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Reichspost. Nr. 495, Wien, 20.10.1913.

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Nr. 495 Wien, Montag Reichspost 20. Oktober 1913.

[Spaltenumbruch]
Die drei Hammerschläge.

Präsident Artaria bat nun den Kaiser, er möge
zum Glück des neuen Hauses die drei Hammerschläge
vornehmen. Der Kaiser stieg hierauf zwei Stufen zu dem
von dem Sängerpodium befindlichen Schlußstein empor,
neben welchen zwei Bauarbeiter in altdeutscher Tracht
standen; Oberbaurat Fellner reichte dem Kaiser den
Hammer, mit dem der Monarch die drei Hammerschläge
ausführte. Auf den Dank des Präsidenten sagte der
Kaiser: "Das habe ich sehr gerne getan."
Unter Leitung des Konzertdirektors Löwe wurde nun
des "Halleluja" von Händel von der Sing-
akademie
und dem Schubertbund gesungen.
Als der ergreifende Chor zu Ende war, sagte der Kaiser
mit lauter Stimme:

"Sie haben sehr schön gesungen, ich danke allen Damen
und Herren für ihre Mitwirkung."

Während dem Kaiser hierauf eine Reihe von
Persönlichkeiten vorgestellt wurde, wurde mit der
Schlußsteinurkunde eine Serie der gegenwärtig im Um-
lauf befindlichen Münzen und je ein Exemplar aller
gestern in Wien erschienenen Tagesblätter eingemauert.

Cercle.

Beim Cercle sprach der Kaiser den Vizepräsidenten
des Konzerthausvereines Dr. Ritter v. Eger mit den
Worten an: "Sie sind ja ein alter Bekannter, es ist
schön, daß Sie hier mitgewirkt haben." Präsident
Dr. Ritter v. Eger erwiderte: "Es war mir eine Ehre,
mich trotz Eisenbahn auch mit diesen Dingen zu be-
fassen," worauf der Kaiser sagte: "Ja schon seit Dumbas
Zeiten." Dr. Ritter v. Eger bemerkte hierauf, das Haupt-
verdienst an dem Zustandekommen dieses Hauses gebührt
unserem Präsidenten Artaria". Zum Oberbaurat Ludwig
Baumann sagte der Kaiser. "Sie arbeiten ja schon
viele Jahre an dem Projekt. -- Oberbaurat Bauman:
"Majestät seit etwa 20 Jahren". -- Der Kaiser: "Ja,
ich weiß es, ich habe Ihr Projekt vor fünf Jahren im
kaufmännischen Vereinshaus gesehen, es freut mich, daß
der Bau jetzt erstanden ist; er ist wunderschön, der
Saal hat sehr schöne Verhältnisse und macht einen sehr
freundlichen und dabei feierlichen Eindruck." Zu Ober-
baurat Hermann Helmer sagte der Kaiser: "Ich
freue mich. Sie wieder zu sehen, Sie bauen ja eigent-
lich nur Theater, ich erinnere mich, daß Sie mich seiner-
zeit durch das Nationaltheater in Budapest geführt
haben. "Dann erkundigte sich der Kaiser über
den Bau der Orgel und als ihm mitgeteilt wurde, daß
es die größte Orgel der Weltsei, sagte
er: "Sie klingt wirklich außerordentlich schön." Dann
sprach der Kaiser die Vorstände vom Männergesangs-
verein und Schubertbund Dr. Krückl und kaiserlicher
Rat Jaksch an.

Nach den Vorstellungen besichtigte der Kaiser den
mittleren und den kleinen Saal des
Konzerthauses.
Er interessierte sich für den
Fassungsraum beider Säle und erkundigte sich, ob die
Säle auch für diese Saison schon gänzlich vergeben sind.
Durch den großen Saal verließ der Kaiser hierauf unter
Hochrufen des Publikums die Festräume, welche sodann
zur Besichtigung für alle Gäste geöffnet wurden. Bei
der Verabschiedung sagte der Kaiser zum Präsidenten
Artaria: "Ich gratuliere Ihnen, es ist hier ein be-
deutendes Werk für Wien geschaffen worden."




Das erste Festkonzert.

Abends begann die rein musikalische Feier
im ersten Festkonzert. Wie schon früher an-
gekündigt wurde, hat Richard Strauß zu dieser
Feier eigens ein Festpräludium für Orchester
und Orgel komponiert. Die Komposition ist auf einem
diatonischen, im C-dur-Dreiklang basierenden Thema
aufgebaut. Das Präludium konnte nicht sonderlich im-
ponieren. Trotz aller versöhnlich wirkenden Feststimmung
wollte es nicht gelingen, die musikalischen Schwächen zu
überhören. Nicht einmal die grandiose Kompositions-
und Orchestertechnik des berühmten Tondichters vermochte
über den empfindlichen Mangel an Erfindnng und
Inspiration hinwegzutäuschen. Merkwürdig, welcher
Wandlungen die Tonsprache Straußens fähig ist. Der
Schöpfer der "Salome" und "Elektra" holt seit neuester
Zeit seine Ausdrucksmittel aus dem Tonmaterial der
vorweberschen Zeit. Von moderner Farbe ist auch nicht
der Schatten mehr vorhanden. Ein fast exzessives
Schwelgen in C-dur, ein gewaltiges Aufgebot an
schmetterndem Blechklang und rasenden Violinen und
Holzbläsern, Anklänge an Beethoven und Weber und
zwar derart unverschleiert, daß man fast an
ein absichtliches Zitieren dieser Tongewaltigen
glauben möchte: Dies ist die Signatur dieses
Komposition. Bleibt an Festcharakter nur noch das
gewaltige Getöse übrig, das wie ein Sturmwind, der
aus tausend Schlunden rast und brüllt, an uns vorüber-
zieht -- Gelegenheitskomposition!

Hier maßen zum ersten Male zwei ebenbürtige
Gegner ihre Kräfte: Orgel und Orchester. Beide von
Natmans souverän taugen schlecht zu einer dienenden
Rolle. Eines muß unterliegen. Hier blieb die Orgel
Siegerin und das Orchester ging unter in den über-
wältigen Tonfluten. Anders, wenn beide Klanggewalten
sich auf musikalischen Höhepunkten zu gemeinsamem
Jubel zusammenschließen. Dann entfaltet sich eine
majestätische Tonfülle von wundersamer Pracht und
erschütternder Kraft. Erst durch Beethovens
Neunte
erhielt das Haus die echte musikalische
Weihe und das Publikum die weihevolle Stimmung.
Die geniale Interpretation Löwes ist bekannt.
Als Mitwirkende waren selbstverständlich nur erste
Kräfte gewonnen worden: Aaltje Noordewier-
[Spaltenumbruch] Reddingius, Adrienne v. Kraus-
Osborne, Leo Slezak,
Dr. Felix von
Kraus, Rudolf Dittrich,
die Sing-
akademie,
der Schubertbund, das Konzert-
vereinsorchester.

Professor Dittrich spielte zwischen dem Prälu-
dium und der "Neunten" in seiner vornehm künstlerischen
Weise die G-moll-Phantasie von J. S. Sach und
durfte sich für einen warmen Beifall bedanken. Die
Orgel entfaltete hier zum ersten Male ihre ganze Ton-
fülle und Klangpracht.

Die akustische Prüfung hat der Saal gut
bestanden. Sehr erfreulich, wenn man bedenkt, daß die
Akustik eines Baues noch ein ganz dunkles Gebiet ist
und fast ganz vom Zufall abhängt. Ein kleiner Nach-
hall war zwar zu konstatieren, doch machte er sich nur
im Fortissimo unangenehm bemerkbar, wo durch den
Nachhall die Konturen verschwammen. Einige Wand-
teppiche würden hier Wunder wirken. Das Pianissimo
klang zauberhaft schön.

Wenn die Wiener Orchester endlich einmal sich für
die Normalstimmung entschließen könnten, dann wären
Stimmungsdifferenzen, wie sie zwischen Orchester und
Orgel zutage traten, unmöglich.




Zwei Vergiftungstragödien.

Versuchter Selbstmord durch Leucht-
gaseinatmen. -- Zwei Opfer eines Lei-
tungsgebrechens?

