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Reichspost. Nr. 283, Wien, 10.12.1895.

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[Spaltenumbruch]
[2]. Jahrgang.



[Redac]tion, Administration,
Expedition
und Druckerei
VIII., Josefstädterstraße 14




[St]tadtexpedition I., Wollzeile 15
Zeitungsbureau Weis.




Unfrankierte Briefe werden nicht an-
genommen; Manuscripte in der Regel
nicht zurückgestellt. Unverschlossene
Reclamationen sind portofrei.




Ankündigungs-Bureau:
VIII., Josefstädterstraße 14,
[sowie] bei dem Annoncenbureau für
[kath.].-conserv. Blätter, Hubert
Friedl,
Wien, V./1.




Abonnements werden ange-
nommen außer in den Expeditionen
[bei] J. Heindl, I., Stephausplatz 7.




Erscheint täglich 3 Uhr nachm.
[mit] Ausnahme der Sonn- und
Feiertage.


[Spaltenumbruch]
Wien, Dienstag 10. December 1895.


Reichspost.
Unabhängiges Tagblatt für das christliche Volk Oesterreich-Ungarns.

[Spaltenumbruch]
Nr. 283.



Bezugspreise:
Für Wien mit Zustellung ins Hers
ganzjährig .......... 15 fl.
vierteljährig ...... 3 fl. 80 kr.
monatlich ....... 1 fl. 30 kr.
wöchentlich 30 kr.

Einzelne Nummern 4 kr., per Po[st]
5 kr.

Bei Abholung in unserer Admin[is]
tration ganzj. 12 fl., monatlich 1 fl.




Für Oesterreich-Ungarn
ganzjährig ...... 16 fl. -- kr.
vierteljährig ..... 4 fl. 10 kr.
monatlich ....... 1 fl. 40 kr.

Für Deutschland
vierteljährig ..... 4 fl. 50 [kr].
oder 71/2 Mark.

Länder des Weltpostvereine[s]
viertelj. 6 fl. oder 10 Mark.




Telephon 1828.




[Spaltenumbruch]
Der Ball der Stadt Wien.

Wir müssen heute in diesem sonst der Erörterung
der großen politischen Tagesfragen gewidmeten Theile
des Blattes von einer Angelegenheit sprechen, die
eigentlich in die -- Ball- und Faschingschronik gehört.
Wie man weiß, hat in den letzten Jahren regelmäßig
ein sogenannter "Ball der Stadt Wien" im Rath-
hause stattgefunden, bei dem der Bürgermeister
gewissermassen als Hausherr fungirt und dem
Se. Majestät der Kaiser und die Mitglieder des
allerhöchsten Kaiserhauses, soweit sie gerade in der
Reichshauptstadt weilten, beizuwohnen pflegten. Ein
großes Ballcomite und ein Patronessencomite besorgten
das eigentliche Arrangement und man kann nur sagen,
daß das genannte Ballfest wirklich ein Fest des
Wiener Bürgerthums war, obgleich gewisse Elemente,
die wir nicht näher bezeichnen wollen, selbstverständlich
auch nicht fehlten. Sie sind eben in Wien leider
unvermeidlich.

Wien's Autonomie ist derzeit suspendirt und es
liegt auf der Hand, daß das Wiener Bürgerthum
daraus die entsprechenden Consequenzen ziehen wird
und ziehen muß. Herr v. Friebeis hat bereits An-
stalten getroffen, daß das schöne Fest, wie alljährlich
auch heuer stattfinde. Wir begreifen diese Absicht des
Herrn v. Friebeis, sie ist natürlich, ja sie ist --
von seinem Standpunkte aus betrachtet -- sogar
löblich, aber sie ist unrealisirbar. Der
Wiener Bürgerball -- denn das ist ja der
Ball der Stadt Wien -- wird nicht statt-
finden,
er kann nicht stattfinden und er darf
nicht stattfinden. Seine Abhaltung wäre einfach ein
Skandal.

Es ist immer gut in gewissen Dingen deutsch
und deutlich herauszusprechen. Die Autonomie der
Gemeinde ist derzeit suspendirt. Wir erörtern weiter
gar nicht, wieso das herbeigeführt wurde. Wir tadeln
nicht, wir constatiren nur, Wiens Autonomie ist
suspendirt, das bedeutet, daß es nicht am Platze
ist, in einem communalen Gebäude Freudenfeste
abzuhalten. Das schickt sich einfach
nicht. In einem Hause, in dem die
Mutter schwer krank liegt, pflegen
die Söhne und Töchter sich nicht
zum Tanzen aufspielen zu lassen.

Thäten sie es dennoch, so verdienten sie --
nein was sie dann verdienten, das wollen wir weiter
gar nicht aussprechen. In Wien herrscht der com-
munal-politische Ausnahmszustand,

da ist kein Raum für Geigen und Flöten.

Der "Ball der Stadt Wien" ist eine moralische
Unmöglichkeit. In einem Trauerhause wird nicht
getanzt; und sollte Jemand pietätlos und unanständig
genug sein, das thun zu wollen, so geben sich an-
ständige
Männer und achtbare Frauen da-
zu nicht als Staffage her. Ein "Ball der
Stadt Wien" während die Autonomie Wiens sus-
pendirt ist, ist eine moralische Unmöglichkeit und es
wird die Pflicht des Wiener Bürgerthums, das sich
selbst achtet,
sein, dafür zu sorgen, daß die
moralische Unmöglichkeit auch die materielle
Unmöglichkeit
bedeutet.

Herr von Friebeis hat leider bezüglich der Ver-
anstaltung des Balles bereits entscheidende Schritte
gemacht, er hat drei liberale Ehrenbürger Wiens --
andere als Liberale wurden ja vom Cliqueregime
nicht in's goldene Buch aufgenommen -- zu Protec-
toren des Balles designirt, als Vicepräsidenten des
Comites zwei ehemalige liberale Gemeinderäthe nomi-
nirt, kurz er hat etwas gethan, was das christliche
Bürgerthum der Reichshauptstadt nicht ruhig hin-
nehmen wird. Es mögen auf dem Balle jene orienta-
lischen Damen glänzen, von denen der Alliancehäupt-
ling Stern verlangte, daß ihre Schleppen wegen der
antisemitischen Wahlen nicht mehr durch die Salons
fegen sollen, die christlichen Bürgersfrauen werden sich
ferne halten vom Prachtsaale im Rathhause, bis
wieder eine gewählte, eine autonome Verwaltung
darin amtirt.




Es gibt noch Adel in Oesterreich.

