirtſchaftlicher Beziehung zum Auslande geworden ſei. Nach längerer De- batte wurde eine Reſolution angenommen, in welcher der ſtändige Ausſchuß der Zentralſtelle erklärt, daß das wirtſchaftliche Verhältnis zu Ungarn nur durch den Abſchluß eines Handels- vertrages mit Zugrundelegung der ſtrengſten Reziprozität geregelt werden dürfe. Auch müſſe eine dem wirklichen Im- porte der beiden Reichshälften entſprechende Aufteilung der Zolleinnahmen und die Zweiteilung der Oeſterreichiſch-unga- riſchen Bank gefordert werden. Der Ausſchuß erklärt die Forderung Ungarns nach Aufnahme der Barzahlungen im gegenwärtigen Moment als eine große Gefahr für die Geſamtmonarchie. Schließlich müſſe in den neuen Vereinbarungen der heimiſche Viehbeſtand in veterinärer Beziehung geſchützt werden. Ferner ſei das Verbot des Blankoterminhandels in Getreide und Mahl- produkten auch in Ungarn feſtzuſetzen. Während der Dauer des Handelsvertrages dürfe der Mahl- verkehr in keiner der beiden Reichshälften wieder eingeführt werden. Dann ſeien tarifariſche Ver- einbarungen zu treffen, damit die ungariſchen Maſſenprodukte gegenüber den heimiſchen Sendungen auf öſterreichiſchen Bahnen nicht begünſtigt er- ſcheinen. X. Parteitag der Chriſtlich-Sozialen in Deutſchland. In Weimar gehen ſoeben die Beratungen des X. Parteitages der „Chriſtlich-ſozialen Partei Deutſchlands“ vor ſich. Ueber die als „vertrau- lich“ bezeichneten Verhandlungen liegt nur ein ganz allgemeines Preßcommuniqué vor, dem einige intereſſante Bemerkungen zu entnehmen ſind. In der Debatte wurde hervorgehoben, daß auf Arbeiterkandidaturen beſonderer Wert zu legen und daß die Durchführung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Proportionalwahl- rechtes Programmpunkt ſei. Auf dem Gebiete der Schulen iſt die konfeſſionelle Schule, die Unentgeltlichkeit der Lehrmittel, obligatoriſcher ſchulgeldfreier Fortbildungsunterricht an Wochen- tagen mit konfeſſionellem Religions- unterricht zu erſtreben; in ſteuerpolitiſcher Hinſicht gehen die Forderungen auf kom- munalen Zuſchlag zur Umſatzſteuer der Warenhäuſer und deren Filialen, auf allgemeine Einführung der Umſatzſteuer nach dem gemeinen Wert, Wertzuwachsſteuer; für die ſtädtiſchen Arbeiter iſt zu erſtreben freies Koalitionsrecht für ſtädtiſche Arbeiter, ſtädtiſche Arbeiterausſchüſſe; ferner Ver- ſtadtlichung aller Betriebe der Straßenbahnen, Elektrizität, Gas, Waſſer, des Abfuhrweſens, des Anſchlagweſens, Errichtung ſtädtiſcher Apotheken. In ſeiner Rede zu dieſen programmatiſchen Fragen erzählte u. a. Partei- ſekretär Rüffer aus ſeinen Erfahrungen in der Agitation: Unendlich viele der ſogenannten „Genoſſen“, die bei Wahlen „unentwegt“ rot wählen, haben keine Ahnung von dem Programm der Sozialdemokratie und dem wahren Weſen der Umſturzpartei. Durch eine energiſche Aufklärungs- arbeit im Kleinen laſſen ſich viele wieder zurück- gewinnen. Dem Parteiſekretär iſt es nach einem Vor- trage einmal paſſiert, daß ein Sozialdemokrat auf- ſtand und ſagte: „Genoſſen! Unſerer roten Fahne bleiben wir treu; aber auf unſeren Kaiſer Wilhelm laſſen wir nichts kommen! Der Parteipräſident Dr. Stöcker pro- teſtierte ſchließlich gegen eine in Mannheim aus- geſprochene Behauptung, die chriſtlichen Gewerk- ſchaften befänden ſich auf dem Wege zur Sozial- demokratie. Auch der Generalſekretär