In dem auf den Schmelzgründen neuerbauten
Hause Oeverseestraße Nr. 49 wohnt der Metallwaren-
erzeuger Hrdlicka mit seiner aus der Gattin, der 28jäh-
rigen Helene Hrdlicka und zwei Kindern Wilhelm, vier
Jahre alt und Helene, zwei Jahre alt, bestehenden
Familie. Die anfänglich glückliche Ehe schien in
der letzten Zeit getrübt, da Frau Hrdlicka sich
von Verwandten zurückgesetzt und verfolgt
glaubte. Als nun am 18. d. abends Herr Hrdlicka in
seine im ersten Stocke gelegene Wohnung heimkehrte,
schlug ihm beim Oeffnen der Türe penetranter Leucht-
gasgeruch entgegen. Herr Hrdlicka eilte ins Zimmer und
fand zu seinem Entsetzen seine Gattin und neben ihr die
beiden Kinder im Bette liegend und anscheinend be-
sinnungslos auf. Er öffnete sofort die Fenster und ließ
frische Luft herein. Dann schloß er rasch den Hahn des
Gasrechauds in der an das Zimmer grenzenden Küche,
den er offen gefunden hatte. Unter der Einwirkung der
frischen Luft erholten sich Frau und Kinder alsbald, und
die Rettungsgesellschaft, die rasch berufen wurde, konnte
Mutter und Kinder, nachdem ihnen Hilfe geleistet wor-
den war, in häuslicher Pflege belassen. Nach ihrer eige-
nen Aussage hat Frau Hrdlicka den Hahn des Gas-
rechauds absichtlich geöffnet, um mit ihren Kindern den
Tod durch Einatmen von Leuchtgas zu finden. Sie ließ
deshalb auch die von der Küche ins Zimmer führende
Tür offen. Als Grund der Tat gab sie an, daß sie selbst
wegen der Zerwürfnisse und wegen der Verfolgungen
durch Verwandte sterben wollte und es nicht über sich
brachte, die kleinen Kinder, an denen sie so sehr hing,
allein in der Welt zurückzulassen. Man neigt zur Auf-
fassung hin, daß Frau Hrdlicka durch den vermeintlichen
Selbstmordversuch und den Mordversuch an den Kin-
dern nur auf ihre Umgebung einwirken wollte. Sie
wußte genau, daß der Gatte um die Zeit nach Hause
kommen mußte und durch die rasche Auffindung eine
Lebensgefahr so gut wie ausgeschlossen war. Das Polizei-
kommissariat wurde verständigt und hat zur Klarstellung
des Sachverhaltes eine Untersuchung eingeleitet.

Bei der zweiten Vergiftungsaffäre handelt es sich
offenbar um einen unglücklichen Zufall. Der Schauplatz
war das Haus Rudolfsheim, Hollochergasse 21. In
diesem Hause hat die 35jährige Kunststickerin Vinzenzia
Jetelina Atelier und Wohnung. Frau Jetelina ist
zum zweiten Male verheiratet und hat in die zweite Ehe
einen Sohn mitgebracht. Der zweiten Ehe entstammte
ein Knabe, der jetzt achtjährige Fritz Jetelina. Herr
Jetelina selbst ist eben auf einer Geschäftstour be-
griffen. Die Frau war in der letzten Zeit leidend und
bettlägerig. In dieser Zeit pflegte ihr Sohn aus erster
Ehe immer zeitlich früh aufzustehen und das Frühstück
zuzubreiten. Frau Jetelina schlief mit ihrem jüngeren
Sohne Fritz im Schlafzimmer, der ältere Knabe in
einem Zimmer nebenan.

Gestern früh erhob er sich wie immer und bereitete
das Frühstück. Als er dann mit dem Kaffee ins Zimmer
zu seiner Mutter kam, fand er es ganz mit Leuchtgas
erfüllt. Er rief Mutter und Bruder an und bekam
keine Antwort. Er sah beide leblos in den Betten liegen.
Der Junge rief um Hilfe. Nachbarn kamen und öffneten
die Fenster. Man berief die Rettungsgesellschaft. Der
Arzt der Filiale fand Frau Jetelina und ihren jüngeren
Sohn schontot auf. Der Tod muß mehrere
Stunden vor Auffindung der Leichen eingetreten sein,
da die beiden Leichen schon die Zeichen der Totenstarre
zeigten. Neben dem Bette standen zwei Schalen mit Tee-
resten. Frau und Sohn hatten vor dem Schlafengehen
Tee genossen. Der Gashahn stand im Zimmer offen, und
während der ganzen Nacht ist Leuchtgas ausgeströmt.
Alle Anzeichen lassen vermuten, daß es sich nicht um
Mord und Selbstmord, sondern um einen unglücklichen
Zufall handelt. Das Polizeikommissariat Schmelz wurde
von dem Vorfall in Kenntnis gesetzt und hat eine Unter-
suchung eingeleitet.

Von anderer Seite wird gemeldet: Vinzenzia Jete-
lina lebte gemeinsam mit dem 50jährigen Kunststicker-
meister Anton Müller. Sie haben eine aus zwei Zim-
mern, einem Kabinett, Vorzimmer und Küche bestehende
[Spaltenumbruch] Wohnung inne. Ein Zimmer ist als Werkstätte einge-
richtet. Der ältere Sohn ist der 13jährige Alois Müller,
ehelicher Sohn aus der ersten Ehe Müllers. Das Kind,
das den Tod fand, ist der Sohn der Jetelina und befand
sich dort in Pflege. Vinzenzia Jetelina und ihr eigener
Sohn waren am 18. d. zeitlich zu Bette gegangen,
während Müller ein Gasthaus aufsuchte. Die Gasflam-
men im Vorzimmer und im Schlafzimmer ließ Frau
Jetelina wie immer bis zur Heimkehr Müllers brennen.
Als nun gestern früh Alois Müller, der im Kabinette
neben dem Zimmer schlief, seine Stiefmutter und ihren
Sohn wecken wollte, um ihnen das von ihm bereitete
Frühstück zu bringen, fand er beide tot. Die Gasflamme
brannte noch. Anton Müller kam erst eine Stunde nach
der Auffindung der Leichen um 8 Uhr früh heim. Nach
den Erhebungen dürfte das Gas infolge eines vorhande-
nen Leitungsgebrechens ausgeströmt sein. Für die
Wahrscheinlichkeit eines Selbstmordes liegen keine An-
haltspunkte vor.




Der Fünfhauser Volkswahlverein
"Dr. Karl Lueger"

hatte für Do[nn]erstag den 16. Oktober in den Saale des Gast-
hauses "Zur Kohlenkreunze", Fünfhausgasse 16, eine Wähler-
versammlung einberuf[e]n, die einen massenhaften Besuch auf-
wies. Obmannstellvertreter Stadler v. Wolffersgrün
begrüßte zunächst die zahlreich erschienenen Anwesenden, darunter
LA. Nepustil, Stadtrat Schreiner, die Gemeinderäte
Proschek und Vaugoin, Bezirksvorsteherstellvertreter
Baumgartner, die Bezirksräte Maronek, Metschel, Perner,
Weinheimer, Zeckl, Wimmer (Brigittenau), die Armenräte
Kinzel, Mück, Petruschka, Liebwein, Obmann des Leopoldstädter
Volkswahlvereines "Dr. Karl Lueger" Krippner, Wanderlehrer
Erwin Kleiser u. v. a.

LA. Nepustil erörterte zunächst die großen Befreiungs-
kriege vor hundert Jahren und folgerte daraus die Notwendig-
keit der Einigkeit, Ueberlegenheit und Stoßkraft des deutschen
Volkes. Diese haben sich auch bei der Leopoldstädter Wahl er-
wiesen. (Beifall). Aus der Unfähigkeit des Parlamentes der
Junisieger habe sich auch ein Stimmungsumschwung ergeben und
die ehrlichen Wiener Deutschnationalen haben endlich gefunden,
daß wir zusammen groß und stark sind. (Lebhafter Beifall und
Bravo!-Rufe.) Die Landesfinanzen, fuhr Redner fort, sind
aktiv. Wir haben schöne Sachen geschaffen. Pflicht des Staates
wäre es, für eine geordnete Spitalspflege zu sorgen. Obwohl
im Finanzkontrollausschuß neben anderen der Partei nicht an-
gehörigen Abgeordneten auch Abg. Seitz sitzt, heißt es jetzt
wieder, die Kontrolle sei ungenügend. Die Sozialdemokraten
haben zu uns kein Vertrauen, wir aber haben zu ihnen auch
keines. (Zustimmung.) Redner verwies schließlich auf die große
Beamtenfürsorge der Gemeinde Wien und der christlichsozialen
Partei und schloß mit den Worten: Wir bleiben christlich und
deutsch und wollen nicht schwächliche Nachkommen unserer Groß-
väter werden, die vor 100 Jahren auf Leipzigs Gefilden die
Ehre des deutschen Volkes gerettet haben. (Bravo!-Rufe und
lebhafter Beifall.)