Mit Bezug auf den von uns unter obigem Titel
gebrachten Artikel erhalten wir aus aristokratischen
Kreisen folgende Zuschrift: Der Krach vom 9. November
hat ziemlich viele hochadelige Familien mitgenommen,
[Spaltenumbruch] deren Mitglieder sich von sogenannten Bankgeschäften
zu großartigen Börsespeculationen hatten verführen
lassen. Sie büßen es um so schwerer, als Noblesse
oblige
und die Differenzen ohne Widerrede bezahlt
werden; von einem "Ausbleiben" dieser hochadeligen
Speculanten nach dem Beispiele jüdischer Jobber ist
keine Rede.

Namentlich eine Familie, deren Name edlen
spanischen Klang hat, ist in Folge riesiger Differenzen
an den Rand des Ruins gerathen. Nicht umsonst
hatte der Familienchef jahrelang freundschaftliche Be-
ziehungen mit dem Chef der größten Gelddynastie der
Erde gepflogen und letzterer übernimmt nun auf
demütiges Bitten des ersteren -- gegen gute Sicher-
stellung -- die allmälige Rangirung des hochadeligen
Hauses.

Ein anderer Hochadeliger, der seit Jahren in
Verbindung mit geographischen Unternehmungen und
nur zuvielen anderen, unvortheilhaften Angelegenheiten
genannt wird, hat eine kleinere Differenz zu zahlen,
eine halbe Million. Da er und Nachkommenschaft das
Patrimonium schon zu sehr angegriffen haben, wußte
sich der edle Herr diesmal nicht mehr anders zu
helfen, als daß er seinen alten Freund, den Chef der
zweilgrößten Gelddynastie (welcher Chef durch seine
orientalischen Raubzüge berüchtigt ist) -- gegen Sicher-
stellung um ein Darlehen von 500.000 Francs an-
bettelte. Es wurde ihm großmüthig gewährt gegen
Zusage von Gegengefälligkeiten. Welcher Natur diese
sind, wird gleich nachfolgende Erzählung zeigen. Die
fragliche Gelddynastie hat unter der verrotteten
französischen und englischen Aristokratie längst festen
Fuß gefaßt, aber der österreichische Hochadel und
Hof blieben für sie unnahbar. Nun fungirte
vor Jahren durch eine ungezählte Reihe von
Faschingen in den höchsten Kreisen ein äußerst beliebtes
aber ebenso verschuldetes Gräflein als Vortänzer.
Diesem sagte unser jüdischer Milliardär: "Oeffnen
Sie mir durch Ihren Einfluß die mir jetzt verschlosse-
nen hocharistokratischen Thüren, so zahle ich Ihnen
alle Schulden." Denn in dem Geldjuden brannte
der Ehrgeiz und außerdem konnte es ja nur im Ge-
schäft nützen. Wochenlang agitirte und intriguirte das
Gräflein, fuhr vom Fürsten X. zur Gräfin Y. und
zum ... Herzog Z., endlich mußte er seinem Juden-
gönner betrübt melden, Alles sei vergeblich, er könne
ihm die Aufnahme in die hochadelige Gesellschaft
Oesterreichs nicht vermitteln. -- Aus der Schulden-
zahlung wurde nichts, aber der Milliardär schenkte
dem Gräflein für seine Mühe eine schöne Jagdflinte.
-- Das war anno dazumal. Vielleicht wird der
Judenbaron jetzt in Folge des 500.000 fl.-Darlehens
die langersehnte Aufnahme erreichen?




Graf Badeni für das böhmische
Staatsrecht.

Der Herr Ministerpräsident hat bereits die beste
Absicht, sich "über die historischen Grundlagen der
staatsrechtlichen Aspirationen der Jungezechen" streng
sachlich und genau informiren zu lassen. Zu diesem
Zwecke wurde ein czechischer Beamter im Ministerium
des Innern, Bezirkscommissär Peter Schlachta,
Ritter von und zu Wsschrtsky Wssch[r]d beauftragt, sich
in das Studium der geheimen Archivs-Acten des
Ministeriums zu vertiefen und aus denselben hervor-
zuholen, was am sogenannten böhmischen Staatsrechte
Wahres und Nicht Wahres ist. Veranlassung soll hiezu
ein in der Zeitschrift "Zeit" erschienener Artikel über
das höhmische Staatsrecht gegeben haben, welcher zwar
von dem Reichsraths-Abge[o]rdneten Dr. Kramar ver-
faßt wurde, dem Grafen Badeni aber trotz aller neuen
Freundschaft für die Jungczechen nicht objectiv genug
erscheint. Der Herr von Wsschrtsky-Wsschrd wird in
dieser Sache zweifellos objectiv schreiben. (??)

Bezeichnend ist, daß diese Nachricht gerade jetzt
auftaucht, wo die böhmischen Blätter den unmittelbar
bevorstehenden Rücktritt des Grafen Thun anzeigen und
von wichtigen Unterredungen zwischen dem Grafen
Badeni und jungezechischen Abgeordneten zu berichten
wissen. Man sieht aus Allem, daß Graf Badeni eifrig
um die Gunst der Jungczechen buhlt -- die deutsche
Linke wird dies freilich nicht abhalten für den Grafen
Badeni auch weiterhin zu schwärmen und, wenn er be-
fiehlt selbst -- für das böhmische Staatsrecht zu
stimmen.


[Spaltenumbruch]
Kesseltreiben gegen den Nuntius.

Wir entnehmen dem "Budapester Tagblatt" die
folgende interessante Wiener Correspondenz:

"Ich weiß nicht, ob Sie bemerkt haben, daß in
den letzten Wochen ein förmliches Kessel-
treiben
gegen den päpstlichen Nuntius Msgr.
Agliardi in Scene gesetzt wird. Daß die An-
griffe, die auf ihn gerichtet werden, keine zu-
fälligen
sind, das geht wohl aus dem Paralle-
lismus und aus der Gleichzeitigkeit derselben hervor.
Angefangen hat das Concert in Rom. Dort wußte
der "Popolo Romano", das verbreitetste Blatt der
ewigen Stadt, zu erzählen, daß zwischen Oesterreich-
Ungarn und dem Batican eine ernsthafte Spannung
bestehe, an der der Umstand Schuld trage, daß Msgr.
Agliardi noch nicht abberufen sei. Gleich darauf wußte
ein Berliner Blatt eine große "Intrigue" zu enthüllen,
die von Msgr. Agliardi angezettelt worden sei.
Es handle sich darum, den -- Dreibund zu sprengen.
Cardinal Rampolla wolle das eigentlich selbst
nicht, aber es schien, daß der Papst und ein Erz-
herzog
ihn dazu drängten! Das eigentliche Werk-
zeug sei Msgr. Agliardi(!), da aber dieser sich nicht
vorwagen dürfe, so bediene er sich des Feldbischofs
Msgr. Belopotoczky und des Abgeordneten
Grafen Sylva-Taroucca. Angestrebt werde
der Umsturz der dualistischen Verfassung, die sociale
Revolution und natürlich die Sprengung des Drei-
bundes. Man wird zugeben, daß das für einmal
etwas viel ist. Aber der Appetit kommt bekanntlich
im Essen. Dieser läppische Artikel nun circulirt in den
meisten vom Preßbureau abhängigen kleinen Blättern
Oesterreichs und scheint auch in einigen mehr ab-
hängigen ungarischen Blättern Eingang gefunden zu
haben.