des Gewerk- vereins chriſtlicher Bergarbeiter, Behrens, er- klärte gegenüber jener Mannheimer Auslaſſung, die chriſtliche Arbeiterſchaft werde treu zu Kaiſer und Reich ſtehen und von dieſem Boden aus eine Beſſerung ihrer Lage mit Nachdruck erkämpfen. Holland in Not (Von unſerem Korreſpondenten in Antwerpen.) Die Thronrede, mit der kürzlich die General- ſtaaten eröffnet wurden, hat durch die Fülle der in ihr enthüllten Zukunftspläne der Regierung alle Parteien ſtutzig gemacht. Denn es iſt kein Zeichen der Staatsweisheit, doppelt ſo viel zu verſprechen, als auch das fleißigſte Parlament zu leiſten imſtande iſt. So weiß man denn, daß zumindeſt die Hälfte der Regierungspläne aus dem Programme geſtrichen werden muß und man fragt ſich nur, welche erledigt, welche übergangen werden ſollen. Dazu kommt die ernſte Schwierigkeit, welche die Bewältigung des 8 Millionen-Defizits dem Staate bereitet, denn den Ausgaben von 186 Millionen ſtehen Einnahmen von nur 177·75 Millionen gegenüber. Außerdem machte der Finanzminiſter bekannt, daß für die angekün- digten ſozialen Reformen nicht weniger als 22,530.000 holländiſche Gulden notwendig ſeien. So wird die Krankenverſicherung 1,100.000 Gulden, die Altersverſicherung 6,400.000 erfordern und und die Ausdehnung des Unfallsgeſetzes auf den Landbau, die Fiſcherei und die Schiffahrt mit 400.000 Gulden veranſchlagt. Unter den Mitteln, die der Miniſter zur Erleichterung der Taſchen der Steuerträger erfand, wird beſonders die Steuer auf Schnaps und Tabak der Regierung großen Widerſtand ſchaffen. Wurden bis jetzt per Hekto- liter Schnaps 63 Gulden bezahlt, ſo will der Miniſter dieſe Steuer gar auf 90 Gulden erhöhen. Dem vorigen Miniſterium mißlang hier eine Erhöhung von 7 Gulden und jetzt fordert man eine ſolche um 27 Gulden. Das muß natürlich den „ouden Genever“ viel teurer machen, und die Holländer trinken doch regelmäßig jeden Morgen ihr Gläschen. Dazu kommt die Steuer auf Zigarren und Tabak. So allgemein iſt hier das Rauchen, daß man ſogar Kinder von 11—12 Jahren un- geniert mit ihrer Zigarre im Munde ſpazieren gehen ſieht. Sogar in Erziehungsanſtalten iſt das Rauchen nach der erſten heiligen Kommunion erlaubt; ſo daß die Wendung üblich iſt, die Holländer kämen mit der Zigarre im Munde zur Welt. Zigarre und Tabak waren bis jetzt ſteuer- frei, daher um billiges Geld gute Ware. Nun will der Finanzminiſter eine Steuer auf Tabak und Zigarren legen, die dem Lande zwei Millionen einbringt. Ob das Volk dieſe Geſetze mit Freude begrüßen wird! Miniſterpräſident Kuyper iſt hauptſächlich durch das von ihm eingeführte Getränke- geſetz gefallen: ſeine Hauptfeinde waren die Wirte. Wie will nun Miniſterpräſident De Meeſter dieſem Zorn entgehen, wenn er den allgemein beliebten „Genever“ ſo ſchwer beſteuert? Man darf auf Ueberraſchungen vorbereitet ſein, umſomehr, als die ſieben Sozialdemokraten, durch welche die Liberalen die Mehrheit haben, doch das Volk nicht gegen ſich einnehmen können, indem ſie eine ſo hohe Steuer auf den Schnaps genehmigen. Koſtſpielig und ſchwere Opfer heiſchend iſt auch der Feldzug Hollands gegen zwei auf- rühreriſche Fürſten der Inſel Bali, über die noch kein entſchiedener Sieg davongetragen wurde. Am 19. September beſetzten die niederländiſchen Truppen die „Poeri Keſiman“ und eroberten dort 10 