BR. Rechnungsrat Maronek feierte die Auferstehung der
Partei. Die Höhenluft der Ministerfauteuils, sagte er, hat
unserer Partei nicht wohl getan. Und es geht uns jetzt besser.
Er widerlegte dann das Schlagwort von der Bildungsfeind-
lichkeit der Christlichsozialen und schilderte die christlichsoziale
Gewerbefürsorge. Von den Junisiegern und den Sozialdemo-
kraten haben die Gewerbetreibenden noch keinen Knochen erhalten.
Der Sozialdemokratie entgegenzutreten, ist die vornehmste und
wichtigste Aufgabe unserer Partei. Was wir brauchen, um dem
Gewerbestand und der Bevölkerung entgegenzukommen, ist eine
Gesundung unserer parlamentarischen Verhältnisse. Der Tummel-
platz der wildesten Agitation, des ödesten und fruchtlosesten
nationalen Kampfes muß gereinigt werden. Nur auf der
Grundlage christlicher Weltanschauung kann eine Gesundung
unserer wirtschaftlichen Verhältnisse herbeigeführt werden. Es
sollten vernünftige Handelsverträge durchgeführt werden, die
es der Großindustrie ermöglichen, ein Ventil zu
finden, durch das sie ihre Waren an den aus-
ländischen Markt absetzen kann, so daß der inländische
Markt frei würde für die Erzeugnisse der kleinen und mittleren
Betriebe. (Lebhafter Beifall.)

GR. Vaugoin besprach an Stelle des verhinderten
LAbg. Breuer unter begeisterten Hoch Mataja !-Rufen den
Wahlsieg in der Leopoldstadt. Es war ein Riesenkampf zwischen
christlich-deutscher Weltanschauung und internationaler, anti-
christlicher-jüdischer Weltanschauung. Wir haben am Dienstag
gesehen, daß der Vorsteher der Leopoldstadt nicht mehr in der libe-
ralen Partei zu suchen ist: Bezirksvorsteher in der Leopoldstadt ist
laut Volksverdikt die christlichsoziale Partei geworden.
Man hat dem Blasel etwas geblasen! (Heiterkeit.) Wir dürfen
aber trotz unseres Sieges in der Arbeit nicht lax werden, nun-
mehr beginnt erst recht unsere Tätigkeit: die Organi-
sation.
Wenn wir mit unserem herrlichen Programm die
Organisation vereinigen, kann uns kein Teufel mehr aus
Wien herausbringen! (Lebhafter Beifall.) Redner besprach
nun die einzelnen Schöpfungen der Gemeinde Wien. Es werden
zum Beispiel die Elektrizitätswerke der Gemeinde Wien durch das
Zillingsdorfer Kohlenberg werk auf 80 bis 100
Jahre versorgt; das bedeutet die Unabhängigkeit der Gemeinde Wien
von den Kohlenwucherern auf 8 bis 10 Jahrzehnte! Die Gemein-
Wien kam ferner aus diesem Bergwerk für ihren ganzen Be-
darf, für alle Bauten die Ziegel beziehen. Das Erbbau-
recht
wird außerordentlich erfolgreich wirken. Dieses Recht
hat die Gemeinde Wien auf ihren Gründen eingeführt, es wird
gewöhnlich auf 70 bis 80 Jahre abgeschlossen. Damit soll der
Wohnungsnot abgeholfen werden und wir wollen dem
bodenständigen Geschäfts- und Gewerbsmann die Möglichkeit
bieten, auch ohne Geld sich in Wien fest anzusiedeln. Die Zinse
dürfen durch die erwähnte Zeit nicht erhöht werden! (Lebhafte
Bravorufe.) Unsere erste Aufgabe als Gemeindeverwaltung muß
es sein, gerade den Gewerbe- und Mittelstand zu erhalten und
zu kräftigen.

Unser Schwert ist die christliche deutsche Presse!
Auf diesem Gebiete sind wir nicht stark genug. Beinahe 90%
der Zeitungen sind in jüdischen Händen, obwohl die Juden in
Wien kaum 10% der Bevölkerung bilden. Heute muß es hier
gesagt werden: Sei bedankt du fleißige, brave, begeisterte,
christliche deutsche Presse für die Arbeit, die du uns in dieser
Wahlschlacht geleistet hast. (Stürmische Bravorufe. -- Lang-
anhaltende[r] Beifall. -- Lebhafte Rufe: Hoch "Reichspost"!)
Nicht mit leeren Worten wollen wir den Dank abstatten, sondern
dadurch, daß wir christlich-deutsche Wiener uns alle von heute
an geloben: Als Deutsche und Christen wollen wir unsere
Presse stärken und kräftigen,
deswegen, weil
dieses unser Schwert nicht scharf genug sein kann für die
schweren Kämpfe, die uns noch bevorstehen. Vor allem muß
der christlichsoziale Mandatar in diesem Belange mit
bestem Beispiel vorangehen. Es darf nicht mehr vorkommen,
daß deutsche Mandatare in Judenzeitungen ihre Geistes-
produkte ablagern. Nur eine Devise muß gelten: Hinaus
mit dem papierenen Juden! Herein mit der christlichen
Zeitung! (Lebhafter Beifall). Auch Fünfhaus wird von einem
internationalen Sozialdemokraten vertreten. Ist das notwendig?

Nr. 495 Wien, Montag Reichspoſt 20. Oktober 1913.

[Spaltenumbruch]
Die drei Hammerſchläge.

Präſident Artaria bat nun den Kaiſer, er möge
zum Glück des neuen Hauſes die drei Hammerſchläge
vornehmen. Der Kaiſer ſtieg hierauf zwei Stufen zu dem
von dem Sängerpodium befindlichen Schlußſtein empor,
neben welchen zwei Bauarbeiter in altdeutſcher Tracht
ſtanden; Oberbaurat Fellner reichte dem Kaiſer den
Hammer, mit dem der Monarch die drei Hammerſchläge
ausführte. Auf den Dank des Präſidenten ſagte der
Kaiſer: „Das habe ich ſehr gerne getan.“
Unter Leitung des Konzertdirektors Löwe wurde nun
des „Halleluja“ von Händel von der Sing-
akademie
und dem Schubertbund geſungen.
Als der ergreifende Chor zu Ende war, ſagte der Kaiſer
mit lauter Stimme:

„Sie haben ſehr ſchön geſungen, ich danke allen Damen
und Herren für ihre Mitwirkung.“

Während dem Kaiſer hierauf eine Reihe von
Perſönlichkeiten vorgeſtellt wurde, wurde mit der
Schlußſteinurkunde eine Serie der gegenwärtig im Um-
lauf befindlichen Münzen und je ein Exemplar aller
geſtern in Wien erſchienenen Tagesblätter eingemauert.

Cercle.

Beim Cercle ſprach der Kaiſer den Vizepräſidenten
des Konzerthausvereines Dr. Ritter v. Eger mit den
Worten an: „Sie ſind ja ein alter Bekannter, es iſt
ſchön, daß Sie hier mitgewirkt haben.“ Präſident
Dr. Ritter v. Eger erwiderte: „Es war mir eine Ehre,
mich trotz Eiſenbahn auch mit dieſen Dingen zu be-
faſſen,“ worauf der Kaiſer ſagte: „Ja ſchon ſeit Dumbas
Zeiten.“ Dr. Ritter v. Eger bemerkte hierauf, das Haupt-
verdienſt an dem Zuſtandekommen dieſes Hauſes gebührt
unſerem Präſidenten Artaria“. Zum Oberbaurat Ludwig
Baumann ſagte der Kaiſer. „Sie arbeiten ja ſchon
viele Jahre an dem Projekt. — Oberbaurat Bauman:
„Majeſtät ſeit etwa 20 Jahren“. — Der Kaiſer: „Ja,
ich weiß es, ich habe Ihr Projekt vor fünf Jahren im
kaufmänniſchen Vereinshaus geſehen, es freut mich, daß
der Bau jetzt erſtanden iſt; er iſt wunderſchön, der
Saal hat ſehr ſchöne Verhältniſſe und macht einen ſehr
freundlichen und dabei feierlichen Eindruck.“ Zu Ober-
baurat Hermann Helmer ſagte der Kaiſer: „Ich
freue mich. Sie wieder zu ſehen, Sie bauen ja eigent-
lich nur Theater, ich erinnere mich, daß Sie mich ſeiner-
zeit durch das Nationaltheater in Budapeſt geführt
haben. „Dann erkundigte ſich der Kaiſer über
den Bau der Orgel und als ihm mitgeteilt wurde, daß
es die größte Orgel der Weltſei, ſagte
er: „Sie klingt wirklich außerordentlich ſchön.“ Dann
ſprach der Kaiſer die Vorſtände vom Männergeſangs-
verein und Schubertbund Dr. Krückl und kaiſerlicher
Rat Jakſch an.