Nun wird aber auch mit groben Geschützen gearbeitet.
Man schreibt den "Times" aus Wien, daß zwischen
Wien und Rom eine ernste Spannung bestehe, daß
Graf Revertera, unser Botschafter beim Vatican,
nicht eher nach Rom zurückkehren werde, bevor nicht
Msgr. Agliardi abberufen sei. Minder diplomatisch,
aber immerhin ehrlicher als seine römischen und
Berliner Collegen, läßt der Wiener Correspondent der
"Times" die Katze aus dem Sack, indem er erklärt,
daß in Bezug auf österreichische Angelegenheiten zwar
auch allerlei Gravamina gegen den Nuntius beständen,
daß aber "selbstverständlich" die "Ein-
mischung" des Nuntius in ungarische Angelegenheiten
die Ursache sei, weshalb seine Abberufung verlangt
werde. Nachdem die katholische Sache
in Ungarn "endgiltig geschlagen"

("finally defeated") sei, so habe man die Abberufung
als etwas Selbstverständliches erwartet. Daß sie nicht
erfolgt sei, bestärke die Ueberzeugung, "daß der
Vatican die umstürzlerischen Elemente in beiden Hälften
der Monarchie beeinflusse, um die bestehenden Be-
hörden in Verlegenheit zu bringen!" Jetzt also wissen
wir es -- wenn Socialdemokraten und Agrarsocialisten
irgendwo sich rühren, so kommt das Schlagwort und
der Befehl von Rom und das Geld kommt vom
Grafen Sylva-Taroucca, der als ein Mann, der eine
Million Gulden Jahresrevenue hat, sozusagen der ge-
borene Alliirte der Communisten ist. Das Kessel-
treiben gegen den Nuntius hat einen unzweifel-
haft klaren Zweck. Wohin
es tendirt, ist
vollkommen klar, interessant wäre es nur feststellen zu
können, von wo es ausgeht. Denn hier wenigstens
schieben die Leute des Grafen Badeni die Ver-
antwortung dem Grafen Goluchowski, und die
Leute des Grafen Goluchowski hinwiederum
die Verantwortung dem Baron Banffy zu. Viel-
leicht schiebt Baron Banffy dieselbe wieder auf
den Grafen Badeni. Die Frage bleibt also offen:
Woher?

In der nächsten Nummer beschäftigt sich das
"Budapester Tagblatt" abermals mit dem päpstlichen
Nuntius in Wien und schreibt:

"Wie man in den Kreisen der ungarischen Re-
gierungspartei sehr geheimnißvoll erzählt, steht die
Reise Baron Desider Banffy's nach
Wien,
welche der Ministerpräsident Ende dieser
Woche antreten will, auch mit der Agliardi-
Affaire
in Verbindung. Es soll wieder eine
Interpellation geplant sein, in welcher
Baron Bauffy seiner sattsam bekannten Liebe für
den Wiener Nuntius Ausdruck zu geben gedenkt.

[Spaltenumbruch]
[2]. Jahrgang.



[Redac]tion, Adminiſtration,
Expedition
und Druckerei
VIII., Joſefſtädterſtraße 14




[St]tadtexpedition I., Wollzeile 15
Zeitungsbureau Weis.




Unfrankierte Briefe werden nicht an-
genommen; Manuſcripte in der Regel
nicht zurückgeſtellt. Unverſchloſſene
Reclamationen ſind portofrei.




Ankündigungs-Bureau:
VIII., Joſefſtädterſtraße 14,
[ſowie] bei dem Annoncenbureau für
[kath.].-conſerv. Blätter, Hubert
Friedl,
Wien, V./1.




Abonnements werden ange-
nommen außer in den Expeditionen
[bei] J. Heindl, I., Stephausplatz 7.




Erſcheint täglich 3 Uhr nachm.
[mit] Ausnahme der Sonn- und
Feiertage.


[Spaltenumbruch]
Wien, Dienſtag 10. December 1895.


Reichspoſt.
Unabhängiges Tagblatt für das chriſtliche Volk Oeſterreich-Ungarns.

[Spaltenumbruch]
Nr. 283.



Bezugspreiſe:
Für Wien mit Zuſtellung ins Hers
ganzjährig .......... 15 fl.
vierteljährig ...... 3 fl. 80 kr.
monatlich ....... 1 fl. 30 kr.
wöchentlich 30 kr.

Einzelne Nummern 4 kr., per Po[ſt]
5 kr.

Bei Abholung in unſerer Admin[iſ]
tration ganzj. 12 fl., monatlich 1 fl.




Für Oeſterreich-Ungarn
ganzjährig ...... 16 fl. — kr.
vierteljährig ..... 4 fl. 10 kr.
monatlich ....... 1 fl. 40 kr.

Für Deutſchland
vierteljährig ..... 4 fl. 50 [kr].
oder 7½ Mark.

Länder des Weltpoſtvereine[ſ]
viertelj. 6 fl. oder 10 Mark.




Telephon 1828.




[Spaltenumbruch]
Der Ball der Stadt Wien.

Wir müſſen heute in dieſem ſonſt der Erörterung
der großen politiſchen Tagesfragen gewidmeten Theile
des Blattes von einer Angelegenheit ſprechen, die
eigentlich in die — Ball- und Faſchingschronik gehört.
Wie man weiß, hat in den letzten Jahren regelmäßig
ein ſogenannter „Ball der Stadt Wien“ im Rath-
hauſe ſtattgefunden, bei dem der Bürgermeiſter
gewiſſermaſſen als Hausherr fungirt und dem
Se. Majeſtät der Kaiſer und die Mitglieder des
allerhöchſten Kaiſerhauſes, ſoweit ſie gerade in der
Reichshauptſtadt weilten, beizuwohnen pflegten. Ein
großes Ballcomite und ein Patroneſſencomite beſorgten
das eigentliche Arrangement und man kann nur ſagen,
daß das genannte Ballfeſt wirklich ein Feſt des
Wiener Bürgerthums war, obgleich gewiſſe Elemente,
die wir nicht näher bezeichnen wollen, ſelbſtverſtändlich
auch nicht fehlten. Sie ſind eben in Wien leider
unvermeidlich.