Kanonen, 67 Gewehre, viel Munition und Waffen. Am darauffolgenden Tage wurde Denpaſar, wo der Fürſt mit ſeinem Gefolge ſich aufhielt, eingenommen. Der Feind verteidigte ſich tapfer, ſodaß auf holländiſcher Seite vier Soldaten getötet und zehn andere ver- wundet wurden. Der Feind ließ 400 Tote auf dem Schlachtfelde. Der Fürſt ſelbſt mit ſeinem Frauen und der ganzen Familie war unter den Getöteten. Er hatte nach Sitte der Eingeborenen, als er geſehen, daß kein Widerſtand mehr möglich ſei, mit allen ſeinen Angehörigen die Stadt ver- laſſen und ſich den Kugeln des Feindes ausgeſetzt. Die meiſten der Angehörigen des Fürſten hatten ſich ſelbſt den Tod gegeben und desgleichen die Frauen, die mit Diamanten und Perlen geſchmückt den Fürſten begleitet hatten. Am 23. wurde Bodveny geſtürmt und auch hier hatte der Radja Pametjoetan mit ſeinen Frauen den Tod geſucht, 200 ſeiner Leute kamen um. Aber die Expedition iſt noch nicht beendet, da noch zahlreiche Trupps von Untertanen des getöteten Fürſten entſchiedenen Widerſtand leiſten. Tagesbericht. Wien, 4. Oktober. * Kalender für Freitag den 5. Oktober. Katholiken: Laur. Juſtin. — Griechen (22. Sep- tember): Phok. M. — Sonnenaufgang 6 Uhr 05 Minuten morgens. — Sonnenuntergang 5 Uhr 32 Minuten abends. — Mondesaufgang 7 Uhr 20 Minuten abends. — Mondesuntergang 8 Uhr 43 Minuten vormittags. * Auszeichnungen und Ernennungen. Der Kaiſer hat die von dem außerordentlichen Ge- ſandten und bevollmächtigten Miniſter Julius Zwiedinek von Südenhorſt erbetene Ueber- nahme in den Ruheſtand genehmigt und demſelben bei dieſem Anlaſſe das Großkreuz des Leopold-Ordens verliehen, den Privatdozenten an der deutſchen Univerſität in Prag Dr. Joſef Langer zum außerordentlichen Profeſſor der Kinderheilkunde in Graz ernannt, ferner dem Laboranten der Geologiſchen Reichsanſtalt Franz Kalunder das Silberne Verdienſtkreuz mit der Krone, dem Förſter Julius Kubelka in Kotzman das Silberne Verdienſtkreuz mit der Krone ver- liehen. Der Finanzminiſter hat den Offizial beim Tabakeinlöſungsamte in Metkovic Nikolaus Pavisic zum Kontrollor des Tabakeinlöſungs- amtes in Vergoraz und den Offizial beim Tabak- einlöſungsamte in Gravoſa Julius Spraitz zum Kontrollor des Tabakeinlöſungsamtes in Imoski er- nannt. Der Juſtizminiſter hat den Staatsanwalt- ſubſtituten Dr. Franz Huber in Wien zum Staats- anwalte in Wels ernannt, den Staatsanwalt- ſubſtituten Dr. Georg Schwarz in Korneuburg nach Wien verſetzt und den Gerichtsadjunkten Robert von Soos in St. Pölten zum Staatsanwalt- ſubſtituten in Korneuburg ernannt. Der Miniſter für Kultus und Unterricht hat den Bauadjunkten des Staatsbaudienites, Ingenieur Franz Wiedorn in Bozen zum Lehrer in der IX. Rangsklaſſe an der Staatsgewerbeſchule in Czernowitz ernannt. Der Eiſenbahnminiſter hat die Ingenieure Arthur Leeder, Joſef Bocek, Max Fiſchl, Zdislav Gubrynowicz und Robert Hartinger zu Oberingenieuren im Eiſenbahnminiſterium ernannt. Der Eiſenbahnminiſter hat den Baukommiſſär der öſterreichiſchen Staatsbahnen Rudolf Leſſel zum Oberingenieur im Eiſenbahnminiſterium, den Bau- Oberkommiſſär der öſterreichiſchen Staatsbahnen Berthold Tittinger und den Maſchinen-Ober- kommiſſär der öſterreichiſchen Staatsbahnen Karl Juranek zu Oberkommiſſären der General- Inſpektion der öſterreichiſchen Eiſenbahnen, den