Nach den Vorſtellungen beſichtigte der Kaiſer den
mittleren und den kleinen Saal des
Konzerthauſes.
Er intereſſierte ſich für den
Faſſungsraum beider Säle und erkundigte ſich, ob die
Säle auch für dieſe Saiſon ſchon gänzlich vergeben ſind.
Durch den großen Saal verließ der Kaiſer hierauf unter
Hochrufen des Publikums die Feſträume, welche ſodann
zur Beſichtigung für alle Gäſte geöffnet wurden. Bei
der Verabſchiedung ſagte der Kaiſer zum Präſidenten
Artaria: „Ich gratuliere Ihnen, es iſt hier ein be-
deutendes Werk für Wien geſchaffen worden.“




Das erſte Feſtkonzert.

Abends begann die rein muſikaliſche Feier
im erſten Feſtkonzert. Wie ſchon früher an-
gekündigt wurde, hat Richard Strauß zu dieſer
Feier eigens ein Feſtpräludium für Orcheſter
und Orgel komponiert. Die Kompoſition iſt auf einem
diatoniſchen, im C-dur-Dreiklang baſierenden Thema
aufgebaut. Das Präludium konnte nicht ſonderlich im-
ponieren. Trotz aller verſöhnlich wirkenden Feſtſtimmung
wollte es nicht gelingen, die muſikaliſchen Schwächen zu
überhören. Nicht einmal die grandioſe Kompoſitions-
und Orcheſtertechnik des berühmten Tondichters vermochte
über den empfindlichen Mangel an Erfindnng und
Inſpiration hinwegzutäuſchen. Merkwürdig, welcher
Wandlungen die Tonſprache Straußens fähig iſt. Der
Schöpfer der „Salome“ und „Elektra“ holt ſeit neueſter
Zeit ſeine Ausdrucksmittel aus dem Tonmaterial der
vorweberſchen Zeit. Von moderner Farbe iſt auch nicht
der Schatten mehr vorhanden. Ein faſt exzeſſives
Schwelgen in C-dur, ein gewaltiges Aufgebot an
ſchmetterndem Blechklang und raſenden Violinen und
Holzbläſern, Anklänge an Beethoven und Weber und
zwar derart unverſchleiert, daß man faſt an
ein abſichtliches Zitieren dieſer Tongewaltigen
glauben möchte: Dies iſt die Signatur dieſes
Kompoſition. Bleibt an Feſtcharakter nur noch das
gewaltige Getöſe übrig, das wie ein Sturmwind, der
aus tauſend Schlunden raſt und brüllt, an uns vorüber-
zieht — Gelegenheitskompoſition!

Hier maßen zum erſten Male zwei ebenbürtige
Gegner ihre Kräfte: Orgel und Orcheſter. Beide von
Natmans ſouverän taugen ſchlecht zu einer dienenden
Rolle. Eines muß unterliegen. Hier blieb die Orgel
Siegerin und das Orcheſter ging unter in den über-
wältigen Tonfluten. Anders, wenn beide Klanggewalten
ſich auf muſikaliſchen Höhepunkten zu gemeinſamem
Jubel zuſammenſchließen. Dann entfaltet ſich eine
majeſtätiſche Tonfülle von wunderſamer Pracht und
erſchütternder Kraft. Erſt durch Beethovens
Neunte
erhielt das Haus die echte muſikaliſche
Weihe und das Publikum die weihevolle Stimmung.
Die geniale Interpretation Löwes iſt bekannt.
Als Mitwirkende waren ſelbſtverſtändlich nur erſte
Kräfte gewonnen worden: Aaltje Noordewier-
[Spaltenumbruch] Reddingius, Adrienne v. Kraus-
Osborne, Leo Slezak,
Dr. Felix von
Kraus, Rudolf Dittrich,
die Sing-
akademie,
der Schubertbund, das Konzert-
vereinsorcheſter.

Profeſſor Dittrich ſpielte zwiſchen dem Prälu-
dium und der „Neunten“ in ſeiner vornehm künſtleriſchen
Weiſe die G-moll-Phantaſie von J. S. Sach und
durfte ſich für einen warmen Beifall bedanken. Die
Orgel entfaltete hier zum erſten Male ihre ganze Ton-
fülle und Klangpracht.

Die akuſtiſche Prüfung hat der Saal gut
beſtanden. Sehr erfreulich, wenn man bedenkt, daß die
Akuſtik eines Baues noch ein ganz dunkles Gebiet iſt
und faſt ganz vom Zufall abhängt. Ein kleiner Nach-
hall war zwar zu konſtatieren, doch machte er ſich nur
im Fortiſſimo unangenehm bemerkbar, wo durch den
Nachhall die Konturen verſchwammen. Einige Wand-
teppiche würden hier Wunder wirken. Das Pianiſſimo
klang zauberhaft ſchön.

Wenn die Wiener Orcheſter endlich einmal ſich für
die Normalſtimmung entſchließen könnten, dann wären
Stimmungsdifferenzen, wie ſie zwiſchen Orcheſter und
Orgel zutage traten, unmöglich.




Zwei Vergiftungstragödien.

Verſuchter Selbſtmord durch Leucht-
gaseinatmen. — Zwei Opfer eines Lei-
tungsgebrechens?

In dem auf den Schmelzgründen neuerbauten
Hauſe Oeverſeeſtraße Nr. 49 wohnt der Metallwaren-
erzeuger Hrdlicka mit ſeiner aus der Gattin, der 28jäh-
rigen Helene Hrdlicka und zwei Kindern Wilhelm, vier
Jahre alt und Helene, zwei Jahre alt, beſtehenden
Familie. Die anfänglich glückliche Ehe ſchien in
der letzten Zeit getrübt, da Frau Hrdlicka ſich
von Verwandten zurückgeſetzt und verfolgt
glaubte. Als nun am 18. d. abends Herr Hrdlicka in
ſeine im erſten Stocke gelegene Wohnung heimkehrte,
ſchlug ihm beim Oeffnen der Türe penetranter Leucht-
gasgeruch entgegen. Herr Hrdlicka eilte ins Zimmer und
fand zu ſeinem Entſetzen ſeine Gattin und neben ihr die
beiden Kinder im Bette liegend und anſcheinend be-
ſinnungslos auf. Er öffnete ſofort die Fenſter und ließ
friſche Luft herein. Dann ſchloß er raſch den Hahn des
Gasrechauds in der an das Zimmer grenzenden Küche,
den er offen gefunden hatte. Unter der Einwirkung der
friſchen Luft erholten ſich Frau und Kinder alsbald, und
die Rettungsgeſellſchaft, die raſch berufen wurde, konnte
Mutter und Kinder, nachdem ihnen Hilfe geleiſtet wor-
den war, in häuslicher Pflege belaſſen. Nach ihrer eige-
nen Ausſage hat Frau Hrdlicka den Hahn des Gas-
rechauds abſichtlich geöffnet, um mit ihren Kindern den
Tod durch Einatmen von Leuchtgas zu finden. Sie ließ
deshalb auch die von der Küche ins Zimmer führende
Tür offen. Als Grund der Tat gab ſie an, daß ſie ſelbſt
wegen der Zerwürfniſſe und wegen der Verfolgungen
durch Verwandte ſterben wollte und es nicht über ſich
brachte, die kleinen Kinder, an denen ſie ſo ſehr hing,
allein in der Welt zurückzulaſſen. Man neigt zur Auf-
faſſung hin, daß Frau Hrdlicka durch den vermeintlichen
Selbſtmordverſuch und den Mordverſuch an den Kin-
dern nur auf ihre Umgebung einwirken wollte. Sie
wußte genau, daß der Gatte um die Zeit nach Hauſe
kommen mußte und durch die raſche Auffindung eine
Lebensgefahr ſo gut wie ausgeſchloſſen war. Das Polizei-
kommiſſariat wurde verſtändigt und hat zur Klarſtellung
des Sachverhaltes eine Unterſuchung eingeleitet.

Bei der zweiten Vergiftungsaffäre handelt es ſich
offenbar um einen unglücklichen Zufall. Der Schauplatz
war das Haus Rudolfsheim, Hollochergaſſe 21. In
dieſem Hauſe hat die 35jährige Kunſtſtickerin Vinzenzia
Jetelina Atelier und Wohnung. Frau Jetelina iſt
zum zweiten Male verheiratet und hat in die zweite Ehe
einen Sohn mitgebracht. Der zweiten Ehe entſtammte
ein Knabe, der jetzt achtjährige Fritz Jetelina. Herr
Jetelina ſelbſt iſt eben auf einer Geſchäftstour be-
griffen. Die Frau war in der letzten Zeit leidend und
bettlägerig. In dieſer Zeit pflegte ihr Sohn aus erſter
Ehe immer zeitlich früh aufzuſtehen und das Frühſtück
zuzubreiten. Frau Jetelina ſchlief mit ihrem jüngeren
Sohne Fritz im Schlafzimmer, der ältere Knabe in
einem Zimmer nebenan.