Wien’s Autonomie iſt derzeit ſuspendirt und es
liegt auf der Hand, daß das Wiener Bürgerthum
daraus die entſprechenden Conſequenzen ziehen wird
und ziehen muß. Herr v. Friebeis hat bereits An-
ſtalten getroffen, daß das ſchöne Feſt, wie alljährlich
auch heuer ſtattfinde. Wir begreifen dieſe Abſicht des
Herrn v. Friebeis, ſie iſt natürlich, ja ſie iſt —
von ſeinem Standpunkte aus betrachtet — ſogar
löblich, aber ſie iſt unrealiſirbar. Der
Wiener Bürgerball — denn das iſt ja der
Ball der Stadt Wien — wird nicht ſtatt-
finden,
er kann nicht ſtattfinden und er darf
nicht ſtattfinden. Seine Abhaltung wäre einfach ein
Skandal.

Es iſt immer gut in gewiſſen Dingen deutſch
und deutlich herauszuſprechen. Die Autonomie der
Gemeinde iſt derzeit ſuspendirt. Wir erörtern weiter
gar nicht, wieſo das herbeigeführt wurde. Wir tadeln
nicht, wir conſtatiren nur, Wiens Autonomie iſt
ſuspendirt, das bedeutet, daß es nicht am Platze
iſt, in einem communalen Gebäude Freudenfeſte
abzuhalten. Das ſchickt ſich einfach
nicht. In einem Hauſe, in dem die
Mutter ſchwer krank liegt, pflegen
die Söhne und Töchter ſich nicht
zum Tanzen aufſpielen zu laſſen.

Thäten ſie es dennoch, ſo verdienten ſie —
nein was ſie dann verdienten, das wollen wir weiter
gar nicht ausſprechen. In Wien herrſcht der com-
munal-politiſche Ausnahmszuſtand,

da iſt kein Raum für Geigen und Flöten.

Der „Ball der Stadt Wien“ iſt eine moraliſche
Unmöglichkeit. In einem Trauerhauſe wird nicht
getanzt; und ſollte Jemand pietätlos und unanſtändig
genug ſein, das thun zu wollen, ſo geben ſich an-
ſtändige
Männer und achtbare Frauen da-
zu nicht als Staffage her. Ein „Ball der
Stadt Wien“ während die Autonomie Wiens ſus-
pendirt iſt, iſt eine moraliſche Unmöglichkeit und es
wird die Pflicht des Wiener Bürgerthums, das ſich
ſelbſt achtet,
ſein, dafür zu ſorgen, daß die
moraliſche Unmöglichkeit auch die materielle
Unmöglichkeit
bedeutet.

Herr von Friebeis hat leider bezüglich der Ver-
anſtaltung des Balles bereits entſcheidende Schritte
gemacht, er hat drei liberale Ehrenbürger Wiens —
andere als Liberale wurden ja vom Cliqueregime
nicht in’s goldene Buch aufgenommen — zu Protec-
toren des Balles deſignirt, als Vicepräſidenten des
Comites zwei ehemalige liberale Gemeinderäthe nomi-
nirt, kurz er hat etwas gethan, was das chriſtliche
Bürgerthum der Reichshauptſtadt nicht ruhig hin-
nehmen wird. Es mögen auf dem Balle jene orienta-
liſchen Damen glänzen, von denen der Alliancehäupt-
ling Stern verlangte, daß ihre Schleppen wegen der
antiſemitiſchen Wahlen nicht mehr durch die Salons
fegen ſollen, die chriſtlichen Bürgersfrauen werden ſich
ferne halten vom Prachtſaale im Rathhauſe, bis
wieder eine gewählte, eine autonome Verwaltung
darin amtirt.




Es gibt noch Adel in Oeſterreich.

Mit Bezug auf den von uns unter obigem Titel
gebrachten Artikel erhalten wir aus ariſtokratiſchen
Kreiſen folgende Zuſchrift: Der Krach vom 9. November
hat ziemlich viele hochadelige Familien mitgenommen,
[Spaltenumbruch] deren Mitglieder ſich von ſogenannten Bankgeſchäften
zu großartigen Börſeſpeculationen hatten verführen
laſſen. Sie büßen es um ſo ſchwerer, als Noblesse
oblige
und die Differenzen ohne Widerrede bezahlt
werden; von einem „Ausbleiben“ dieſer hochadeligen
Speculanten nach dem Beiſpiele jüdiſcher Jobber iſt
keine Rede.

Namentlich eine Familie, deren Name edlen
ſpaniſchen Klang hat, iſt in Folge rieſiger Differenzen
an den Rand des Ruins gerathen. Nicht umſonſt
hatte der Familienchef jahrelang freundſchaftliche Be-
ziehungen mit dem Chef der größten Gelddynaſtie der
Erde gepflogen und letzterer übernimmt nun auf
demütiges Bitten des erſteren — gegen gute Sicher-
ſtellung — die allmälige Rangirung des hochadeligen
Hauſes.