Bau- kommiſſär der öſterreichiſchen Staatsbahnen Joſef Hula zum Oberkommiſſär der General-Inſpektion der öſterreichiſchen Eiſenbahnen ernannt. — Der Ackerbauminiſter hat den Forſteleven Alfred Lin- hart zum Forſt-Inſpektions-Kommiſſär II. Klaſſe ernannt. * Erzherzogin Marie Valerie iſt Mittwoch abends aus Wallſee in der Station Penzing ein- getroffen und von der Station aus in das kaiſerliche Schloß Schönbrunn gefahren. * Aus dem Landwehr-Verordnungsblatte. Der Kaiſer hat verlieben den Orden der Eiſernen Krone III. Klaſſe dem Oberſten Ernſt von Schneller, Landwehr-Platzkommandanten in Wien, das Offizierskreuz des Franz Joſef-Ordens dem Oberſten Ferdinand Fidler von Iſarborn, Kommandanten des Landwehr-Infanterie-Regiments Eger Nr. 6; den Orden der Eiſernen Krone III. Klaſſe den Oberſten Johann Lavric, Kom- mandanten des Landwehr-Infanterie-Regiments Czernowitz Nr. 22, und Karl Schudawa, Kom- mandanten des Landwehr-Ulanen-Regiments Nr. 6; der Kaiſer hat angeordnet: die Ueberſetzung vom Aktivſtande des Heeres in den Aktivſtand der Land- wehr des Hauptmannes I. Klaſſe, Ludwig Rigger, des Infanterie-Regiments Nr. 77; der Hauptleute II. Klaſſe, Rudolf Golla, des Feldjäger-Bataillons Nr. 30, und Rudolf von Kurz zum Thurn, des Armeeſtandes. * König Viktor Emanuel in Lebensgefahr. Der „Daily Telegraph“ meldet aus Mailand: König Viktor Emanuel ſchwebte vor einigen Tagen in eigener Lebensgefahr. Er wohnte im königlichen Palaſte Racconigi und ließ ſich einen Kinemato- graphen vorführen. Nach der Vorſtellung rief er den Eigentümer zu ſich, gab ihm die Hand, unter- hielt ſich in der leutſeligſten Weiſe mit ihm und verabſchiedete ſich dann ſehr freundlich. Später ent- deckte die Polizei, daß der Veranſtalter der Kine- matographen-Vorſtellung ein notoriſcher An- arch iſt namens Dutto iſt. Er wurde ſchleunigſt ge- ſucht und verhaftet. * Die chriſtlichen Handelshilfs- und Speditionsarbeiter. Am nächſten Sonntag, um ½10 Uhr vormittags, wird in Franz Schödls Saal, Mariahilſerſtraße 56, eine große Verſammlung ſtatt- finden, in der Beratungen über die kommenden Wahlen der Handelshilfs- und Speditionsarbeiter gepflogen werden. Als Referenten fungieren: Ge- meinderat Leopold Kunſchak, Gemeinderat Heinrich Fraß, Redakteur Franz Spalovsky und Leopold Heiniſch. * Joſefine Gallmayer. In ſtiller Weiſe er- folgte am Mittwoch nachmittag um 5 Uhr die Bei- ſetzung der ſterblichen Ueberreſte Joſefine Gallmayer, die auf dem Matzleinsdorfer evangeliſchen Friedhof exhumiert worden waren, in dem von der Kommune Wien bewilligten Ehrengrabe. Die ſolenne Feier bleibt dem Tage der Enthüllung des Denkmales vorbehalten. Der heutigen Uebertragung der Gebeine wohnte in Vertretung der Gemeinde Wien Magiſtratsrat Hulla bei. * Selbſtmord im Rathauspark. Am Mitt- woch vormittags wurde an einem Baume im Rat- hauspark ein alter Mann erhängt aufgefunden. Die Leiche wurde als die des 78jährigen proviſoriſchen Kanzleidieners der Staatseiſenbahn-Geſellſchaft Wenzel Treibiſch agnosziert. Schmerz über den vor zwei Wochen erfolgten Tod ſeiner Gattin Barbara, hat den Greis in den Tod getrieben.

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Zitationshilfe: Reichspost. Nr. 227, Wien, 05.10.1906, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_reichspost227_1906/2>, abgerufen am 21.11.2024.