Geſtern früh erhob er ſich wie immer und bereitete
das Frühſtück. Als er dann mit dem Kaffee ins Zimmer
zu ſeiner Mutter kam, fand er es ganz mit Leuchtgas
erfüllt. Er rief Mutter und Bruder an und bekam
keine Antwort. Er ſah beide leblos in den Betten liegen.
Der Junge rief um Hilfe. Nachbarn kamen und öffneten
die Fenſter. Man berief die Rettungsgeſellſchaft. Der
Arzt der Filiale fand Frau Jetelina und ihren jüngeren
Sohn ſchontot auf. Der Tod muß mehrere
Stunden vor Auffindung der Leichen eingetreten ſein,
da die beiden Leichen ſchon die Zeichen der Totenſtarre
zeigten. Neben dem Bette ſtanden zwei Schalen mit Tee-
reſten. Frau und Sohn hatten vor dem Schlafengehen
Tee genoſſen. Der Gashahn ſtand im Zimmer offen, und
während der ganzen Nacht iſt Leuchtgas ausgeſtrömt.
Alle Anzeichen laſſen vermuten, daß es ſich nicht um
Mord und Selbſtmord, ſondern um einen unglücklichen
Zufall handelt. Das Polizeikommiſſariat Schmelz wurde
von dem Vorfall in Kenntnis geſetzt und hat eine Unter-
ſuchung eingeleitet.

Von anderer Seite wird gemeldet: Vinzenzia Jete-
lina lebte gemeinſam mit dem 50jährigen Kunſtſticker-
meiſter Anton Müller. Sie haben eine aus zwei Zim-
mern, einem Kabinett, Vorzimmer und Küche beſtehende
[Spaltenumbruch] Wohnung inne. Ein Zimmer iſt als Werkſtätte einge-
richtet. Der ältere Sohn iſt der 13jährige Alois Müller,
ehelicher Sohn aus der erſten Ehe Müllers. Das Kind,
das den Tod fand, iſt der Sohn der Jetelina und befand
ſich dort in Pflege. Vinzenzia Jetelina und ihr eigener
Sohn waren am 18. d. zeitlich zu Bette gegangen,
während Müller ein Gaſthaus aufſuchte. Die Gasflam-
men im Vorzimmer und im Schlafzimmer ließ Frau
Jetelina wie immer bis zur Heimkehr Müllers brennen.
Als nun geſtern früh Alois Müller, der im Kabinette
neben dem Zimmer ſchlief, ſeine Stiefmutter und ihren
Sohn wecken wollte, um ihnen das von ihm bereitete
Frühſtück zu bringen, fand er beide tot. Die Gasflamme
brannte noch. Anton Müller kam erſt eine Stunde nach
der Auffindung der Leichen um 8 Uhr früh heim. Nach
den Erhebungen dürfte das Gas infolge eines vorhande-
nen Leitungsgebrechens ausgeſtrömt ſein. Für die
Wahrſcheinlichkeit eines Selbſtmordes liegen keine An-
haltspunkte vor.




Der Fünfhauſer Volkswahlverein
„Dr. Karl Lueger“

hatte für Do[nn]erstag den 16. Oktober in den Saale des Gaſt-
hauſes „Zur Kohlenkreunze“, Fünfhausgaſſe 16, eine Wähler-
verſammlung einberuf[e]n, die einen maſſenhaften Beſuch auf-
wies. Obmannſtellvertreter Stadler v. Wolffersgrün
begrüßte zunächſt die zahlreich erſchienenen Anweſenden, darunter
LA. Nepuſtil, Stadtrat Schreiner, die Gemeinderäte
Proſchek und Vaugoin, Bezirksvorſteherſtellvertreter
Baumgartner, die Bezirksräte Maronek, Metſchel, Perner,
Weinheimer, Zeckl, Wimmer (Brigittenau), die Armenräte
Kinzel, Mück, Petruſchka, Liebwein, Obmann des Leopoldſtädter
Volkswahlvereines „Dr. Karl Lueger“ Krippner, Wanderlehrer
Erwin Kleiſer u. v. a.

LA. Nepuſtil erörterte zunächſt die großen Befreiungs-
kriege vor hundert Jahren und folgerte daraus die Notwendig-
keit der Einigkeit, Ueberlegenheit und Stoßkraft des deutſchen
Volkes. Dieſe haben ſich auch bei der Leopoldſtädter Wahl er-
wieſen. (Beifall). Aus der Unfähigkeit des Parlamentes der
Juniſieger habe ſich auch ein Stimmungsumſchwung ergeben und
die ehrlichen Wiener Deutſchnationalen haben endlich gefunden,
daß wir zuſammen groß und ſtark ſind. (Lebhafter Beifall und
Bravo!-Rufe.) Die Landesfinanzen, fuhr Redner fort, ſind
aktiv. Wir haben ſchöne Sachen geſchaffen. Pflicht des Staates
wäre es, für eine geordnete Spitalspflege zu ſorgen. Obwohl
im Finanzkontrollausſchuß neben anderen der Partei nicht an-
gehörigen Abgeordneten auch Abg. Seitz ſitzt, heißt es jetzt
wieder, die Kontrolle ſei ungenügend. Die Sozialdemokraten
haben zu uns kein Vertrauen, wir aber haben zu ihnen auch
keines. (Zuſtimmung.) Redner verwies ſchließlich auf die große
Beamtenfürſorge der Gemeinde Wien und der chriſtlichſozialen
Partei und ſchloß mit den Worten: Wir bleiben chriſtlich und
deutſch und wollen nicht ſchwächliche Nachkommen unſerer Groß-
väter werden, die vor 100 Jahren auf Leipzigs Gefilden die
Ehre des deutſchen Volkes gerettet haben. (Bravo!-Rufe und
lebhafter Beifall.)

BR. Rechnungsrat Maronek feierte die Auferſtehung der
Partei. Die Höhenluft der Miniſterfauteuils, ſagte er, hat
unſerer Partei nicht wohl getan. Und es geht uns jetzt beſſer.
Er widerlegte dann das Schlagwort von der Bildungsfeind-
lichkeit der Chriſtlichſozialen und ſchilderte die chriſtlichſoziale
Gewerbefürſorge. Von den Juniſiegern und den Sozialdemo-
kraten haben die Gewerbetreibenden noch keinen Knochen erhalten.
Der Sozialdemokratie entgegenzutreten, iſt die vornehmſte und
wichtigſte Aufgabe unſerer Partei. Was wir brauchen, um dem
Gewerbeſtand und der Bevölkerung entgegenzukommen, iſt eine
Geſundung unſerer parlamentariſchen Verhältniſſe. Der Tummel-
platz der wildeſten Agitation, des ödeſten und fruchtloſeſten
nationalen Kampfes muß gereinigt werden. Nur auf der
Grundlage chriſtlicher Weltanſchauung kann eine Geſundung
unſerer wirtſchaftlichen Verhältniſſe herbeigeführt werden. Es
ſollten vernünftige Handelsverträge durchgeführt werden, die
es der Großinduſtrie ermöglichen, ein Ventil zu
finden, durch das ſie ihre Waren an den aus-
ländiſchen Markt abſetzen kann, ſo daß der inländiſche
Markt frei würde für die Erzeugniſſe der kleinen und mittleren
Betriebe. (Lebhafter Beifall.)

GR. Vaugoin beſprach an Stelle des verhinderten
LAbg. Breuer unter begeiſterten Hoch Mataja !-Rufen den
Wahlſieg in der Leopoldſtadt. Es war ein Rieſenkampf zwiſchen
chriſtlich-deutſcher Weltanſchauung und internationaler, anti-
chriſtlicher-jüdiſcher Weltanſchauung. Wir haben am Dienstag
geſehen, daß der Vorſteher der Leopoldſtadt nicht mehr in der libe-
ralen Partei zu ſuchen iſt: Bezirksvorſteher in der Leopoldſtadt iſt
laut Volksverdikt die chriſtlichſoziale Partei geworden.
Man hat dem Blaſel etwas geblaſen! (Heiterkeit.) Wir dürfen
aber trotz unſeres Sieges in der Arbeit nicht lax werden, nun-
mehr beginnt erſt recht unſere Tätigkeit: die Organi-
ſation.
Wenn wir mit unſerem herrlichen Programm die
Organiſation vereinigen, kann uns kein Teufel mehr aus
Wien herausbringen! (Lebhafter Beifall.) Redner beſprach
nun die einzelnen Schöpfungen der Gemeinde Wien. Es werden
zum Beiſpiel die Elektrizitätswerke der Gemeinde Wien durch das
Zillingsdorfer Kohlenberg werk auf 80 bis 100
Jahre verſorgt; das bedeutet die Unabhängigkeit der Gemeinde Wien
von den Kohlenwucherern auf 8 bis 10 Jahrzehnte! Die Gemein-
Wien kam ferner aus dieſem Bergwerk für ihren ganzen Be-
darf, für alle Bauten die Ziegel beziehen. Das Erbbau-
recht
wird außerordentlich erfolgreich wirken. Dieſes Recht
hat die Gemeinde Wien auf ihren Gründen eingeführt, es wird
gewöhnlich auf 70 bis 80 Jahre abgeſchloſſen. Damit ſoll der
Wohnungsnot abgeholfen werden und wir wollen dem
bodenſtändigen Geſchäfts- und Gewerbsmann die Möglichkeit
bieten, auch ohne Geld ſich in Wien feſt anzuſiedeln. Die Zinſe
dürfen durch die erwähnte Zeit nicht erhöht werden! (Lebhafte
Bravorufe.) Unſere erſte Aufgabe als Gemeindeverwaltung muß
es ſein, gerade den Gewerbe- und Mittelſtand zu erhalten und
zu kräftigen.