Ein anderer Hochadeliger, der ſeit Jahren in
Verbindung mit geographiſchen Unternehmungen und
nur zuvielen anderen, unvortheilhaften Angelegenheiten
genannt wird, hat eine kleinere Differenz zu zahlen,
eine halbe Million. Da er und Nachkommenſchaft das
Patrimonium ſchon zu ſehr angegriffen haben, wußte
ſich der edle Herr diesmal nicht mehr anders zu
helfen, als daß er ſeinen alten Freund, den Chef der
zweilgrößten Gelddynaſtie (welcher Chef durch ſeine
orientaliſchen Raubzüge berüchtigt iſt) — gegen Sicher-
ſtellung um ein Darlehen von 500.000 Francs an-
bettelte. Es wurde ihm großmüthig gewährt gegen
Zuſage von Gegengefälligkeiten. Welcher Natur dieſe
ſind, wird gleich nachfolgende Erzählung zeigen. Die
fragliche Gelddynaſtie hat unter der verrotteten
franzöſiſchen und engliſchen Ariſtokratie längſt feſten
Fuß gefaßt, aber der öſterreichiſche Hochadel und
Hof blieben für ſie unnahbar. Nun fungirte
vor Jahren durch eine ungezählte Reihe von
Faſchingen in den höchſten Kreiſen ein äußerſt beliebtes
aber ebenſo verſchuldetes Gräflein als Vortänzer.
Dieſem ſagte unſer jüdiſcher Milliardär: „Oeffnen
Sie mir durch Ihren Einfluß die mir jetzt verſchloſſe-
nen hochariſtokratiſchen Thüren, ſo zahle ich Ihnen
alle Schulden.“ Denn in dem Geldjuden brannte
der Ehrgeiz und außerdem konnte es ja nur im Ge-
ſchäft nützen. Wochenlang agitirte und intriguirte das
Gräflein, fuhr vom Fürſten X. zur Gräfin Y. und
zum ... Herzog Z., endlich mußte er ſeinem Juden-
gönner betrübt melden, Alles ſei vergeblich, er könne
ihm die Aufnahme in die hochadelige Geſellſchaft
Oeſterreichs nicht vermitteln. — Aus der Schulden-
zahlung wurde nichts, aber der Milliardär ſchenkte
dem Gräflein für ſeine Mühe eine ſchöne Jagdflinte.
— Das war anno dazumal. Vielleicht wird der
Judenbaron jetzt in Folge des 500.000 fl.-Darlehens
die langerſehnte Aufnahme erreichen?




Graf Badeni für das böhmiſche
Staatsrecht.

Der Herr Miniſterpräſident hat bereits die beſte
Abſicht, ſich „über die hiſtoriſchen Grundlagen der
ſtaatsrechtlichen Aſpirationen der Jungezechen“ ſtreng
ſachlich und genau informiren zu laſſen. Zu dieſem
Zwecke wurde ein czechiſcher Beamter im Miniſterium
des Innern, Bezirkscommiſſär Peter Schlachta,
Ritter von und zu Wsſchrtsky Wsſch[r]d beauftragt, ſich
in das Studium der geheimen Archivs-Acten des
Miniſteriums zu vertiefen und aus denſelben hervor-
zuholen, was am ſogenannten böhmiſchen Staatsrechte
Wahres und Nicht Wahres iſt. Veranlaſſung ſoll hiezu
ein in der Zeitſchrift „Zeit“ erſchienener Artikel über
das höhmiſche Staatsrecht gegeben haben, welcher zwar
von dem Reichsraths-Abge[o]rdneten Dr. Kramar ver-
faßt wurde, dem Grafen Badeni aber trotz aller neuen
Freundſchaft für die Jungczechen nicht objectiv genug
erſcheint. Der Herr von Wsſchrtsky-Wsſchrd wird in
dieſer Sache zweifellos objectiv ſchreiben. (??)

Bezeichnend iſt, daß dieſe Nachricht gerade jetzt
auftaucht, wo die böhmiſchen Blätter den unmittelbar
bevorſtehenden Rücktritt des Grafen Thun anzeigen und
von wichtigen Unterredungen zwiſchen dem Grafen
Badeni und jungezechiſchen Abgeordneten zu berichten
wiſſen. Man ſieht aus Allem, daß Graf Badeni eifrig
um die Gunſt der Jungczechen buhlt — die deutſche
Linke wird dies freilich nicht abhalten für den Grafen
Badeni auch weiterhin zu ſchwärmen und, wenn er be-
fiehlt ſelbſt — für das böhmiſche Staatsrecht zu
ſtimmen.


[Spaltenumbruch]
Keſſeltreiben gegen den Nuntius.

Wir entnehmen dem „Budapeſter Tagblatt“ die
folgende intereſſante Wiener Correſpondenz:

„Ich weiß nicht, ob Sie bemerkt haben, daß in
den letzten Wochen ein förmliches Keſſel-
treiben
gegen den päpſtlichen Nuntius Mſgr.
Agliardi in Scene geſetzt wird. Daß die An-
griffe, die auf ihn gerichtet werden, keine zu-
fälligen
ſind, das geht wohl aus dem Paralle-
lismus und aus der Gleichzeitigkeit derſelben hervor.
Angefangen hat das Concert in Rom. Dort wußte
der „Popolo Romano“, das verbreitetſte Blatt der
ewigen Stadt, zu erzählen, daß zwiſchen Oeſterreich-
Ungarn und dem Batican eine ernſthafte Spannung
beſtehe, an der der Umſtand Schuld trage, daß Mſgr.
Agliardi noch nicht abberufen ſei. Gleich darauf wußte
ein Berliner Blatt eine große „Intrigue“ zu enthüllen,
die von Mſgr. Agliardi angezettelt worden ſei.
Es handle ſich darum, den — Dreibund zu ſprengen.
Cardinal Rampolla wolle das eigentlich ſelbſt
nicht, aber es ſchien, daß der Papſt und ein Erz-
herzog
ihn dazu drängten! Das eigentliche Werk-
zeug ſei Mſgr. Agliardi(!), da aber dieſer ſich nicht
vorwagen dürfe, ſo bediene er ſich des Feldbiſchofs
Mſgr. Belopotoczky und des Abgeordneten
Grafen Sylva-Taroucca. Angeſtrebt werde
der Umſturz der dualiſtiſchen Verfaſſung, die ſociale
Revolution und natürlich die Sprengung des Drei-
bundes. Man wird zugeben, daß das für einmal
etwas viel iſt. Aber der Appetit kommt bekanntlich
im Eſſen. Dieſer läppiſche Artikel nun circulirt in den
meiſten vom Preßbureau abhängigen kleinen Blättern
Oeſterreichs und ſcheint auch in einigen mehr ab-
hängigen ungariſchen Blättern Eingang gefunden zu
haben.

Nun wird aber auch mit groben Geſchützen gearbeitet.
Man ſchreibt den „Times“ aus Wien, daß zwiſchen
Wien und Rom eine ernſte Spannung beſtehe, daß
Graf Revertera, unſer Botſchafter beim Vatican,
nicht eher nach Rom zurückkehren werde, bevor nicht
Mſgr. Agliardi abberufen ſei. Minder diplomatiſch,
aber immerhin ehrlicher als ſeine römiſchen und
Berliner Collegen, läßt der Wiener Correſpondent der
„Times“ die Katze aus dem Sack, indem er erklärt,
daß in Bezug auf öſterreichiſche Angelegenheiten zwar
auch allerlei Gravamina gegen den Nuntius beſtänden,
daß aber „ſelbſtverſtändlich“ die „Ein-
miſchung“ des Nuntius in ungariſche Angelegenheiten
die Urſache ſei, weshalb ſeine Abberufung verlangt
werde. Nachdem die katholiſche Sache
in Ungarn „endgiltig geſchlagen“

(»finally defeated«) ſei, ſo habe man die Abberufung
als etwas Selbſtverſtändliches erwartet. Daß ſie nicht
erfolgt ſei, beſtärke die Ueberzeugung, „daß der
Vatican die umſtürzleriſchen Elemente in beiden Hälften
der Monarchie beeinfluſſe, um die beſtehenden Be-
hörden in Verlegenheit zu bringen!“ Jetzt alſo wiſſen
wir es — wenn Socialdemokraten und Agrarſocialiſten
irgendwo ſich rühren, ſo kommt das Schlagwort und
der Befehl von Rom und das Geld kommt vom
Grafen Sylva-Taroucca, der als ein Mann, der eine
Million Gulden Jahresrevenue hat, ſozuſagen der ge-
borene Alliirte der Communiſten iſt. Das Keſſel-
treiben gegen den Nuntius hat einen unzweifel-
haft klaren Zweck. Wohin
es tendirt, iſt
vollkommen klar, intereſſant wäre es nur feſtſtellen zu
können, von wo es ausgeht. Denn hier wenigſtens
ſchieben die Leute des Grafen Badeni die Ver-
antwortung dem Grafen Goluchowski, und die
Leute des Grafen Goluchowski hinwiederum
die Verantwortung dem Baron Banffy zu. Viel-
leicht ſchiebt Baron Banffy dieſelbe wieder auf
den Grafen Badeni. Die Frage bleibt alſo offen:
Woher?

In der nächſten Nummer beſchäftigt ſich das
„Budapeſter Tagblatt“ abermals mit dem päpſtlichen
Nuntius in Wien und ſchreibt:

„Wie man in den Kreiſen der ungariſchen Re-
gierungspartei ſehr geheimnißvoll erzählt, ſteht die
Reiſe Baron Deſider Banffy’s nach
Wien,
welche der Miniſterpräſident Ende dieſer
Woche antreten will, auch mit der Agliardi-
Affaire
in Verbindung. Es ſoll wieder eine
Interpellation geplant ſein, in welcher
Baron Bauffy ſeiner ſattſam bekannten Liebe für
den Wiener Nuntius Ausdruck zu geben gedenkt.