Unſer Schwert iſt die chriſtliche deutſche Preſſe!
Auf dieſem Gebiete ſind wir nicht ſtark genug. Beinahe 90%
der Zeitungen ſind in jüdiſchen Händen, obwohl die Juden in
Wien kaum 10% der Bevölkerung bilden. Heute muß es hier
geſagt werden: Sei bedankt du fleißige, brave, begeiſterte,
chriſtliche deutſche Preſſe für die Arbeit, die du uns in dieſer
Wahlſchlacht geleiſtet haſt. (Stürmiſche Bravorufe. — Lang-
anhaltende[r] Beifall. — Lebhafte Rufe: Hoch „Reichspoſt“!)
Nicht mit leeren Worten wollen wir den Dank abſtatten, ſondern
dadurch, daß wir chriſtlich-deutſche Wiener uns alle von heute
an geloben: Als Deutſche und Chriſten wollen wir unſere
Preſſe ſtärken und kräftigen,
deswegen, weil
dieſes unſer Schwert nicht ſcharf genug ſein kann für die
ſchweren Kämpfe, die uns noch bevorſtehen. Vor allem muß
der chriſtlichſoziale Mandatar in dieſem Belange mit
beſtem Beiſpiel vorangehen. Es darf nicht mehr vorkommen,
daß deutſche Mandatare in Judenzeitungen ihre Geiſtes-
produkte ablagern. Nur eine Deviſe muß gelten: Hinaus
mit dem papierenen Juden! Herein mit der chriſtlichen
Zeitung! (Lebhafter Beifall). Auch Fünfhaus wird von einem
internationalen Sozialdemokraten vertreten. Iſt das notwendig?