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[[1]/0001] 2. Jahrgang. Redaction, Adminiſtration, Expedition und Druckerei VIII., Joſefſtädterſtraße 14 Sttadtexpedition I., Wollzeile 15 Zeitungsbureau Weis. Unfrankierte Briefe werden nicht an- genommen; Manuſcripte in der Regel nicht zurückgeſtellt. Unverſchloſſene Reclamationen ſind portofrei. Ankündigungs-Bureau: VIII., Joſefſtädterſtraße 14, ſowie bei dem Annoncenbureau für kath..-conſerv. Blätter, Hubert Friedl, Wien, V./1. Abonnements werden ange- nommen außer in den Expeditionen bei J. Heindl, I., Stephausplatz 7. Erſcheint täglich 3 Uhr nachm. mit Ausnahme der Sonn- und Feiertage. Wien, Dienſtag 10. December 1895. Reichspoſt. Unabhängiges Tagblatt für das chriſtliche Volk Oeſterreich-Ungarns. Nr. 283. Bezugspreiſe: Für Wien mit Zuſtellung ins Hers ganzjährig .......... 15 fl. vierteljährig ...... 3 fl. 80 kr. monatlich ....... 1 fl. 30 kr. wöchentlich 30 kr. Einzelne Nummern 4 kr., per Poſt 5 kr. Bei Abholung in unſerer Adminiſ tration ganzj. 12 fl., monatlich 1 fl. Für Oeſterreich-Ungarn ganzjährig ...... 16 fl. — kr. vierteljährig ..... 4 fl. 10 kr. monatlich ....... 1 fl. 40 kr. Für Deutſchland vierteljährig ..... 4 fl. 50 kr. oder 7½ Mark. Länder des Weltpoſtvereineſ viertelj. 6 fl. oder 10 Mark. Telephon 1828. Der Ball der Stadt Wien. Wir müſſen heute in dieſem ſonſt der Erörterung der großen politiſchen Tagesfragen gewidmeten Theile des Blattes von einer Angelegenheit ſprechen, die eigentlich in die — Ball- und Faſchingschronik gehört. Wie man weiß, hat in den letzten Jahren regelmäßig ein ſogenannter „Ball der Stadt Wien“ im Rath- hauſe ſtattgefunden, bei dem der Bürgermeiſter gewiſſermaſſen als Hausherr fungirt und dem Se. Majeſtät der Kaiſer und die Mitglieder des allerhöchſten Kaiſerhauſes, ſoweit ſie gerade in der Reichshauptſtadt weilten, beizuwohnen pflegten. Ein großes Ballcomite und ein Patroneſſencomite beſorgten das eigentliche Arrangement und man kann nur ſagen, daß das genannte Ballfeſt wirklich ein Feſt des Wiener Bürgerthums war, obgleich gewiſſe Elemente, die wir nicht näher bezeichnen wollen, ſelbſtverſtändlich auch nicht fehlten. Sie ſind eben in Wien leider unvermeidlich. Wien’s Autonomie iſt derzeit ſuspendirt und es liegt auf der Hand, daß das Wiener Bürgerthum daraus die entſprechenden Conſequenzen ziehen wird und ziehen muß. Herr v. Friebeis hat bereits An- ſtalten getroffen, daß das ſchöne Feſt, wie alljährlich auch heuer ſtattfinde. Wir begreifen dieſe Abſicht des Herrn v. Friebeis, ſie iſt natürlich, ja ſie iſt — von ſeinem Standpunkte aus betrachtet — ſogar löblich, aber ſie iſt unrealiſirbar. Der Wiener Bürgerball — denn das iſt ja der Ball der Stadt Wien — wird nicht ſtatt- finden, er kann nicht ſtattfinden und er darf nicht ſtattfinden. Seine Abhaltung wäre einfach ein Skandal. Es iſt immer gut in gewiſſen Dingen deutſch und deutlich herauszuſprechen. Die Autonomie der Gemeinde iſt derzeit ſuspendirt. Wir erörtern weiter gar nicht, wieſo das herbeigeführt wurde. Wir tadeln nicht, wir conſtatiren nur, Wiens Autonomie iſt ſuspendirt, das bedeutet, daß es nicht am Platze iſt, in einem communalen Gebäude Freudenfeſte abzuhalten. Das ſchickt ſich einfach nicht. In einem Hauſe, in dem die Mutter ſchwer krank liegt, pflegen die Söhne und Töchter ſich nicht zum Tanzen aufſpielen zu laſſen. Thäten ſie es dennoch, ſo verdienten ſie — nein was ſie dann verdienten, das wollen wir weiter gar nicht ausſprechen. In Wien herrſcht der com- munal-politiſche Ausnahmszuſtand, da iſt kein Raum für Geigen und Flöten. Der „Ball der Stadt Wien“ iſt eine moraliſche Unmöglichkeit. In einem Trauerhauſe wird nicht getanzt; und ſollte Jemand pietätlos und unanſtändig genug ſein, das thun zu wollen, ſo geben ſich an- ſtändige Männer und achtbare Frauen da- zu nicht als Staffage her. Ein „Ball der Stadt Wien“ während die Autonomie Wiens ſus- pendirt iſt, iſt eine moraliſche Unmöglichkeit und es wird die Pflicht des Wiener Bürgerthums, das ſich ſelbſt achtet, ſein, dafür zu ſorgen, daß die moraliſche Unmöglichkeit auch die materielle Unmöglichkeit bedeutet. Herr von Friebeis hat leider bezüglich der Ver- anſtaltung des Balles bereits entſcheidende Schritte gemacht, er hat drei liberale Ehrenbürger Wiens — andere als Liberale wurden ja vom Cliqueregime nicht in’s goldene Buch aufgenommen — zu Protec- toren des Balles deſignirt, als Vicepräſidenten des Comites zwei ehemalige liberale Gemeinderäthe nomi- nirt, kurz er hat etwas gethan, was das chriſtliche Bürgerthum der Reichshauptſtadt nicht ruhig hin- nehmen wird. Es mögen auf dem Balle jene orienta- liſchen Damen glänzen, von denen der Alliancehäupt- ling Stern verlangte, daß ihre Schleppen wegen der antiſemitiſchen Wahlen nicht mehr durch die Salons fegen ſollen, die chriſtlichen Bürgersfrauen werden ſich ferne halten vom Prachtſaale im Rathhauſe, bis wieder eine gewählte, eine autonome Verwaltung darin amtirt. Es gibt noch Adel in Oeſterreich. Mit Bezug auf den von uns unter obigem Titel gebrachten Artikel erhalten wir aus ariſtokratiſchen Kreiſen folgende Zuſchrift: Der Krach vom 9. November hat ziemlich viele hochadelige Familien mitgenommen, deren Mitglieder ſich von ſogenannten Bankgeſchäften zu großartigen Börſeſpeculationen hatten verführen laſſen. Sie büßen es um ſo ſchwerer, als Noblesse oblige und die Differenzen ohne Widerrede bezahlt werden; von einem „Ausbleiben“ dieſer hochadeligen Speculanten nach dem Beiſpiele jüdiſcher Jobber iſt keine Rede. Namentlich eine Familie, deren Name edlen ſpaniſchen Klang hat, iſt in Folge rieſiger Differenzen an den Rand des Ruins gerathen. Nicht umſonſt hatte der Familienchef jahrelang freundſchaftliche Be- ziehungen mit dem Chef der größten Gelddynaſtie der Erde gepflogen und letzterer übernimmt nun auf demütiges Bitten des erſteren — gegen gute Sicher- ſtellung — die allmälige Rangirung des hochadeligen Hauſes. Ein anderer Hochadeliger, der ſeit Jahren in Verbindung mit geographiſchen Unternehmungen und nur zuvielen anderen, unvortheilhaften Angelegenheiten genannt wird, hat eine kleinere Differenz zu zahlen, eine halbe Million. Da er und Nachkommenſchaft das Patrimonium ſchon zu ſehr angegriffen haben, wußte ſich der edle Herr diesmal nicht mehr anders zu helfen, als daß er ſeinen alten Freund, den Chef der zweilgrößten Gelddynaſtie (welcher Chef durch ſeine orientaliſchen Raubzüge berüchtigt iſt) — gegen Sicher- ſtellung um ein Darlehen von 500.000 Francs an- bettelte. Es wurde ihm großmüthig gewährt gegen Zuſage von Gegengefälligkeiten. Welcher Natur dieſe ſind, wird gleich nachfolgende Erzählung zeigen. Die fragliche Gelddynaſtie hat unter der verrotteten franzöſiſchen und engliſchen Ariſtokratie längſt feſten Fuß gefaßt, aber der öſterreichiſche Hochadel und Hof blieben für ſie unnahbar. Nun fungirte vor Jahren durch eine ungezählte Reihe von Faſchingen in den höchſten Kreiſen ein äußerſt beliebtes aber ebenſo verſchuldetes Gräflein als Vortänzer. Dieſem ſagte unſer jüdiſcher Milliardär: „Oeffnen Sie mir durch Ihren Einfluß die mir jetzt verſchloſſe- nen hochariſtokratiſchen Thüren, ſo zahle ich Ihnen alle Schulden.