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[5/0005] Nr. 495 Wien, Montag Reichspoſt 20. Oktober 1913. Die drei Hammerſchläge. Präſident Artaria bat nun den Kaiſer, er möge zum Glück des neuen Hauſes die drei Hammerſchläge vornehmen. Der Kaiſer ſtieg hierauf zwei Stufen zu dem von dem Sängerpodium befindlichen Schlußſtein empor, neben welchen zwei Bauarbeiter in altdeutſcher Tracht ſtanden; Oberbaurat Fellner reichte dem Kaiſer den Hammer, mit dem der Monarch die drei Hammerſchläge ausführte. Auf den Dank des Präſidenten ſagte der Kaiſer: „Das habe ich ſehr gerne getan.“ Unter Leitung des Konzertdirektors Löwe wurde nun des „Halleluja“ von Händel von der Sing- akademie und dem Schubertbund geſungen. Als der ergreifende Chor zu Ende war, ſagte der Kaiſer mit lauter Stimme: „Sie haben ſehr ſchön geſungen, ich danke allen Damen und Herren für ihre Mitwirkung.“ Während dem Kaiſer hierauf eine Reihe von Perſönlichkeiten vorgeſtellt wurde, wurde mit der Schlußſteinurkunde eine Serie der gegenwärtig im Um- lauf befindlichen Münzen und je ein Exemplar aller geſtern in Wien erſchienenen Tagesblätter eingemauert. Cercle. Beim Cercle ſprach der Kaiſer den Vizepräſidenten des Konzerthausvereines Dr. Ritter v. Eger mit den Worten an: „Sie ſind ja ein alter Bekannter, es iſt ſchön, daß Sie hier mitgewirkt haben.“ Präſident Dr. Ritter v. Eger erwiderte: „Es war mir eine Ehre, mich trotz Eiſenbahn auch mit dieſen Dingen zu be- faſſen,“ worauf der Kaiſer ſagte: „Ja ſchon ſeit Dumbas Zeiten.“ Dr. Ritter v. Eger bemerkte hierauf, das Haupt- verdienſt an dem Zuſtandekommen dieſes Hauſes gebührt unſerem Präſidenten Artaria“. Zum Oberbaurat Ludwig Baumann ſagte der Kaiſer. „Sie arbeiten ja ſchon viele Jahre an dem Projekt. — Oberbaurat Bauman: „Majeſtät ſeit etwa 20 Jahren“. — Der Kaiſer: „Ja, ich weiß es, ich habe Ihr Projekt vor fünf Jahren im kaufmänniſchen Vereinshaus geſehen, es freut mich, daß der Bau jetzt erſtanden iſt; er iſt wunderſchön, der Saal hat ſehr ſchöne Verhältniſſe und macht einen ſehr freundlichen und dabei feierlichen Eindruck.“ Zu Ober- baurat Hermann Helmer ſagte der Kaiſer: „Ich freue mich. Sie wieder zu ſehen, Sie bauen ja eigent- lich nur Theater, ich erinnere mich, daß Sie mich ſeiner- zeit durch das Nationaltheater in Budapeſt geführt haben. „Dann erkundigte ſich der Kaiſer über den Bau der Orgel und als ihm mitgeteilt wurde, daß es die größte Orgel der Weltſei, ſagte er: „Sie klingt wirklich außerordentlich ſchön.“ Dann ſprach der Kaiſer die Vorſtände vom Männergeſangs- verein und Schubertbund Dr. Krückl und kaiſerlicher Rat Jakſch an. Nach den Vorſtellungen beſichtigte der Kaiſer den mittleren und den kleinen Saal des Konzerthauſes. Er intereſſierte ſich für den Faſſungsraum beider Säle und erkundigte ſich, ob die Säle auch für dieſe Saiſon ſchon gänzlich vergeben ſind. Durch den großen Saal verließ der Kaiſer hierauf unter Hochrufen des Publikums die Feſträume, welche ſodann zur Beſichtigung für alle Gäſte geöffnet wurden. Bei der Verabſchiedung ſagte der Kaiſer zum Präſidenten Artaria: „Ich gratuliere Ihnen, es iſt hier ein be- deutendes Werk für Wien geſchaffen worden.“ Das erſte Feſtkonzert. Abends begann die rein muſikaliſche Feier im erſten Feſtkonzert. Wie ſchon früher an- gekündigt wurde, hat Richard Strauß zu dieſer Feier eigens ein Feſtpräludium für Orcheſter und Orgel komponiert. Die Kompoſition iſt auf einem diatoniſchen, im C-dur-Dreiklang baſierenden Thema aufgebaut. Das Präludium konnte nicht ſonderlich im- ponieren. Trotz aller verſöhnlich wirkenden Feſtſtimmung wollte es nicht gelingen, die muſikaliſchen Schwächen zu überhören. Nicht einmal die grandioſe Kompoſitions- und Orcheſtertechnik des berühmten Tondichters vermochte über den empfindlichen Mangel an Erfindnng und Inſpiration hinwegzutäuſchen. Merkwürdig, welcher Wandlungen die Tonſprache Straußens fähig iſt. Der Schöpfer der „Salome“ und „Elektra“ holt ſeit neueſter Zeit ſeine Ausdrucksmittel aus dem Tonmaterial der vorweberſchen Zeit. Von moderner Farbe iſt auch nicht der Schatten mehr vorhanden. Ein faſt exzeſſives Schwelgen in C-dur, ein gewaltiges Aufgebot an ſchmetterndem Blechklang und raſenden Violinen und Holzbläſern, Anklänge an Beethoven und Weber und zwar derart unverſchleiert, daß man faſt an ein abſichtliches Zitieren dieſer Tongewaltigen glauben möchte: Dies iſt die Signatur dieſes Kompoſition. Bleibt an Feſtcharakter nur noch das gewaltige Getöſe übrig, das wie ein Sturmwind, der aus tauſend Schlunden raſt und brüllt, an uns vorüber- zieht — Gelegenheitskompoſition! Hier maßen zum erſten Male zwei ebenbürtige Gegner ihre Kräfte: Orgel und Orcheſter. Beide von Natmans ſouverän taugen ſchlecht zu einer dienenden Rolle. Eines muß unterliegen. Hier blieb die Orgel Siegerin und das Orcheſter ging unter in den über- wältigen Tonfluten. Anders, wenn beide Klanggewalten ſich auf muſikaliſchen Höhepunkten zu gemeinſamem Jubel zuſammenſchließen. Dann entfaltet ſich eine majeſtätiſche Tonfülle von wunderſamer Pracht und erſchütternder Kraft. Erſt durch Beethovens Neunte erhielt das Haus die echte muſikaliſche Weihe und das Publikum die weihevolle Stimmung. Die geniale Interpretation Löwes iſt bekannt. Als Mitwirkende waren ſelbſtverſtändlich nur erſte Kräfte gewonnen worden: Aaltje Noordewier- Reddingius, Adrienne v. Kraus- Osborne, Leo Slezak, Dr. Felix von Kraus, Rudolf Dittrich, die Sing- akademie, der Schubertbund, das Konzert- vereinsorcheſter. Profeſſor Dittrich ſpielte zwiſchen dem Prälu- dium und der „Neunten“ in ſeiner vornehm künſtleriſchen Weiſe die G-moll-Phantaſie von J. S. Sach und durfte ſich für einen warmen Beifall bedanken. Die Orgel entfaltete hier zum erſten Male ihre ganze Ton- fülle und Klangpracht. Die akuſtiſche Prüfung hat der Saal gut beſtanden. Sehr erfreulich, wenn man bedenkt, daß die Akuſtik eines Baues noch ein ganz dunkles Gebiet iſt und faſt ganz vom Zufall abhängt. Ein kleiner Nach- hall war zwar zu konſtatieren, doch machte er ſich nur im Fortiſſimo unangenehm bemerkbar, wo durch den Nachhall die Konturen verſchwammen. Einige Wand- teppiche würden hier Wunder wirken. Das Pianiſſimo klang zauberhaft ſchön. Wenn die Wiener Orcheſter endlich einmal ſich für die Normalſtimmung entſchließen könnten, dann wären Stimmungsdifferenzen, wie ſie zwiſchen Orcheſter und Orgel zutage traten, unmöglich. M. S. Zwei Vergiftungstragödien. Verſuchter Selbſtmord durch Leucht- gaseinatmen. — Zwei Opfer eines Lei- tungsgebrechens? In dem auf den Schmelzgründen neuerbauten Hauſe Oeverſeeſtraße Nr. 49 wohnt der Metallwaren- erzeuger Hrdlicka mit ſeiner aus der Gattin, der 28jäh- rigen Helene Hrdlicka und zwei Kindern Wilhelm, vier Jahre alt und Helene, zwei Jahre alt, beſtehenden Familie. Die anfänglich glückliche Ehe ſchien in der letzten Zeit getrübt, da Frau Hrdlicka ſich von Verwandten zurückgeſetzt und verfolgt glaubte. Als nun am 18. d. abends Herr Hrdlicka in ſeine im erſten Stocke gelegene Wohnung heimkehrte, ſchlug ihm beim Oeffnen der Türe penetranter Leucht- gasgeruch entgegen. Herr Hrdlicka eilte ins Zimmer und fand zu ſeinem Entſetzen ſeine Gattin und neben ihr die beiden Kinder im Bette liegend und anſcheinend be- ſinnungslos auf. Er öffnete ſofort die Fenſter und ließ friſche Luft herein. Dann ſchloß er raſch den Hahn des Gasrechauds in der an das Zimmer grenzenden Küche, den er offen gefunden hatte. Unter der Einwirkung der friſchen Luft erholten ſich Frau und Kinder alsbald, und die Rettungsgeſellſchaft, die raſch berufen wurde, konnte Mutter und Kinder, nachdem ihnen Hilfe geleiſtet wor- den war, in häuslicher Pflege belaſſen. Nach ihrer eige- nen Ausſage hat Frau Hrdlicka den Hahn des Gas- rechauds abſichtlich geöffnet, um mit ihren Kindern den Tod durch Einatmen von Leuchtgas zu finden. Sie ließ deshalb auch die von der Küche ins Zimmer führende Tür offen. Als Grund der Tat gab ſie an, daß ſie ſelbſt wegen der Zerwürfniſſe und wegen der Verfolgungen durch Verwandte ſterben wollte und es nicht über ſich brachte, die kleinen Kinder, an denen ſie ſo ſehr hing, allein in der Welt zurückzulaſſen. Man neigt zur Auf- faſſung hin, daß Frau Hrdlicka durch den vermeintlichen Selbſtmordverſuch und den Mordverſuch an den Kin- dern nur auf ihre Umgebung einwirken wollte. Sie wußte genau, daß der Gatte um die Zeit nach Hauſe kommen mußte und durch die raſche Auffindung eine Lebensgefahr ſo gut wie ausgeſchloſſen war. Das Polizei- kommiſſariat wurde verſtändigt und hat zur Klarſtellung des Sachverhaltes eine Unterſuchung eingeleitet. Bei der zweiten Vergiftungsaffäre handelt es ſich offenbar um einen unglücklichen Zufall. Der Schauplatz war das Haus Rudolfsheim, Hollochergaſſe 21. In dieſem Hauſe hat die 35jährige Kunſtſtickerin Vinzenzia Jetelina Atelier und Wohnung. Frau Jetelina iſt zum zweiten Male verheiratet und hat in die zweite Ehe einen Sohn mitgebracht. Der zweiten Ehe entſtammte ein Knabe, der jetzt achtjährige Fritz Jetelina. Herr Jetelina ſelbſt iſt eben auf einer Geſchäftstour be- griffen. Die Frau war in der letzten Zeit leidend und bettlägerig. In dieſer Zeit pflegte ihr Sohn aus erſter Ehe immer zeitlich früh aufzuſtehen und das Frühſtück zuzubreiten. Frau Jetelina ſchlief mit ihrem jüngeren Sohne Fritz im Schlafzimmer, der ältere Knabe in einem Zimmer nebenan. Geſtern früh erhob er ſich wie immer und bereitete das Frühſtück. Als er dann mit dem Kaffee ins Zimmer zu ſeiner Mutter kam, fand er es ganz mit Leuchtgas erfüllt. Er rief Mutter und Bruder an und bekam keine Antwort. Er ſah beide leblos in den Betten liegen. Der Junge rief um Hilfe. Nachbarn kamen und öffneten die Fenſter. Man berief die Rettungsgeſellſchaft. Der Arzt der Filiale fand Frau Jetelina und ihren jüngeren Sohn ſchontot auf. Der Tod muß mehrere Stunden vor Auffindung der Leichen eingetreten ſein, da die beiden Leichen ſchon die Zeichen der Totenſtarre zeigten. Neben dem Bette ſtanden zwei Schalen mit Tee- reſten. Frau und Sohn hatten vor dem Schlafengehen Tee genoſſen. Der Gashahn ſtand im Zimmer offen, und während der ganzen Nacht iſt Leuchtgas ausgeſtrömt. Alle Anzeichen laſſen vermuten, daß es ſich nicht um Mord und Selbſtmord, ſondern um einen unglücklichen Zufall handelt. Das Polizeikommiſſariat Schmelz wurde von dem Vorfall in Kenntnis geſetzt und hat eine Unter- ſuchung eingeleitet. Von anderer Seite wird gemeldet: Vinzenzia Jete- lina lebte gemeinſam mit dem 50jährigen Kunſtſticker- meiſter Anton Müller. Sie haben eine aus zwei Zim- mern, einem Kabinett, Vorzimmer und Küche beſtehende Wohnung inne. Ein Zimmer iſt als Werkſtätte einge- richtet. Der ältere Sohn iſt der 13jährige Alois Müller, ehelicher Sohn aus der erſten Ehe Müllers. Das Kind, das den Tod fand, iſt der Sohn der Jetelina und befand ſich dort in Pflege. Vinzenzia Jetelina und ihr eigener Sohn waren am 18. d. zeitlich zu Bette gegangen, während Müller ein Gaſthaus aufſuchte. Die Gasflam- men im Vorzimmer und im Schlafzimmer ließ Frau Jetelina wie immer bis zur Heimkehr Müllers brennen. Als nun geſtern früh Alois Müller, der im Kabinette neben dem Zimmer ſchlief, ſeine Stiefmutter und ihren Sohn wecken wollte, um ihnen das von ihm bereitete Frühſtück zu bringen, fand er beide tot. Die Gasflamme brannte noch. Anton Müller kam erſt eine Stunde nach der Auffindung der Leichen um 8 Uhr früh heim. Nach den Erhebungen dürfte das Gas infolge eines vorhande- nen Leitungsgebrechens ausgeſtrömt ſein. Für die Wahrſcheinlichkeit eines Selbſtmordes liegen keine An- haltspunkte vor. Der Fünfhauſer Volkswahlverein „Dr. Karl Lueger“ hatte für Donnerstag den 16. Oktober in den Saale des Gaſt- hauſes „Zur Kohlenkreunze“, Fünfhausgaſſe 16, eine Wähler- verſammlung einberufen, die einen maſſenhaften Beſuch auf- wies. Obmannſtellvertreter Stadler v. Wolffersgrün begrüßte zunächſt die zahlreich erſchienenen Anweſenden, darunter LA. Nepuſtil, Stadtrat Schreiner, die Gemeinderäte Proſchek und Vaugoin, Bezirksvorſteherſtellvertreter Baumgartner, die Bezirksräte Maronek, Metſchel, Perner, Weinheimer, Zeckl, Wimmer (Brigittenau), die Armenräte Kinzel, Mück, Petruſchka, Liebwein, Obmann des Leopoldſtädter Volkswahlvereines „Dr. Karl Lueger“ Krippner, Wanderlehrer Erwin Kleiſer u. v. a. LA. Nepuſtil erörterte zunächſt die großen Befreiungs- kriege vor hundert Jahren und folgerte daraus die Notwendig- keit der Einigkeit, Ueberlegenheit und Stoßkraft des deutſchen Volkes. Dieſe haben ſich auch bei der Leopoldſtädter Wahl er- wieſen. (Beifall). Aus der Unfähigkeit des Parlamentes der Juniſieger habe ſich auch ein Stimmungsumſchwung ergeben und die ehrlichen Wiener Deutſchnationalen haben endlich gefunden, daß wir zuſammen groß und ſtark ſind. (Lebhafter Beifall und Bravo!-Rufe.) Die Landesfinanzen, fuhr Redner fort, ſind aktiv. Wir haben ſchöne Sachen geſchaffen. Pflicht des Staates wäre es, für eine geordnete Spitalspflege zu ſorgen. Obwohl im Finanzkontrollausſchuß neben anderen der Partei nicht an- gehörigen Abgeordneten auch Abg. Seitz ſitzt, heißt es jetzt wieder, die Kontrolle ſei ungenügend. Die Sozialdemokraten haben zu uns kein Vertrauen, wir aber haben zu ihnen auch keines. (Zuſtimmung.) Redner verwies ſchließlich auf die große Beamtenfürſorge der Gemeinde Wien und der chriſtlichſozialen Partei und ſchloß mit den Worten: Wir bleiben chriſtlich und deutſch und wollen nicht ſchwächliche Nachkommen unſerer Groß- väter werden, die vor 100 Jahren auf Leipzigs Gefilden die Ehre des deutſchen Volkes gerettet haben. (Bravo!-Rufe und lebhafter Beifall.) BR. Rechnungsrat Maronek feierte die Auferſtehung der Partei. Die Höhenluft der Miniſterfauteuils, ſagte er, hat unſerer Partei nicht wohl getan. Und es geht uns jetzt beſſer. Er widerlegte dann das Schlagwort von der Bildungsfeind- lichkeit der Chriſtlichſozialen und ſchilderte die chriſtlichſoziale Gewerbefürſorge. Von den Juniſiegern und den Sozialdemo- kraten haben die Gewerbetreibenden noch keinen Knochen erhalten. Der Sozialdemokratie entgegenzutreten, iſt die vornehmſte und wichtigſte Aufgabe unſerer Partei. Was wir brauchen, um dem Gewerbeſtand und der Bevölkerung entgegenzukommen, iſt eine Geſundung unſerer parlamentariſchen Verhältniſſe. Der Tummel- platz der wildeſten Agitation, des ödeſten und fruchtloſeſten nationalen Kampfes muß gereinigt werden. Nur auf der Grundlage chriſtlicher Weltanſchauung kann eine Geſundung unſerer wirtſchaftlichen Verhältniſſe herbeigeführt werden. Es ſollten vernünftige Handelsverträge durchgeführt werden, die es der Großinduſtrie ermöglichen, ein Ventil zu finden, durch das ſie ihre Waren an den aus- ländiſchen Markt abſetzen kann, ſo daß der inländiſche Markt frei würde für die Erzeugniſſe der kleinen und mittleren Betriebe. (Lebhafter Beifall.) GR. Vaugoin beſprach an Stelle des verhinderten LAbg. Breuer unter begeiſterten Hoch Mataja !-Rufen den Wahlſieg in der Leopoldſtadt. Es war ein Rieſenkampf zwiſchen chriſtlich-deutſcher Weltanſchauung und internationaler, anti- chriſtlicher-jüdiſcher Weltanſchauung. Wir haben am Dienstag geſehen, daß der Vorſteher der Leopoldſtadt nicht mehr in der libe- ralen Partei zu ſuchen iſt: Bezirksvorſteher in der Leopoldſtadt iſt laut Volksverdikt die chriſtlichſoziale Partei geworden. Man hat dem Blaſel etwas geblaſen! (Heiterkeit.) Wir dürfen aber trotz unſeres Sieges in der Arbeit nicht lax werden, nun- mehr beginnt erſt recht unſere Tätigkeit: die Organi- ſation. Wenn wir mit unſerem herrlichen Programm die Organiſation vereinigen, kann uns kein Teufel mehr aus Wien herausbringen! (Lebhafter Beifall.) Redner beſprach nun die einzelnen Schöpfungen der Gemeinde Wien. Es werden zum Beiſpiel die Elektrizitätswerke der Gemeinde Wien durch das Zillingsdorfer Kohlenberg werk auf 80 bis 100 Jahre verſorgt; das bedeutet die Unabhängigkeit der Gemeinde Wien von den Kohlenwucherern auf 8 bis 10 Jahrzehnte! Die Gemein- Wien kam ferner aus dieſem Bergwerk für ihren ganzen Be- darf, für alle Bauten die Ziegel beziehen. Das Erbbau- recht wird außerordentlich erfolgreich wirken. Dieſes Recht hat die Gemeinde Wien auf ihren Gründen eingeführt, es wird gewöhnlich auf 70 bis 80 Jahre abgeſchloſſen. Damit ſoll der Wohnungsnot abgeholfen werden und wir wollen dem bodenſtändigen Geſchäfts- und Gewerbsmann die Möglichkeit bieten, auch ohne Geld ſich in Wien feſt anzuſiedeln. Die Zinſe dürfen durch die erwähnte Zeit nicht erhöht werden! (Lebhafte Bravorufe.) Unſere erſte Aufgabe als Gemeindeverwaltung muß es ſein, gerade den Gewerbe- und Mittelſtand zu erhalten und zu kräftigen. Unſer Schwert iſt die chriſtliche deutſche Preſſe! Auf dieſem Gebiete ſind wir nicht ſtark genug. Beinahe 90% der Zeitungen ſind in jüdiſchen Händen, obwohl die Juden in Wien kaum 10% der Bevölkerung bilden. Heute muß es hier geſagt werden: Sei bedankt du fleißige, brave, begeiſterte, chriſtliche deutſche Preſſe für die Arbeit, die du uns in dieſer Wahlſchlacht geleiſtet haſt. (Stürmiſche Bravorufe. — Lang- anhaltender Beifall. — Lebhafte Rufe: Hoch „Reichspoſt“!) Nicht mit leeren Worten wollen wir den Dank abſtatten, ſondern dadurch, daß wir chriſtlich-deutſche Wiener uns alle von heute an geloben: Als Deutſche und Chriſten wollen wir unſere Preſſe ſtärken und kräftigen, deswegen, weil dieſes unſer Schwert nicht ſcharf genug ſein kann für die ſchweren Kämpfe, die uns noch bevorſtehen. Vor allem muß der chriſtlichſoziale Mandatar in dieſem Belange mit beſtem Beiſpiel vorangehen. Es darf nicht mehr vorkommen, daß deutſche Mandatare in Judenzeitungen ihre Geiſtes- produkte ablagern. Nur eine Deviſe muß gelten: Hinaus mit dem papierenen Juden! Herein mit der chriſtlichen Zeitung! (Lebhafter Beifall). Auch Fünfhaus wird von einem internationalen Sozialdemokraten vertreten. Iſt das notwendig?

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Amelie Meister: Vorbereitung der Texttranskription und Textauszeichnung. (2018-01-26T13:38:42Z)

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Zitationshilfe: Reichspost. Nr. 495, Wien, 20.10.1913, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_reichspost495_1913/5>, abgerufen am 21.11.2024.