“ Denn in dem Geldjuden brannte der Ehrgeiz und außerdem konnte es ja nur im Ge- ſchäft nützen. Wochenlang agitirte und intriguirte das Gräflein, fuhr vom Fürſten X. zur Gräfin Y. und zum ... Herzog Z., endlich mußte er ſeinem Juden- gönner betrübt melden, Alles ſei vergeblich, er könne ihm die Aufnahme in die hochadelige Geſellſchaft Oeſterreichs nicht vermitteln. — Aus der Schulden- zahlung wurde nichts, aber der Milliardär ſchenkte dem Gräflein für ſeine Mühe eine ſchöne Jagdflinte. — Das war anno dazumal. Vielleicht wird der Judenbaron jetzt in Folge des 500.000 fl.-Darlehens die langerſehnte Aufnahme erreichen? Graf Badeni für das böhmiſche Staatsrecht. Der Herr Miniſterpräſident hat bereits die beſte Abſicht, ſich „über die hiſtoriſchen Grundlagen der ſtaatsrechtlichen Aſpirationen der Jungezechen“ ſtreng ſachlich und genau informiren zu laſſen. Zu dieſem Zwecke wurde ein czechiſcher Beamter im Miniſterium des Innern, Bezirkscommiſſär Peter Schlachta, Ritter von und zu Wsſchrtsky Wsſchrd beauftragt, ſich in das Studium der geheimen Archivs-Acten des Miniſteriums zu vertiefen und aus denſelben hervor- zuholen, was am ſogenannten böhmiſchen Staatsrechte Wahres und Nicht Wahres iſt. Veranlaſſung ſoll hiezu ein in der Zeitſchrift „Zeit“ erſchienener Artikel über das höhmiſche Staatsrecht gegeben haben, welcher zwar von dem Reichsraths-Abgeordneten Dr. Kramar ver- faßt wurde, dem Grafen Badeni aber trotz aller neuen Freundſchaft für die Jungczechen nicht objectiv genug erſcheint. Der Herr von Wsſchrtsky-Wsſchrd wird in dieſer Sache zweifellos objectiv ſchreiben. (??) Bezeichnend iſt, daß dieſe Nachricht gerade jetzt auftaucht, wo die böhmiſchen Blätter den unmittelbar bevorſtehenden Rücktritt des Grafen Thun anzeigen und von wichtigen Unterredungen zwiſchen dem Grafen Badeni und jungezechiſchen Abgeordneten zu berichten wiſſen. Man ſieht aus Allem, daß Graf Badeni eifrig um die Gunſt der Jungczechen buhlt — die deutſche Linke wird dies freilich nicht abhalten für den Grafen Badeni auch weiterhin zu ſchwärmen und, wenn er be- fiehlt ſelbſt — für das böhmiſche Staatsrecht zu ſtimmen. Keſſeltreiben gegen den Nuntius. Wir entnehmen dem „Budapeſter Tagblatt“ die folgende intereſſante Wiener Correſpondenz: „Ich weiß nicht, ob Sie bemerkt haben, daß in den letzten Wochen ein förmliches Keſſel- treiben gegen den päpſtlichen Nuntius Mſgr. Agliardi in Scene geſetzt wird. Daß die An- griffe, die auf ihn gerichtet werden, keine zu- fälligen ſind, das geht wohl aus dem Paralle- lismus und aus der Gleichzeitigkeit derſelben hervor. Angefangen hat das Concert in Rom. Dort wußte der „Popolo Romano“, das verbreitetſte Blatt der ewigen Stadt, zu erzählen, daß zwiſchen Oeſterreich- Ungarn und dem Batican eine ernſthafte Spannung beſtehe, an der der Umſtand Schuld trage, daß Mſgr. Agliardi noch nicht abberufen ſei. Gleich darauf wußte ein Berliner Blatt eine große „Intrigue“ zu enthüllen, die von Mſgr. Agliardi angezettelt worden ſei. Es handle ſich darum, den — Dreibund zu ſprengen. Cardinal Rampolla wolle das eigentlich ſelbſt nicht, aber es ſchien, daß der Papſt und ein Erz- herzog ihn dazu drängten! Das eigentliche Werk- zeug ſei Mſgr. Agliardi(!), da aber dieſer ſich nicht vorwagen dürfe, ſo bediene er ſich des Feldbiſchofs Mſgr. Belopotoczky und des Abgeordneten Grafen Sylva-Taroucca. Angeſtrebt werde der Umſturz der dualiſtiſchen Verfaſſung, die ſociale Revolution und natürlich die Sprengung des Drei- bundes. Man wird zugeben, daß das für einmal etwas viel iſt. Aber der Appetit kommt bekanntlich im Eſſen. Dieſer läppiſche Artikel nun circulirt in den meiſten vom Preßbureau abhängigen kleinen Blättern Oeſterreichs und ſcheint auch in einigen mehr ab- hängigen ungariſchen Blättern Eingang gefunden zu haben. Nun wird aber auch mit groben Geſchützen gearbeitet. Man ſchreibt den „Times“ aus Wien, daß zwiſchen Wien und Rom eine ernſte Spannung beſtehe, daß Graf Revertera, unſer Botſchafter beim Vatican, nicht eher nach Rom zurückkehren werde, bevor nicht Mſgr. Agliardi abberufen ſei. Minder diplomatiſch, aber immerhin ehrlicher als ſeine römiſchen und Berliner Collegen, läßt der Wiener Correſpondent der „Times“ die Katze aus dem Sack, indem er erklärt, daß in Bezug auf öſterreichiſche Angelegenheiten zwar auch allerlei Gravamina gegen den Nuntius beſtänden, daß aber „ſelbſtverſtändlich“ die „Ein- miſchung“ des Nuntius in ungariſche Angelegenheiten die Urſache ſei, weshalb ſeine Abberufung verlangt werde. Nachdem die katholiſche Sache in Ungarn „endgiltig geſchlagen“ (»finally defeated«) ſei, ſo habe man die Abberufung als etwas Selbſtverſtändliches erwartet. Daß ſie nicht erfolgt ſei, beſtärke die Ueberzeugung, „daß der Vatican die umſtürzleriſchen Elemente in beiden Hälften der Monarchie beeinfluſſe, um die beſtehenden Be- hörden in Verlegenheit zu bringen!“ Jetzt alſo wiſſen wir es — wenn Socialdemokraten und Agrarſocialiſten irgendwo ſich rühren, ſo kommt das Schlagwort und der Befehl von Rom und das Geld kommt vom Grafen Sylva-Taroucca, der als ein Mann, der eine Million Gulden Jahresrevenue hat, ſozuſagen der ge- borene Alliirte der Communiſten iſt. Das Keſſel- treiben gegen den Nuntius hat einen unzweifel- haft klaren Zweck. Wohin es tendirt, iſt vollkommen klar, intereſſant wäre es nur feſtſtellen zu können, von wo es ausgeht. Denn hier wenigſtens ſchieben die Leute des Grafen Badeni die Ver- antwortung dem Grafen Goluchowski, und die Leute des Grafen Goluchowski hinwiederum die Verantwortung dem Baron Banffy zu. Viel- leicht ſchiebt Baron Banffy dieſelbe wieder auf den Grafen Badeni. Die Frage bleibt alſo offen: Woher? In der nächſten Nummer beſchäftigt ſich das „Budapeſter Tagblatt“ abermals mit dem päpſtlichen Nuntius in Wien und ſchreibt: „Wie man in den Kreiſen der ungariſchen Re- gierungspartei ſehr geheimnißvoll erzählt, ſteht die Reiſe Baron Deſider Banffy’s nach Wien, welche der Miniſterpräſident Ende dieſer Woche antreten will, auch mit der Agliardi- Affaire in Verbindung. Es ſoll wieder eine Interpellation geplant ſein, in welcher Baron Bauffy ſeiner ſattſam bekannten Liebe für den Wiener Nuntius Ausdruck zu geben gedenkt.

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Zitationshilfe: Reichspost. Nr. 283, Wien, 10.12.1895, S. [1]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_reichspost283_1895/1>, abgerufen am 21.11.2024.